P wie Pharma

Der Gewinn war in der Pharmaindustrie schon immer viel höher als in anderen Branchen. Von den 500 profitabelsten Unternehmen machen die zehn größten Pharmafirmen so viel Gewinn wie alle 490 anderen zusammen. Völlig überdrehte Umsatz- und Gewinnziele gehören hier zur Normalität. Doch wie soll das eigentlich funktionieren: jedes Jahr z.B. 10-15% mehr Umsatz mit Medikamenten zu machen? Es muss immer mehr Krankheiten und Kranke geben, also vielleicht auch erfundene Krankheiten oder sogar Krankheiten durch Medikamente. Und wenn es wirklich keine Krankheiten gibt, müssen Risikofaktoren gesenkt werden, egal welchen Nutzen dies hat. Daher finanziert die Industrie längst Kampagnen für Vorsorgeuntersuchungen, damit mehr scheinbar pathologische Werte entdeckt werden. Für solch nobles Engagement gibt es Extralob von Politik und Medien. Auch Impfkampagnen sind bekanntlich nicht nur gut für den Umsatz, sondern manchmal auch sehr gut fürs Image als Lebens- und Weltenretter – sofern nicht zu viele Menschen an derartiger Vorsorge sterben müssen.

Die Pharmaindustrie hätte eigentlich ein riesiges Imageproblem, wenn ihr Geschäftsmethoden einer breiten Öffentlichkeit bewusst wären, aber ein Heer von Helfern und Helfershelfern in Wissenschaft, Medizin, Medien und Politik tut alles, damit die Konzerne ihre Verbrechen vertuschen können. Der Arzt und Medizinforscher Peter C. Gøtzsche, Professor für Forschungsdesign in Kopenhagen, vergleicht die Branche mit der Mafia: „In den Vereinigten Staaten übertreffen die Pharmariesen alle anderen Branchen, was die Zahl der Straftaten anbelangt.“ (Alle Zitate in diesem Blog, soweit nicht anders gekennzeichnet, aus dem unten empfohlenen Buch.) Pfizer, AstraZeneca, Johnson & Johnson, Roche, GlaxoSmithKline, Merck (MSD), Eli Lilly: sie und andere mussten schon Milliardenbeträge für illegale Praktiken bezahlen, und doch haben sie noch viel, viel mehr mit diesen Praktiken verdient, d.h. es hat sich trotz Strafen gelohnt. „Die Gesetzesverstöße sind derart verbreitet, häufig und vielfältig, dass nur eine Schlussfolgerung möglich ist: Sie werden vorsätzlich begangen, weil Verbrechen sich auszahlen.“ Betrachten wir einmal zwei Beispiele.

Eli Lilly zahlte mehr als 1,4 Milliarden Dollar Strafe für die illegale Vermarktung von Zyprexa (Olanzapin). Dem Unternehmen hatte es nicht gereicht, dass Zyprexa als Antipsychotikum ein Bestseller war, daher wurde es auch als Mittel gegen Demenz und Depressionen geschickt propagiert, sogar zur Behandlung von Kindern. Das ging natürlich nur, weil auch genug namhafte Ärzte und Professoren gegen gutes Geld dabei halfen. Die erheblichen Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, Diabetes, Lungenentzündung und Herzversagen, wurden dabei unter den Teppich gekehrt.

Merck (MSD) hat viele Rheumapatienten mit einem angeblich neuartigen und besser verträglichen Schmerzmittel Vioxx durch Thrombosen „umgebracht“. Es wurde bis zum bitteren Ende gelogen. Im Jahr 2004, als das Medikament zurückgezogen werden musste, erhielt der Vorstandsvorsitzende des Unternehmens zusätzlich zu seinem Jahresgehalt noch 36 Millionen Dollar an Boni. Auf Wikipedia übrigens erfährt man recht wenig darüber, was man über die Vorgeschichte weiß (dass geschätzte 120.000 Patienten durch Zyprexa an Thrombosen starben), wer Verantwortung hatte oder übernahm (niemand) und wie es weiterging, der Wiki-Abschnitt über „Vermarktung“ endet vielmehr damit, dass MSD in einem (von vielen) Gerichtsverfahren freigesprochen worden sei. Ach so. Mit der Pharmaindustrie legt sich halt auch die unabhängige Enzyklopädie nicht gerne an. (Randbemerkung: Dafür gibt es seitenweise kritische „Aufklärung“ über angeblich zweifelhafte naturheilkundliche Therapien. Diagnose: Gratismut – genauso viel wie in den Mainstreammedien!)

In Prozessen wird diese Praxis dann als „branchenüblich“ bezeichnet. Nach dem Motto: Es machen doch alle, da kann es doch nicht so kriminell sein. Ja, wie genau läuft es denn? Zunächst einmal muss ein Medikament ja zugelassen werden, dazu benötigt es ein gutes Nutzen-Risiko-Profil. Gøtzsche erklärt detailliert, wie Studien manipuliert werden: Oft machen zwei Patienten mehr in der „richtigen“ Studiengruppe einen „statistisch signifikanten“ Unterschied aus für die Wirkung des Medikaments, oder zwei Patienten weniger, wenn es um die gravierenden Nebenwirkungen geht, also muss man z.B. zwei oder drei Herzinfarkte „im zeitlichen Zusammenhang“ mit der Einnahme irgendwie wohl begründet aus der statistischen Auswertung verschwinden lassen. Es macht für die Verharmlosung der gravierenden unerwünschten Wirkungen einen Riesenunterschied, ob man 1 Fall pro 10.000 Patient*innen hat (=selten) oder weniger als einen pro 10.000 (= sehr selten). Das sind erfahrene Statistiker und Forschungsleiter gefragt.

Wenn das dann immer noch nicht gut genug aussieht, erfindet man nachträglich Untergruppen (in die man z.B. die schweren Fälle „aussortiert“), die so geschickt zusammengestellt werden, dass die Arznei in noch besserem Licht erscheint  – solche unwissenschaftlichen Ergebnisse fummeln das Marketing oder seine medizinisch-wissenschaftlichen Helfershelfer rechtzeitig vor Veröffentlichung der Studie irgendwie in die Zusammenfassung: „… es gibt Hinweise, dass …, deutet darauf hin …“ Die offiziellen Studienleiter, die als Autoren erscheinen, dürfen das dann oft nur noch absegnen. Gøtzsche hat festgestellt, „dass die Pharmaindustrie ihre Studien in großem Umfang manipuliert, vor allem, was die Nebenwirkungen ihrer Medikamente anbelangt.“ Das bedeutet, die realen Nebenwirkungen und ihre Größenordnung werden erst nach und nach bekannt, wenn es in der breiten Anwendung zu auffälligen Häufungen kommt, die Schädigung von Patienten wird also bewusst in Kauf genommen. Und manchmal bedeutet das: Die Unternehmen gehen über Leichen.

Die größten Pharmakonzerne sind laut Gøtzsche ohne Übertreibung die größten Verbrecher. Dafür bedienen sie sich eines zweiten Tricks. Nachdem der Nutzen bei der zugelassenen Indikation total übertrieben und die Risiken unterschlagen wurden, geht der Betrug nämlich erst richtig los: Dann beginnt das Marketing, die Arznei für nicht zugelassene Indikationen zu bewerben, selbstverständlich geht dafür kein Marketingmanager selbst ans Mikrofon, das erledigen Professoren und Mediziner sowie die zahlreichen Vertreter, die gutgläubigen praktizierenden Ärzten sogenannte „Fact Sheets“ unter die Nase halten. „Fakten“, die durch reichlich Datenmassage entstanden sind. Beispiel: Ein Mittel, das für die Behandlung von Magengeschwüren zugelassen ist, hilft auf einmal fulminant gegen Magendrücken und Sodbrennen, obwohl es nie eine solide Studie dazu gab. Gleichzeitig verbreitet das Marketing über die Massenmedien die Botschaft, Sodbrennen sei eine Volkskrankheit. So wurden z.B. Protonenpumpenhemmer neben Antipsychotika zu den großen Beststellern in den USA.

Wie gesagt, das System funktioniert nur, wenn auch Mediziner und Professoren, wenn regelrecht ganze Fakultäten oder Universitäten mitmachen. Gøtzsche hat 2005 die Situation in den USA analysiert und kam zu dem Schluss, „dass die Pharmaindustrie die akademische Arzneimittelforschung fast vollständig korrumpiert hat. Die Unternehmen suchen sich unter den akademischen Zentren diejenigen aus, die die wenigsten unbequemen Fragen stellen.“ Und wenn dann doch mal verantwortungsbewusste Wissenschaftler*innen Fragen stellen oder Zweifel anmelden, werden sie nicht selten von ihren akademischen Vorgesetzten versetzt oder gar entlassen. Ähnlich geht es in der Zulassungsbehörde FDA zu: Kritische Fragen sind unerwünscht. 

Von 45 dänischen Leitlinien für Ärzte, verfasst von Experten der jeweiligen Facharztverbände, waren an 43 Autoren beteiligt, die auch für die Industrie arbeiteten, doch nur bei einer einzigen dieser Leitlinien wurde ein solcher „Interessenkonflikt“ offengelegt. Das Problem ist, dass die Täter und Mittäter kein Problem sehen. Sie werden ja in der Regel nicht „direkt“ bestochen, bestimmte Aussagen zu treffen, sondern bekommen nur allgemeine „Beratungshonorare“ oder ihr Institut erhält mal eben 1,5 Millionen Dollar „zur freien Verfügung“. Dann glaubt man als Begünstigter etwas leichter, dass die Firma ein Wohltäter ist und das neue Medikament die Welt retten hilft. Oder dass gerade das Seelenleben des modernen Zeitgenossen gerettet wird: „Die Pharmaindustrie finanziert ein Drittel des Budgets der American Psychiatric Association.“ Die meisten Experten stehen ihr zu Diensten, und Psychiater erhalten überproportional mehr Industrie-Zuwendungen als andere Fachärzte. Es lassen sich eben kaum so leicht Indikationen und Krankheiten erfinden wie im Bereich der Psychiatrie. Da schließt sich der Kreis zum Engagement in der „Vorsorge“.

Wenn ein Medikament vom Markt genommen wird, nachdem es mehrere zehntausend Todesfälle verursacht hat und das obwohl die Risiken dem Unternehmen schon länger bekannt waren, wurden so gut wie nie Manager persönlich haftbar gemacht. Auch die Professoren, die fleißig mitgemacht hatten und z.T. ihre Namen für professionelle Vertuschung von Nebenwirkungen hergaben – auch sie behalten immer ihre Lizenz zum Töten oder Mitmachen oder Mitwissen. Ebenso die Chefredakteure bzw. Herausgeber jener Fachzeitschriften, die Hunderttausende von Dollar, Euro oder Pfund mit Anzeigen und Sonderdrucken für dieses Medikament eingenommen haben, bevor sie mit Krokodilstränen in den Augen den Abgesang darauf anstimmen oder mit nacktem Finger auf angebliche schwarze Schafe zeigen. Dass sie selbst nicht selten z.B. durch eine positive Bewertung der Arznei im Geleitwort dieser den nötigen Kick verschafften – Kokain von gestern. Ein komplettes System der Verantwortungslosigkeit!

Interessant ist allerdings, dass mehrere prominente Herausgeber führender Fachzeitschriften, nachdem sie in Ruhestand getreten waren, ihr Gewissen erleichtert haben mit Büchern, in denen sie die Missstände schilderten und preisgaben, wie sehr die Magazine in die Hand der werbetreibenden Pharmabranche geraten sind, nicht selten mit einer historischen Einschätzung, die etwa so lautet: „Zu meiner Zeit ging es ja gerade eben noch so, wir haben uns verantwortungsbewusst die Unabhängigkeit bewahrt trotz vieler Bestechungsversuche und Androhungen, aber nach mir wurden die Zustände ganz und gar unhaltbar und verwerflich.“ Was daran sicher stimmt: Es ist alles immer schlimmer geworden!

Derzeit ist ja das Stichwort „Transparenz“ in aller Munde. Politiker sollten offenlegen, mit welchen Lobbyisten sie zu tun haben, befreundet sind oder gar von wem sie sich das ein oder andere Leckerli bezahlen lassen. Warum nur Politiker? Wie wäre es außerdem mit Medizinjournalisten oder Medizinprofessoren? Mit Ärzten, die Vorträge für Pharmafirmen halten? Mit Fachzeitschriften und Publikumsmagazinen, Tages- und Wochenpresse: Wie viel von ihrem Etat kommt aus der Pharmaindustrie?

Wir könnten fraglos in einer besseren Welt leben, wenn sich das journalistische Heer der kritischen Faktenchecker, Fake-News-Enttarner, Verschwörungstheorie-Analysten, Skeptiker, Aufklärer usw. für die großen Verbrechen im Bereich Medizin interessieren würde. Sich mit der Pharmaindustrie anzulegen ist allerdings eine andere Hausnummer als sich über Homöopathen, Anthroposophen oder Impfgegner lustig zu machen. Übrigens hält Gøtzsche nichts von Homöopathie und anderen Naturheilverfahren, außerdem ist er bei vielen Impfungen erstaunlich befürwortend (obwohl gerade in diesem Bereich der Filz zwischen Pharma und universitärer Medizin sowie staatlichen Behörden immens ist). Dafür hat er sicher Gründe – ich habe jedenfalls damit keinerlei Probleme und würde ihm trotzdem jederzeit das nicht vorhandene Verdienstkreuz für Naturheilkunde (primär nicht schaden!) verleihen.

Was wäre nötig? Peter C. Gøtzsche ist ehrlich und klar: eine „Revolution“! Keine Werbung für Medikamente, keine Vertreter, keine fingierten Studien und Pseudostudien (Anwendungsbeobachtungen), keine industriefinanzierten Fortbildungen, keine exorbitanten Beratungshonorare an Professoren fürs Nichtstun (außer den Namen hergeben) usw. Okay, das ist in der Tat unrealistisch, denn die großen Unternehmen sind zu groß, dass der Staat auf sie „verzichten“ könnte. Pfizer etwa, laut Gøtzsche eines der kriminellsten Großunternehmen, hatte mehrfach so gigantisch beim Arzneimarketing betrogen, dass es laut US-amerikanischen Bundesgesetzen eigentlich von der Erstattung durch staatliche Kassen wie Medicare und Medicaid hätte ausgeschlossen werden müssen. Das ging leider nicht, to big to fail. Außerdem, es machen doch alle so.

In den USA ist die Pharmalobby die stärkste Lobby, auf jeden Kongressabgeordneten kommt mehr als ein Lobbyist. Dass es im guten alten Europa ganz anders sei, davon träumen Sie – nicht wirklich, oder? Bekanntlich treiben sich auch in Brüssel mehr als genug von ihnen herum. 2007 entschied die EU-Kommission, dass Hersteller für die Erteilung einer Zulassung nicht mehr zwingend den therapeutischen Nutzen hinreichend belegen müssen, es reicht seither der Nachweis eines „dringenden therapeutischen Bedarfs“ für eine vorläufige Zulassung. Kommt Ihnen das bekannt vor? Nein, lassen wir das Thema Covid heute, das Thema Pharma ist auch so definitiv deprimierend genug. (Insofern bedeutet der Buch-Tipp auch keinesfalls, dass ich Ihnen anregende Lektüre verspreche, Sie brauchen starke Nerven!)

Ich bin durchaus ein Freund des positiven Denkens, aber an dieser Stelle habe ich ausnahmsweise keine Zuversichten zu bieten. Im nächsten Blog werde ich das Thema unter dem Stichwort „Medikamente“ fortführen. Dort kann ich zumindest ein paar Tipps geben, wie Sie sich selbst besser schützen können vor unnötiger und gefährlicher Medizin.    

Buch-Tipp: Peter C. Gøtzsche, Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität. Wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert, riva, 2. Aufl. München 2020

PS. Viele Menschen können sich nicht vorstellen, dass Wissenschaftler sich derart betrügerisch verhalten. Diese Zweifel sind berechtigt und gehen doch an der eigentlichen Problematik vorbei, denn der Betrug geht in den allermeisten Fällen nicht von den Wissenschaftlern aus, diese sind oft „nur“ beteiligt oder verstrickt. In der Pharmaindustrie haben Marketing und Vertrieb das Sagen und bestimmen nahezu alles. Wissenschaftler sind gewohnt, dass sie sich daran anzupassen haben, sonst gibt es keine Projekte und Gelder – oder es gibt sogar Ärger und Mobbing. Und sie akzeptieren in der Regel ebenfalls gewohnheitsmäßig, dass aus ihren Studien nachträglich Aussagen oder gar Ergebnisse herausgekitzelt oder präpariert werden, die von einfachen Unter- und Übertreibungen (bezüglich unerwünschten und erwünschten Wirkungen) bis zu extremen Verfälschungen reichen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass z.B. in Studienzusammenfassungen Aussagen stehen, die weder durch den Text noch durch die Studie gedeckt sind, oder dass im Studienbericht lange und breit über nachträgliche Auswertungen (zugunsten des Medikaments) berichtet wird, die gar nicht im ursprünglichen Studiendesign vorgesehen waren. „So läuft das eben“, mag sich der Wissenschaftler dann sagen und sich mit der Hoffnung oder dem Glauben beruhigen, dass das Medikament am Ende doch mehr nützt als schadet oder wirklich besser ist als seine viel günstigeren Vorgänger. Was beides leider oft nicht stimmt. Und dann gibt es tatsächlich auch noch eine Reihe von Wissenschaftlern, nicht selten sogar prominente Meinungsführer, die jede Menge finanzielle Zuwendungen von Pharmafirmen annehmen – die Opinion Leader oder besser noch Key Opinion Leader werden vom Pharma-Marketing gezielt umworben, eingekauft oder aufgebaut. Ein weites Feld von „Es-nicht-so-genau-wissen-wollen“ bis zu beherztem Betrug.