Das Universum schlägt zurück. Das ist keine Übertreibung, wenn man es als bildhafte Beschreibung für das nimmt, was Patientinnen an Rückschlägen im Leben und in der Therapie oft erleben. Ich habe ein paar Jahre ambulant mit ehemaligen Klinik-Patientinnen gearbeitet und als Beobachter erlebt, wie krass Rückschläge sein können. Deswegen ist es so extrem wichtig, sich im Rahmen der Therapie rechtzeitig mit Rückschlägen zu beschäftigen: Wie können wir sie verhindern? Wie können wir gestalten, dass sie weniger schlimm ausfallen? Wie gehen wir damit um, wenn doch das Schlimmste passiert?
Das Schlimmste für viele Patienten, die in einer Klinik Therapie gemacht haben, scheint oft recht banal, fühlt sich aber überhaupt nicht banal an: dass sich gar nichts (oder sehr wenig) im Leben ändert! Gerade, wenn sich die klinische Therapie scheinbar ausgezeichnet entwickelt, der Patient einen Durchbruch erlebt, wie ausgewechselt wirkt, seine Vergangenheit abzuschütteln scheint … gerade dann fällt es schwer darauf zu schauen, was „danach und draußen“ an Szenarien auf ihn „wartet“: Die „Systeme“ (Familie, Arbeit …) funktionieren wie gehabt und die alten Muster in uns sind ebenfalls stark genug, jeden Tag wieder die Oberhand zu übernehmen.
Unter den Bedingungen der „Käseglocke“ (beim Klinik-Aufenthalt) können falsche Erwartungen entstehen. Da wächst bisweilen ein träumerischer Appetit auf neues Leben, der in der Realität nicht befriedigt werden kann. Es ist ein therapeutischer Balanceakt: einerseits nicht zu kleine Brötchen zu backen und im vorauseilendem „Realismus“ (der dann oft eher Pessimismus ist) schon fast wieder depressive Tendenzen zu fördern, andererseits aber auch nicht zu viel versprechen.
Wenn es den Patientinnen nur in der Klinik gelänge, ihr besseres Selbst zu spüren und zu zeigen, das bessere Leben zu leben – und „draußen“ nichts davon realisierbar wäre – , dann wäre der Aufenthalt nicht sonderlich erfolgreich, im Ausnahmefall sogar „kontraproduktiv“. Das ist ein sehr harmloses Fremdwort, wenn wir uns vor Augen führen, um wen es sich handelt: Menschen, die alle halbe Jahre wieder in die Klinik aufgenommen werden wollen – oder sich mehr oder weniger zeitnah nach dem Klinikaufenthalt suizidieren!
Realismus und Rückfallprophylaxe sollen nicht dazu dienen, die Fortschritte in der Klinik zu entwerten, auch nicht die Highlights dieser Erfahrung. Patienten neigen manchmal dazu, ihre eigene Leistung und die therapeutischen Erfolge klein zu reden oder gar ins Gegenteil zu verkehren: „Ja, ja, das war ganz schön. Aber draußen wird mir das nie im Leben gelingen.“ Ja, noch nicht, weil es ja erst der Anfang war: unter guten Bedingungen für sich einzutreten. Und ja, von einem Mal allein kommt keine Lebensveränderung, es muss immer wieder geübt werden. Dem Highlight, dem Überflug, muss die Arbeit auf dem Boden des Alltags, die Zu-Fuß-Arbeit folgen.
Nach therapeutischen Aufstellungen (sog. Familienstellen) oder Ritualen kann sich manchmal so etwas wie eine Euphorie einstellen: „Ich hab’s geschafft!“ Dabei handelt es sich allermeist um eine Illusion – und gleichzeitig ist das doch eine wichtige Erfahrung, an die ich mich später erinnern, die ich verinnerlichen, die mich bestärken kann. Nur: Große, geradezu spektakulär erscheinende Schritte in der Therapie bergen das Risiko für Enttäuschungen und brutale Rückschläge, wenn sie nicht mit kleinen alltagstauglichen Veränderungen im Tun verbunden werden. (Daher sollte es z.B. für Aufstellungen einen gegenwartsbezogenen Auftrag geben und herauskommen könnte durchaus so etwas wie eine Hausaufgabe.)
Ein Beispiel: Als ich vor etwa acht Jahren als Patient in einer psychosomatischen Klinik war, habe ich mit Begeisterung an einem therapeutischen Ausnahmeformat teilgenommen, das sich „Tanz der Gefühle“ nannte: Unter zwei oder mehr Stunden Dauerbeschallung hat man sich durch andauerndes Tanzen selbst physisch und emotional „weichgekocht“, bis Körper und Seele fast am Ende und, auch damit zusammenhängend, der Kopf ziemlich ballaballa war. An einem dieser Termine habe ich bei dem durch Ansagen geführten Therapietanz gegen Ende der Stunde die Enge meiner Kindheit, die ich vor allem beim Besuch im Elternhaus immer noch empfand, völlig abgetanzt. Danach war ich high.
Etwa zwei Monate später, beim nächsten Besuch im Elternhaus … Sie ahnen es? Tja, da war die Enge wieder. Und was nun? Die Therapieerfahrung war dennoch großartig, aber sie befreit uns nicht von der Aufgabe der alltäglichen Eigentherapie: für uns besser zu sorgen. Und tatsächlich ließ ich mich oft im Elternhaus einfach in die negativen Gefühle fallen oder überspielte sie – und war froh, wenn ich wieder fahren konnte, 330 Kilometer nach Hause. Erledigung erledigt. Augen zu und durch. Mir fiel es schwer, die Aufenthalte aktiv mit mehr Leichtigkeit und Lebendigkeit zu gestalten. Das aber ist unser Job: als Patienten, als Menschen. Wir müssen die Liebe zum Leben PRAKTIZIEREN, nur wenn sie sich in Verhalten ausdrückt, kommt sie auch in Hirn und Herz als Selbstverstärker an.
Rückfallprophylaxe heißt, dass wir kleine Ziele und Schritte wählen und planen, bei denen das neue Leben spürbar wird. In meinem eigenen Beispiel bedeutete dies u.a., dass ich beim Besuch des Elternhauses überhaupt die Fenster und die Fensterläden im weitgehend leerstehenden Haus öffnete. Verrückt, oder nicht? Realismus heißt, dass wir nicht zu viel dem Zufall überlassen, sondern konkrete Pläne schmieden, Szenarien vorwegnehmen (Plan B und C und D) – dafür eignet sich das therapeutische Tagebuch; in dem natürlich auch für hochfliegende Träume, Utopien, Fantasien ausreichend Platz sein sollte.
Ganz wichtig ist die geplante Selbstwertschätzung: Wie belohne ich mich selbst dafür, dass ich den Kampf oder – wer „Kampf“ zu martialisch findet – den Tanz um das neue Leben annehme? Dazu hat die Klinikzeit hoffentlich ausreichend Ideen geliefert, die ich auch festgehalten habe. Auch Selbstliebe ist eine Form der Lebenspraxis, sie muss sich im Verhalten ausdrücken, in dem sich selbst Gutes tun.
Nicht zuletzt benötigt („benötigt“!!!) es strukturelle und regelmäßige Unterstützung in Form von kontinuierlicher ambulanter Therapie, Nachsorge- und Selbsthilfegruppen. Wer alles und immer mit sich alleine ausmachen will, hat eine ungesunde und riskante Lebenseinstellung.
Apropos Einstellung: Es braucht immer wieder gute Sätze (Glaubenssätze), die die keinesfalls geradlinige oder gar stromlinienförmig vorwärts eilende Entwicklung zum Guten „rahmen“ und uns bestärken. Ich mag schon sehr lange den Spruch aus dem heilsamen Singen: „Es gibt keine Fehler, nur Variationen“. Vor einiger Zeit hat mir eine Patientin zum Abschied einen Spruch geschenkt, den ich noch besser finde: „Wer keine Fehler macht, probiert zu wenig.“ Belohnen Sie sich fürs Probieren!
Für manche Patientinnen und Patienten wäre die beste oder manchmal einzig effektive Rückfallprophylaxe, wenn sie nicht mehr in ihr Umfeld zurückkehren (würden). Klassischerweise ist dies z.B. der Fall bei Menschen, die sich in einem Drogenumfeld bewegen, aber auch bei einer viel größeren Zahl von Patienten, die in die Herkunftsfamilie zurückkehren, die entweder Täterumfeld darstellt oder aber der ursächliche oder auslösende Rahmen der Störung ist (z.B. oft bei Anorexie). Sie wissen ja, es geht in der Therapie nie darum, irgendwem die Schuld zu geben oder Schuldige zu suchen. Niemand von denen, die zum krankmachenden System gehören, ist ein schlechter(er) Mensch (als die anderen). Aber die Loyalität mit einem krankmachenden System gilt es aufzukündigen für den, der gesund werden will.
Es gibt zwar viele Patienten, die den Sprung heraus aus dem Umfeld schaffen, aber dann doch wieder in alte Muster fallen – worauf dann der Spruch zu passen scheint: „Man nimmt sich immer selbst mit.“ Manchmal wird es von Außenstehenden wie „Na, siehste …!“ kommentiert. Doch bei näherem Hinsehen ist die Sache oft nicht so eindeutig, es gibt schon ein neues Leben, halt nicht perfekt. Die Suche nach besseren Lebensbedingungen ist und bleibt jedenfalls sinnvoll und oft dringend notwendig (Not-wendig). Es sei denn, der Patient hat in kürzerer Zeitspanne schon fünfmal die Arbeit oder den Partner aus solchen „Notwendigkeiten“ heraus gewechselt.