L wie Liebling

Als Kind wollte ich alle in meiner Familie gleich lieb haben und wünschte mir auch, dass sie sich untereinander alle gleich lieb haben (was auf manche Beziehung erkennbar nicht zutraf). Ist das ein Tick? Eine psychische Störung? Jedenfalls ist es unrealistisch: Wir müssen, bei aller Liebe, die wir mehr oder weniger gerecht verteilen, feststellen, dass wir darüber hinaus den einen oder die anderen „lieber“ haben. Es wäre ja schon großartig, wenn man alle „irgendwie gern haben“ kann und nicht den ein oder anderen ablehnt oder sogar hasst.

Wie viel hat Liebe überhaupt mit Gerechtigkeit zu tun? Manche sehen da eher einen Gegensatz, weil Gerechtigkeit klingt nach Logik und Mathematik, Liebe nach Irrationalität und Zufall. Selbstverständlich wird Liebe mit Bevorzugung verbunden, das macht ja eine wesentliche Seite von ihr aus, es sei denn wir bewegen uns auf einer rein spirituellen Ebene. In den „Niederungen“ des Lebens lautet die Frage eher, ob anderen gerecht zu werden bedeuten muss, alle gleich zu behandeln. Darüber wurden schon die heftigsten politischen Debatten z.B. zwischen Liberalisten und Sozialisten geführt. Nur geht es in der Politik nicht um Liebe und Wahrheit, sondern um Macht – und zu den Instrumenten des Machterhalts gehört der ideologische Streit, der eben nicht mit ehrlichen oder rein-philosophischen Argumenten geführt wird. Wenden wir uns daher der Therapie zu.

Fairness gehört zur Geschäftsgrundlage des Therapeuten, insbesondere in der Gruppentherapie: Bloß niemand negativ oder positiv bevorzugen! Wir wissen allerdings, dass der gute Vorsatz oft an der Realität scheitert. Manchmal hilft hier schon ein bisschen Selbstreflexion oder die Sicht eines Kollegen (z.B. Co-Therapeuten) dem Realismus auf die Sprünge. Ergo biete ich hier einen alternativen Grundsatz an: Es ist gar nicht so wichtig, ob man alle gleich lieb hat (mit dem Maßstab mache ich mir das Leben sehr schwer), sondern dass man alle lieb GENUG hat! Klingt gut, aber die Fußnote zu dieser Regel lautet, dass typischerweise in der Gruppentherapie manche Klienten nie GENUG haben vom Therapeuten – egal wie viel Kopfstände wir versuchen, um unsere Empathie oder therapeutische Treue zu beweisen – und das sind dann häufig im Guten wie im Schlechten unsere Lieblinge (d.h. sie nerven uns manchmal ziemlich und sie bekommen immer mehr Energie ab).

Mein Vater war Lehrer, mit Leib und Seele, und ich habe ihn auch als Gerechtigkeitsfanatiker erlebt, zumindest konnte er sich über Ungerechtigkeiten vehement aufregen. Sie ahnen, was folgt? Als Jugendlicher habe ich eine Zeit lang mit Schülern meines Vaters in einer Fußballmannschaft gespielt: SV Breisach 1922, B2-Jugend. Und über was haben die Mitkicker bevorzugt gelästert? Wie Lehrer Wagner seine Lieblinge hätschelt und andere Schüler total fies auf dem Kieker hat.

Wahrscheinlich habe auch ich einen entsprechenden blinden Fleck in Sachen Fairness. Blinder Fleck heißt ja, da gibt es etwas, was nicht in unser Selbstbild passt. Trösten wir uns über den fehlenden Perfektionismus bei Gleichbehandlung mit einer Therapeutenweisheit und sehen wieder mal das Gute im Schlechten: „Jeder Mist ist Dünger“. Will sagen: Bevorzugung kann sehr produktiv für den therapeutischen Prozess des einzelnen und der Gruppe sein, sofern wir bewusst und souverän damit umgehen.

Sobald der Vorwurf „Liebling“ (oder „Anti-Liebling“, d.h. jemand auf dem Kieker haben) im Raum steht, sollte der gemeinsame Realitätscheck durchgeführt werden, d.h. die Validierung durch die Gruppe: „Wie geht es Ihnen damit, wie erleben Sie es? Wer wird hier bevorzugt, wer wir gepiesackt, wer kommt hier zu kurz?“ Da treten oft erstaunliche Aspekte und Empfindungen zu Tage! Sofern genug Vertrauen in die Gruppe und in die Leitung besteht, wird das eine fruchtbare therapeutische Arbeit. Wir müssen allerdings akzeptieren können, dass die Gruppe uns partiell anders sieht, als wir uns selbst – und vielleicht uns inklusive blinden Fleck in diesem Spiegel neu erkennen. Da können wir uns tatsächlich als Vorbilder zeigen: „Das überrascht mich und macht mich auch betroffen.“ Ganz nebenbei, ebenso wichtig wie Fairness als Therapeutengebot ist die Authentizität. Wenn ich überrascht bin, vielleicht sogar mich schäme, es aber nicht zeigen mag, wird Therapie anstrengender als nötig, für alle Beteiligten.