N wie Neugier

„Du sollst nicht so neugierig sein!“ Vielleicht kennen Sie das. Oder regionale Varianten wie: „Wunderfitz macht Nase spitz.“ Der Neugier eilt ein schlechter Ruf voraus und hinterher, denn wie kann eine Art von „Gier“ überhaupt legitim oder gar gesund sein? Dabei ist sie in der Psychotherapie sehr wichtig. Schließlich bedeutet erfolgreiche Therapie: Es soll einiges NEU werden, wie wollen immer wieder und vermehrt manches NEUE ausprobieren, wir wollen vielleicht sogar einen kompletten NEU-Anfang wagen. Ja, Neugier hat auch etwas mit Mut zu tun, mit dem Wagnis, nach vorne zu gehen. Und dazu braucht es „Zugkraft“ oder Attraktivität des Neuen, dafür erscheint mir das Wörtchen „Interesse“ zu blass und verkopft.

Sehnsüchte und Ängste liegen oft nah beieinander. Je mehr es uns gelingt, die Neugier zu wecken, den Entdeckergeist, das Interesse, den Appetit, die Offenheit und Lust auf Neues, desto leichter lässt sich die Angst in Schach halten oder sogar produktiv nutzen. Denn Neugier hat sehr viel von Hoffnung und positiver Erwartung, während die Angst eben vor Versagen und Scheitern warnt. So kann die Neugier wie das stärkste „Anxiolytikum“ (Medikament gegen Angst) wirken. Es soll Menschen geben, denen dieses Kunststück sogar angesichts von Sterben und Tod gelingt. Allerdings, Menschen mit starken Angststörungen kommen in der Regel zunächst nicht an die Neugier. Sie stecken mangels Selbstregulation ganz in dem Teufelskreis von Angst und Angst vor der Angst, während wir oft erst mit der Neugier in eine aufwärtsgerichtete Spirale des inneren Wachstums gelangen.

Vielleicht wurde Neugier oder meinetwegen eben Interesse in unserer Vergangenheit – also Kindheit – nicht nur verurteilt, sondern sogar verboten und bestraft: „Das geht Dich nichts an.“ Umso mehr müssen wir nun nicht einmal, sondern viele, viele Male die Erfahrung machen, dass es sich lohnt, der Angst die Neugier zur Seite zu stellen. „Wo die Angst ist, geht’s lang!“

Ein Beispiel: Höhenangst soll so etwas wie eine Stellvertreterin für viele Ängste sein, und wenn wir mit ihr umgehen lernen soll sich dies auf andere Ängste auswirken. Wenn ich Angst vor hohen Aussichtstürmen habe bzw. sie zu besteigen, kann mir das Versprechen auf den schönsten und imposantesten Ausblick übers Land vielleicht helfen, die Neugier zu aktivieren.

Weitere Beispiele aus der Psychotherapie: Wenn ich Angst vor bestimmten Menschen habe, kann ich mich im geschützten Rahmen (einer Gruppe oder Gemeinschaft, einer Klinik usw.) bei aller Vorsicht nach vorne wagen und in Kontakt gehen um festzustellen, was ich zu verpassen drohe, wenn ich immer nur auf die Angst hören würde. Und wenn ich überhaupt Angst vor Menschen, also soziale Phobien entwickelt habe, kann ich in diesem Rahmen ebenfalls mit Neugier die Schwierigkeiten reduzieren oder gar überwinden; vorausgesetzt, es gibt oder entwickelt eine Art Vertrauen in die Institution und Gemeinschaft.

Last but not least: Viele Menschen haben nach meiner Erfahrung Angst vor Kreativität. Singen, malen, tanzen, schreiben – oh je, da bekommt der ein oder die andere schon Schweißausbrüche und Schlimmeres. Dabei haben Menschen im Grunde ein angeborenes Bedürfnis, Neues zu entdecken und auch sich auszudrücken, also kreativ zu sein. Beides kommt im Laufe der Erziehung weitgehend abhanden, weil wir dabei lernen, bestimmte Erwartungen erfüllen, etwas leisten zu müssen, das Neue oder Kreative, das von der Norm und der Normalität Abweichende ist unserem Erziehungssystem nicht unbedingt willkommen, um es vorsichtig zu formulieren. Daher kann die kreativtherapeutische Arbeit, die leistungsfreie Neuentdeckung des kreativen Raums tatsächlich auch die Neugier füttern und der Angst ein bisschen Nährstoff entziehen.

Generell kann man versuchen, auftretende Angst in eine spielerische Aufregung mit staunender Haltung zu verwandeln: „Oha, spannend, was kommt denn da …?“ Immer mal versuchen: Sie sind nicht ängstlich, sondern aufgeregt. Vielleicht ist es übertrieben oder wird zumindest von Betroffenen so empfunden, aber kürzlich las ich, dass Risikosportler*innen (ihc gehöre nicht dazu) eine Art „Vorfreude oder Spaß an der Angst“ erleben können. Das hat mich an eine persönliche Erfahrung erinnert: Ich war zweimal in einem sog. Hochseilgarten, das erste Mal hatte ich wahnsinnige Angst, dabei wollte ich es aber nicht belassen und habe zwei Wochen später einen neuen Anlauf versucht – und konnte tatsächlich so etwas wie Freude an der Angst empfinden. Nun könnten Sie einwenden, im Hochseilgarten ist man so abgesichert, da kann ja sowieso nichts passieren. Aber auch im wahren Leben ist es oft höchst unwahrscheinlich, dass das passiert, was uns die Ängste vorgaukeln.