O wie Opfer-Haltung

Wenn etwas schiefläuft oder es uns gerade mal wieder richtig schlecht geht …, dann sind schnell andere schuld, vielleicht Kollegen oder Freunde, Geschäftspartner oder Geschwister, der Arbeitgeber, die Gesellschaft oder der (gar nicht so) liebe Gott. Bei Patienten können wir Therapeuten es manchmal leichter erkennen bzw. es einfach nicht übersehen, doch im „wahren Leben“ verhalten wir uns vielleicht öfter als uns lieb ist recht ähnlich. Wir alle praktizieren solche Muster. Die entscheidende Frage ist also nicht, ob wir diesen Opfer-Anteil haben, sondern wie machtvoll er agiert, ob er uns oder wir ihn im Griff haben. Ich würde sagen: mal so, mal so.

Die Opfer-Haltung ist ein wesentlicher Aspekt vieler Depressionen (z.B. solcher, die der Patient als „Burnout“ versteht); darunter schlummert die Illusion: „Wenn sich die anderen (siehe oben, von Kollegen bis zum lieben Gott) angemessen verhielten, würde es mir besser gehen.“ Der Frust darüber, dass sich dies immer wieder als das erweist, was es ist: eine Illusion, kann sich in Kritik an allem Möglichen äußern, z.B. in Kritik an der Therapie oder der Klinik, es müssen ja irgendwelche Menschen oder Institutionen schuld sein. (Übrigens auch in Gesellschaftskritik: Manche depressive Patienten würden sehr gerne darüber diskutieren, wie schlecht unsere Gesellschaft organisiert ist – wenn wir Therapeuten sie denn lamentieren ließen.)

Es geht in der Therapie – ich wiederhole mich da gerne 😊 – nicht darum, Schuldige zu finden, es geht überhaupt nicht um Schuld, sondern darum, Patienten zu mehr Selbstwirksamkeit zu verhelfen, ihnen eine andere Perspektive zu bieten als jene, die sie weiter runterzieht oder unten hält, ihnen bei der Entwicklung von Selbstliebe, Selbstwert und Selbstvertrauen und der Steigerung von sowas wie Lebenstauglichkeit und Glücksfähigkeit beizustehen. Und ja, dazu gehört auch maßgeblich die Entwicklung von Frustrationstoleranz: eines erwachsenen Umgangs mit Risiken und Rückschlägen. 

Manchmal wird uns Therapeuten die steile These angeboten: „Sie können mir ja auch nicht helfen!“ Das sieht zwar oberflächlich nach Eigenverantwortung aus, aber der Unterton lässt es als Opfer-Botschaft verstehen. So oder anders: Die vom Patienten unterdrückte Ohnmacht und Wut „übertragen“ sich manchmal auf uns Therapeuten, denn wir bekommen eine Sch…rolle zugewiesen. Wenn der Klient das Opfer ist, kann ich als Therapeut ja nur ein (hilfloser) Retter oder gar ein Täter sein.

Exkurs: Mir geht es in diesem Beitrag nicht um die Opfer von sexuellem Missbrauch oder Gewalt. Sicher ist die Arbeit an der Opfer-Haltung und die Betrachtung des sogenannten Täter-Opfer-Retter-Dreiecks auch bei ihnen wichtig. Es gibt dabei gewisse Parallelen zur inneren-Kind-Arbeit: Die Betroffenen lernen zu differenzieren zwischen damals/dort einerseits und hier/heute andererseits. Egal wie schlimm die aktuelle Lebenskrise gerade sein mag, es ist nicht die traumatische Situation (bzw. Situation der Kindheit) von damals. Wir wollen weder die Ohnmacht von heute „wegmachen“ noch jene Ohnmacht von damals leugnen oder bagatellisieren – aber die Verbindung zwischen den beiden Situationen lösen. Die Ohnmacht, die die Betreffenden gerade jetzt erleben, ist nicht die Ohnmacht des Trauma-Opfers bzw. des abhängigen kleinen Kindes. Wenn diese Differenzierung und Abgrenzung nicht effektiv genug geübt wird, kann die Therapie retraumatisierend wirken. (Noch eine Anmerkung: Damit eine derartige Therapie überhaupt erfolgreich sein, darf der Patient keinen Kontakt zum realen Täter haben, d.h. darf z.B. nicht mit ihm in einer Wohnung leben oder von ihm finanziell abhängig sein.) Ähnlich wie Patienten, die zur Regression (Rückschritt in die Kindheit) neigen, oft in der Therapie spontan zu verstehen meinen, sie müssten das innere Kind loswerden (statt es zu integrieren, an die Hand zu nehmen), haben Opfer von Gewalt manchmal die Tendenz, den Opfer-Anteil, der das erlittene Leid gespeichert hat, abzulehnen oder gar zu verachten. Sie wollen dieses hilflose, schutzbedürftige Wesen abspalten. D.h. wir haben immer wieder mit heftig traumatisierten Patienten zu tun, die keinesfalls eine Opfer-Haltung einnehmen wollen. In diesen Fällen würde die Aufforderung, die Opfer-Haltung (ganz) zu verlassen, absolut unpassend sein. Vielmehr geht es darum, dem Opfer-Anteil Verständnis und Sicherheit zu geben.

Doch in diesem Blog geht es heute um Patient*innen, die mit ihrer gewohnheitsmäßigen Einnahme der Opfer-Haltung, oft aus quasi nichtigen Anlässen, nicht nur den Therapeuten, sondern z.B. auch Mitpatienten „nerven“. Natürlich sind auch diese Patienten selbst nicht „schuld“ an ihrer Macke, ihre Verhaltensmuster sind überwiegend durch ungünstige Kindheitserfahrungen (durchaus auch komplexe Traumatisierungen bzw. Entwicklungstraumata) geprägt worden. Und möglicherweise haben sie im Lauf des Lebens immer wieder einen Nutzen davon erfahren, in die Rolle des Opfers zu gehen – und sei es nur den recht schwachen Nutzen oder Trost, das andere an ihrem Elend schuld sein sollen.

Hierzu zählen Menschen, die immer zu kurz gekommen sind, über deren Grenzen ständig getreten wird, die immer ausgenutzt werden, die in Beziehungen stets an Narzissten geraten, die von Freunden immer wieder herb enttäuscht werden, die keiner zu gemeinsamen Veranstaltungen einlädt usw. Natürlich ist das traurig und mitfühlend zu bedauern. Therapeutisch muss aber dem die Frage folgen: „Wie machen Sie das bloß, dass Ihnen das immer wieder passiert?“ Denn alles, was uns „immer wieder“ (oder auch „nie im Leben“) passiert, hat mit uns zu tun und nur an unseren eigenen Anteil an diesem „Schicksal“ können wir in der Therapie arbeiten. Manchmal kann schon das reine Spiegeln eine Art Konfrontation sein: „Das fühlt sich ja wieder sehr ohnmächtig an …“

Effektiver ist die Konfrontation meist, wenn sie in wohlwollender Form von Mitpatienten geschieht. Im Kontext der Gruppentherapie heißt „daran arbeiten“ also, den Spiegel der anderen zu nutzen um die eigene Wahrnehmung (oder das eigene „Narrativ“, also das Selbstverständnis) zu korrigieren – und das Verhalten zu verändern. Patienten etwa, die berichten, dass sie immer zu kurz kommen, dass keiner sich richtig für sie interessiert, dass ständig über ihre Grenzen getrampelt werde usw., vermitteln nach außen oft eine Aura des „Schwierigen“. Das führt dazu, dass andere um sie herum einen Bogen machen oder aber extra freundlich und rücksichtsvoll sind – bis ihnen dann doch irgendwann die Opfer-Haltung zu sehr auf den Nerv geht und sie sich zurückziehen oder den Betreffenden kritisieren, manchmal überschießend heftig. Dann sagt der klassische Patient mit Opfer-Haltung: „Tja, das kenne ich schon. Ich hab’s gleich gewusst …“ So etwas nennt die Psychologie selbsterfüllende Prophezeiung (self-fullfilling prophecy).

Menschen mit einer solchen sozialen Ohnmacht, d.h. die nicht ausreichend in der Lage sind, befriedigende Kontakte auf üblichen Wegen auf- und auszubauen, üben eine Zeit lang mit ihrer Opfer-Haltung viel Macht aus, z.B. in der Gruppentherapie. Aber es geht eben nicht auf Dauer gut und darf auch nicht gut gehen, denn das wäre wieder eine Belohnung für pathologisches Verhalten.

Die Konfrontation des Patienten ist dann einigermaßen einfach, wenn sich die Opfer-Haltung zugleich als kindlicher Anteil zeigt. Denn die Konfrontation damit, dass gerade das innere Kind dominiert, sind Patienten aus der Therapie gewohnt und erleben sie oft auch bei Mitpatienten: „Wie alt fühlen Sie sich gerade?“ „Was würde Ihre Erwachsene jetzt dazu sagen?“

Wenn die Opfer-Haltung aber nicht so klar als kindlich-regressiv erkennbar ist, bleibt die Konfrontation für den Therapeuten eine heikle Intervention, denn die Betroffenen verstehen dies oft als fundamentale Ablehnung ihrer Person und damit ist die therapeutische Beziehung in Gefahr. Das liegt auch daran, dass die Patienten an meine Rolle als Therapeut eben pathologische (in der Regel regressive) Erwartungen haben: besonders viel Verständnis oder auch, dass ich Probleme für sie regle oder mich für ihre Versorgungsbedürfnisse einspannen lasse.

Kritik an der Opfer-Haltung wird eher angenommen, wenn sie wirklich auf Augenhöhe, d.h. von Mitpatienten kommt: „Weißt Du eigentlich …?!“ Bei der Aufarbeitung und Reflexion können wir Therapeuten dann als neutrale Moderatoren mehr leisten, in dem wir den Betroffenen immer wieder vermitteln, dass er oder sie liebevoll angenommen wird und wir nicht an seinem Verhalten „herumschrauben“ wollen, weil es uns nervt, sondern weil es für ihn oder sie auf Dauer schädlich ist.

Wir müssen uns als Therapeuten auch immer wieder klar machen, dass wir den Patienten (fast) nur in der Therapie erleben; daher sind unsere Möglichkeiten, aus dieser sehr speziellen Situation heraus die Entwicklung des Patienten in punkto Opfer-Haltung im wahren Leben zu bewerten, also eine diesbezügliche „Prognose“ zu geben, eher beschränkt. Zwei extreme Beispiele mögen dies veranschaulichen: Patient A geht immer in Opfer-Haltung, wenn Therapie ist, aber außerhalb derselben nicht – er will unbewusst speziell mir als Therapeuten zeigen, dass er nichts für seine Lebensprobleme „kann“. Patientin B hat durch einiges an Therapieerfahrung gelernt, eine „brave“ Patientin zu sein – sie will unbewusst mir zeigen, wie sehr sie bereit ist, Eigenverantwortung für die Regelung ihrer Probleme zu übernehmen; außerhalb der Therapie fällt sie allerdings leicht in alte Opfer-Haltungen zurück.

Es gibt keine guten und schlechten Patienten. Wir wollen niemanden „umstricken“! Sie selbst wollen etwas ändern und merken im Verlauf der Therapie, dass dieses „etwas ändern“ heißt „sich etwas ändern“. Eine weitergehende Frage, die mich im Zusammenhang damit immer wieder beschäftigt, nicht nur im Zusammenhang mit Opfer-Haltungen, lautet: Inwieweit können sich Menschen „überhaupt“ ändern, inwieweit können wir uns ändern, speziell durch Psychotherapie?

In alten, lange „gewachsenen“ Beziehungen, (ich würde eher sagen:) in alten Verstrickungen, ist es sicher besonders schwer, die gewohnten Muster aufzugeben und neue zu wagen. Ich halte es daher für sinnvoller, alte Verstrickungen soweit möglich aufzulösen und hinter sich zu lassen – das geht aber bei vielen Menschen nicht, z.B. weil sie auch als Erwachsene noch oder wieder im Elternhaus leben. Jedenfalls legen wir die Messlatte für Therapieerfolg zu hoch, und das ist ein üblicher, aber großer Fehler in der Therapie, wenn wir hier zu viel von den Betroffenen erwarten. Positiv formuliert: in anderen, neuen und „glücklicheren“ Beziehungen ist ihnen mehr möglich. Ja, Glück braucht es auch.

Ganz persönlich: Manchmal bilde ich mir ein, ich hätte mich durch Therapie (als Patient und als Therapeut) schon „ganz schön“ verändert und entwickelt. Doch ich bin mir auch bewusst, wenn ich auf ein Klassentreffen ginge, würde bestimmt die Mehrheit derer, denen ich begegnete sagen: „Du bist noch ganz der Alte.“ Ein wesentlicher Teil unseres Heilungsweges besteht darin, mit uns selbst nachsichtig zu sein und doch anspruchsvoll zu bleiben. Mal gelingt uns etwas, mal lernen wir dazu 😊