K wie Kant

Wie leicht ist es, auf dem Papier ein Philosoph zu sein, und wie schwer im Leben. (Anton Tschechow)

Immanuel Kant (geb. 1724), der in diesem Jubiläumsjahr noch mehr als sonst gefeiert wird, hat sich zwölf Jahre abgemüht, etwas zu beweisen, was ein Großteil der Menschheit heute für ganz selbstverständlich hält, und vermutlich ein noch größerer Teil immer noch nicht oder nicht mehr begreift: dass es (mindestens) zwei grundverschiedene Arten von Erkenntnissen gibt, Wissen und Glauben. Bis zur Aufklärung, deren Gipfel Kant markierte, tat die Kirche immer noch so, als könnte man die Existenz Gottes beweisen, auch wenn der mittelalterliche Dogmatismus mitsamt seinen Gottesbeweisen zu der Zeit schon etwas aus der Mode gekommen war.

Ich würde sagen, wenn es Gott gibt, darf er, sie oder es nicht mit mildernden Umständen rechnen: Es kann nicht sein, dass Gott für die wunderbare Schöpfung verantwortlich ist und wir Menschen für deren Zerstörung. Wir können ihn aber nicht zur Rechenschaft ziehen, weil wir nicht wissen, ob es ihn gibt. Da hat er oder sie Glück gehabt. Wie gesagt: wenn er überhaupt (noch) lebt.

Kant hat Gott hinter eine Trennwand verbannt, vielleicht schaut er zu, vielleicht auch nicht, eingreifen kann er nicht – oder wenn würden wir es nicht bemerken: Bezüglich der Dinge jenseits von Raum und Zeit einerseits und Verstandesvermögen andererseits können wir alles glauben, wozu wir fähig und willens sind, wir können es aber nicht als Wissen ausgeben, denn es ist weder beweis- noch widerlegbar. Daher sind auch irgendwelche „Offenbarungen“ Gottes nach Kant nur Menschenwerk und Wunschvorstellungen, ganz zu schweigen von Dogmen über Gott.

Kant hat den lieben Gott damit nicht abgeschafft (er war also kein Atheist), manche sagen, er hat ihn erst wieder zum Leben erweckt bzw. ihm (ihr) eine Legitimation verschafft: für die transzendente Welt. Er hat vor allem klargestellt, dass wir uns vom Standpunkt des Wissens in dieser Frage enthalten müssen. Der Standpunkt des Glaubens ist mehr oder weniger Privatvergnügen. Das nennt man Agnostizismus („keine Erkenntnis“, „Nichtwissen“), es klingt sehr modern und demokratisch. Im Laufe der Jahrhunderte ist Gott dann doch mehr und mehr abhanden gekommen, vielleicht weil die Wissenschaft wahre Wunder vollbracht und gewissermaßen alle Grenzen nach und nach eingerissen hat, vielleicht aber auch weil die Vorstellung eines persönlichen Gottes doch sehr menschengemacht wirkt.

Man kann sich – etwa 250 Jahre nach Kants revolutionärer Schrift „Kritik der reinen Vernunft“ – fragen, ob und warum es dieses Aufwands bedurfte: Zwölf Jahre Gedanken kneten, um das Zusammenspiel von Sinnen und Verstand in uns mit den Begebenheiten oder Erscheinungen in Raum und Zeit außer uns so aufzufassen, dass „Wissen“ sich auf die Welt der Erscheinungen und „Glauben“ sich auf die unerkennbaren „Dinge an sich“ bezieht? Kann man das nicht einfacher haben? In der Tat gab es die Unterscheidung in Wissen, Glaube und Meinung schon zuvor, aber offenbar keine solche philosophisch stringente Beweisführung. Doch es ging nicht (nur) um Wissen und Glauben, sondern um Wissenschaft und Religion – bis zur Aufklärung unterstand die Wissenschaft der Religion! Es handelte es sich bei Kants erkenntnistheoretischem Werk also zumindest „nebenbei“ auch um ein politisches Manifest: Freiheit für Gedanken und für die Forschung.

Hat eigentlich Kant, sozusagen als „Privatmensch“, an Gott geglaubt? Nö. Er hat ihn „postuliert“, und zwar aus moralischen Gründen: Da jeder Mensch den Unterschied von Gut und Böse kenne, müsse es einen Verursacher dieser Weisheit geben. Tatsächlich, wir schämen uns nicht nur vor anderen (was wohl vereinzelt auch bei Tieren vorkommt), sondern manchmal, selbst wenn niemand anders da ist, vor einer inneren Instanz. Nun könnte man das vielleicht evolutionsbiologisch oder psychoanalytisch besser erklären, doch Darwin und Freud kamen nach Kant – und haben die Entthronisierung Gottes weiter vorangetrieben, zumindest schien es so. Mit Kant müsste man sagen: Was wissen wir schon von Gott? Vielleicht fühlt er sich auf seinem Thron pudelwohl – oder hat nie auf einem gesessen. Jedenfalls meint der Begriff Gott schon, dass es um mehr geht als eine Art Über-Ich.

Wie ist es heute mit Glauben vs. Wissen? Die meisten Menschen sind keine Gelehrten. Der Unterschied von Glauben und Wissen spielt im Alltagsbewusstsein keine so bedeutende Rolle wie in der Philosophie: Vieles glauben wir zu wissen, obwohl wir es gar nicht wissen, wir haben es nur so oft gehört, dass wir es für eine Wahrheit halten – oder wir haben es von Gewährsleuten gehört, denen wir fast alles glauben würden. (Wenn wir täglich so viel von Gott hören würden wie unsere Vorfahren und aus so glaubwürdigen Quellen, dann wäre manches anders, aber nicht unbedingt besser. Stattdessen ist die Naturwissenschaft selbst zur Religion geworden. Kant hätte heute einen anderen „Job“, zumindest wird er heute anders gelesen, manche meinen, er habe nicht der Religion, sondern der Wissenschaft die Grenzen aufgezeigt. Beides.)

Glauben beinhaltet eine kraftvolle Überzeugung. Daher ist es nachvollziehbar, dass gläubige Menschen, und das trifft eben nicht nur auf gottesgläubige Zeitgenossen zu, die Unterscheidung zwischen Glauben und Wissen theoretisch bis irrelevant finden, denn sie „haben“ ja die Gewissheit des Glaubens; im Falle von Juden, Christen oder Moslems: die Gewissheit Gottes. Nun ja, viele Anhänger der monotheistischen Religionen sind auch immer wieder auf der Suche nach ihrem verloren gegangenen Gott. Und unter jenen, die nicht in diesem Sinn glauben, gibt es einige, die sehr gerne glauben würden, aber die Begegnung mit Gott stellt sich nicht (mehr) ein.

„Du musst es halt einfach mal versuchen!“ Das haben mir schon manche christlichen Freunde geraten, z.T. implizit verbunden mit der Unterstellung, dass ich eben intellektuell überheblich und mir offenbar ein bisschen zu gut sei, um zu glauben. Mag sein, dass ich manchmal überheblich bin – doch ich müsste bescheuert sein, wenn ich mir deshalb Gott und Glauben entgehen ließe!

Auf die Leiter zum Himmel zu steigen, das kann man nicht im Kopf, also mit dem Verstand entscheiden. Wirklich? Das ist nur ein Glaubenssatz 😉  Wenn der Intellekt dem Glauben per se im Weg stünde, frage ich mich, warum Pfarrer und sonstige Theologen alle studieren mussten. Und viele geistliche Führer haben über den Glauben so geschrieben, als könnte man ihm sehr wohl mit dem Verstand eine Türe öffnen. Ich habe mich schon durch einiges an christlicher Literatur gekämpft, meist lese ich mit Schwung die ersten Seiten, aber wenn dann ständig Jesus auftaucht, bin ich raus. Sicher, auch buddhistische Bücher kann ich nicht unbegrenzt verschlingen oder gar verdauen – und da würde jeder Lehrer sagen: Das Lesen ändert nichts, Du musst praktizieren. Was heißt dies im Glauben an einen Gott? Wahrscheinlich: Beten.

Ich glaube nicht an Gott, aber ich kommuniziere ab und zu mit ihm. Es ist meist unbefriedigend, wie so manches Selbstgespräch. Es kommt kein Dialog zustande. Nun weiß ich, spätestens seit der Therapie, das manches, was ganz neu ist, sich zunächst unecht und unauthentisch anfühlt, und gern vom inneren Kritiker zerlegt wird. Ich habe also schon ein bisschen Übung in „so tun als ob und geduldig warten“. Stand heute: Es tut sich nichts. (Es gibt Theologen, die sagen: Dass Gott nicht antwortet, dass er schweigt, dies ist sein größtes Geschenk an uns – damit wir uns weiterentwickeln und erwachsen werden. Das kommt mir sehr therapeutisch vor …)

Wohin wenden wir Ungläubige uns mit jenen Fragen und Zweifeln, mit Bitten und Wünschen, aber auch mit unserer Dankbarkeit? Ich mag Gott gar keine Fragen stellen zu Ukraine, Israel etc. oder warum ich nicht länger jung bleiben darf, ich mag auch nicht um Sicherheit und meine nächste Partnerin bitten oder dass Leverkusen endlich mal Deutscher Fußballmeister wird. Doch ausgerechnet die Dankbarkeit, die hätte ich bisweilen gern adressiert: an ihn, an sie, an es. Es ist so göttlich zu leben, zu atmen, zu gehen, die Sterne zu sehen. Und manchmal bin ich mir dessen bewusst.

An Mitmenschen können wir uns mit all unseren Fragen, Wünschen und auch Danksagungen wenden! Vielleicht ist dies eine Art „Lösung“: die Dankbarkeit in praktizierte Nächstenliebe fließen zu lassen, und andere Menschen für das Leben zu begeistern.

Wie ist es mit Gott in der Therapie? Das „Wissen“ um Gott, ein Glauben, eine Beziehung zu ihm (ihr) machen nicht automatisch glücklich; ich denke, jede(r), der bis hierher gelesen hat, ist dieser Meinung. Auch gläubige Menschen haben Krisen, die nicht mit Beten allein, sondern nur mit Unterstützung durch andere Menschen und in der heutigen Zeit manchmal nur mit Therapie überwunden werden können. Philosophen sind bekanntlich ebenfalls nicht automatisch glücklicher. Allerdings scheint die feste Überzeugung von der Existenz Gottes Patienten eher davon abzuhalten, sich umzubringen, vielleicht auch: sich aufzugeben.

Als Therapeut habe ich es manchmal mit Patienten leichter, die einen traditionellen Gottesglauben pflegen, als mit Vertretern einer modernen „esoterischen“ Spiritualität. Diese verwischen eher die Grenzen zwischen Wissen und Glauben. Und sie neigen zu dem, was seit einiger Zeit „Spiritual Bypassing“ heißt: Sie umgehen (Bypass) die in der Therapie notwendigerweise auftretende Konfrontation mit schmerzhaften Erkenntnissen und Emotionen, mit inneren und äußeren Konflikten, indem sie durch Meditation und Achtsamkeitspraxis, Rituale, Rückführungen etc. eine entrückte Form von „Wissen“ und damit Gelassenheit zu finden versuchen. Doch eine Diskussion über frühere Leben (Inkarnationen) oder Botschaften aus anderen Welten macht in der Psychotherapie so viel Sinn wie eine Diskussion über die „Dinge an sich“.

Vielleicht bin ich zu sehr Philosoph und daher schnell der Meinung, ein bisschen Kant habe noch niemand geschadet: Bleiben wir erstmal diesseits der Trennwand! Andererseits „weiß“ ich (wer redet da von Wissen?!), wie unbefriedigend dies oft ist. Kant bleibt eine gute Basis der Erkenntnistheorie, der Gipfel der Aufklärung (Selbstdenken, Mündigsein) und ein Verfechter des praktischen Humanismus (den Mitmenschen nie nur als Mittel zum Zweck benutzen). Doch es wird uns, die wir nach Weisheit und Sinn suchen, immer nach „mehr“ verlangen. Und als Lebensphilosophie oder Wegweiser der persönlichen Lebensführung taugen Kants Werke heute kaum noch. Eher für den moralischen Zeigefinger (wie er ja auch gerne z.B. in politischen Diskussionen geschwungen wird).