Ein bildhaftes Grundverständnis des Begriffs Projektion könnte man so beschreiben: Was wir in unserer Aufregung für Realität halten, ist manchmal in Wahrheit eher ein Film. So verwenden wir viele alte „Filme“, um neue Situationen schnell zu beurteilen. Das ist menschlich und oft hilfreich im Leben. Allerdings flüchten wir uns manchmal auch in Filme aus unserem Kino, um der Realität nicht ins Auge sehen zu müssen. So kommt es zu mehr oder weniger starken Wahrnehmungsverzerrungen. Und diese sind in der Summe dann doch nicht so hilfreich fürs Leben.
Mit einem Hund fangen wir an, und mit einem Hund werden wir aufhören. Nehmen wir also an, ein Hund wurde von einem Hundehalter misshandelt. Nun begegnet der Hund auf der Straße einem Mann, der diesem Halter ähnelt. Er fängt sofort an zu knurren, und je näher der Mann kommt, desto „aggressiver“ wirkt der Hund. Handelt es sich um eine Projektion? Jein. Ja, der Hund gerät in einen „Film“, und nein, er kann nichts daran ändern, die Reaktion wird automatisch ausgelöst, der Hund kann nicht reflektieren, dass es sich nur um eine mehr oder weniger zufällige Ähnlichkeit handelt.
(Falls Sie sich jetzt fragen: „Geht es hier nicht eher um Trigger als um Projektionen?“ bin ich ganz bei Ihnen! Mein Vorschlag für die sprachliche Beschreibung geht genau in diese Richtung: Ein Trigger löst einen Automatismus aus, gewissermaßen ist der Trigger „schuld“, und das getriggerte Wesen ist gewissermaßen ein Opfer. Bei einer Projektion liegt die Verantwortung für den Prozess schon von Wort und Bild her viel mehr bei dem oder der Person, die projiziert, nicht beim Auslöser. Ich halte diese Differenzierung für nützlich und oft nötig in der Therapie, weil viele Patient:innen am Anfang der Therapie es so erleben, als könnten sie weder reflektieren noch sich selbst regulieren. Der Hund kann es wirklich nicht. Im Falle von traumatischen Erfahrungen kann es auch bei Menschen so sein, dass sie es erst wieder lernen müssen.)
Der Mensch kann reflektieren und zumindest prinzipiell den Film als Film erkennen, als Projektion: Ein Mann betritt den Raum. Er ähnelt verblüffend Ihrem ehemaligen Chef, der Sie sehr schlecht behandelt hat und den sie total unsympathisch finden. Jetzt findet eine Projektion statt, der Film läuft. Die Frage ist, ob sie das erkennen können oder direkt in Schockstarre verfallen. Geben Sie dem Mann, der eben hereingekommen ist, noch eine Chance? Oder sagen Sie: „Das ist bestimmt auch so ein … wie mein Chef!“ Wenn Sie davon fest genug überzeugt sind, wird es sich bewahrheiten. Das nennt man selbsterfüllende Prophezeiung: Wenn Sie ihm sofort und ständig das Gefühl geben, dass Sie ihn total unsympathisch finden, wird er über kurz oder lang unsympathisch reagieren. Es geht bei Projektionen aber nicht primär um schlechte Erfahrungen, die uns ängstlich machen in Bezug auf neue Menschen.
Tiefenpsychologisch gesehen, sind Projektionen häufig Verlagerungen eines inneren Konflikts nach außen, eine Abfuhr von inneren Spannungen. Wenn ich z.B. nicht gelernt habe, für mich selbst zu sorgen und mich selbst wichtig genug zu nehmen, sondern immer nur das tue, was der Norm entspricht und mich stets bemühe, die Normen noch besser zu erfüllen, so schwelt in mir ein gewaltiger Konflikt zwischen Normen und Bedürfnissen. Da ich diesen aber offenbar nicht wahrhaben will, verlagere ich ihn nach außen: Ich ärgere mich über Menschen, die besser für sich selbst sorgen können, und zwar ärgere ich mich ziemlich heftig (schon über Kleinigkeiten).
Wenn z.B. Patient 1 in der Gruppentherapie jedes Mal ein neues Thema anbringt, was ihn beschäftigt, und Patient 2 seit Wochen darauf wartet, dass endlich erstmals ein Thema von ihm dran ist – dann besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Patient 2 den Patienten 1 für egoistisch hält und sich über ihn ärgert. Projektion wäre aber auch im Spiel, wenn sowohl Patient 1 als auch 2 beide ständig ihre Themen einbringen und beide vom andern denken, er würde viel zu häufig im Mittelpunkt stehen. Das kennen wir aus dem Alltag: „Du schließt mal wieder von Dir auf andere …“
Anderes Beispiel: Sie können sich über den „Geiz“ eines anderen Menschen aufregen, wenn sie selbst geizig sind, aber auch, wenn Sie sich als sehr großzügig wahrnehmen – und in Ihnen der heimliche innere Geizhals, der mal gerne ein Schnäppchen machen, nur wenig Trinkgeld geben oder bei einem Geschenk für den Freund sparen möchte, immer dem Gutmenschen in Ihnen unterliegt, weil Sie sich den Normen vom „seligen Geben“ und der Selbstlosigkeit zu unterwerfen gelernt haben.
Ich hatte schon oft Patient:innen, die in ihrer Kindheit zu kurz kamen und klein gehalten wurden, die verinnerlicht haben, dass sie warten müssen, bis sie „an der Reihe“ sind (oft wenn nichts mehr übrig ist) oder bis ihnen etwas gewährt wird. Für sich selbst sorgen im Sinne von einfordern, das steht gewissermaßen unter Tabu. Menschen mit diesem Schicksal regen sich erwartungsgemäß mächtig über Mitmenschen auf, die gelernt haben, besser für sich zu sorgen. Diese werden dann als „Egoisten“ abgestempelt, was im Einzelfall sogar stimmen kann, aber als Verurteilung häufig nur eine sehr verdrehte moralische Legitimation des eigenen Unvermögens darstellt, den Käfig mit seinen Stäben voller überstrenger Normen zu verlassen.
Bei der Projektion sehen wir also bei anderen etwas, was wir bei uns nicht sehen können, und zwar oft in einem überzeichneten Ausmaß, der andere ist dann angeblich „krass“ geizig, „total“ unhöflich oder „extrem“ geschwätzig … Das ist eines der Indizien für Projektion: Die Aufregung – dass eigentlich wir es sind, die uns übermäßig (!)mit etwas beschäftigen, was de facto längst nicht diese Dimensionen hat, die wir ihm geben. Wenn etwa ein Auto einen Zebrastreifen überfährt, obwohl sich diesem ein Mann genähert hatte – und dieser Mann auf einmal herumschreit und gestikuliert, als wäre eben ein Baby überfahren worden, dann könnte es sich um Projektion handeln.
Im Verbund mit der Übertreibung tritt ein weiteres Indiz auf: die „Man“ie, d.h. eine ziemlich vehemente Berufung auf starre Normen, typischerweise in „man“-Formulierungen: „Das wird man ja wohl von anständigen Menschen erwarten können!“
Ein sicheres Indiz für Projektionen ist die Wiederholung: Was uns wiederholt passiert („ich hatte immer mit sehr egoistischen Kollegen zu tun“), hat weder mit Schicksal noch mit der Schlechtigkeit der Welt zu tun, sondern mit unseren Projektionen, also den verdrängten inneren Konflikten. Wir könnten uns daher die Frage stellen: Werfe ich anderen etwas vor, was ich selbst auch praktiziere (z.B. ich melde mich krank, auch wenn ich arbeitsfähig bin)? Oder werfe ich ihnen etwas vor, was ich mich nie und nimmer trauen würde (sich überhaupt krank melden, neverever, ich würde mich selbst todkrank zur Arbeit schleppen)?
Projektionen haben den Vorteil, dass wir unangenehme Gefühle nicht auf unser Inneres und innere Konflikte beziehen müssen, sondern nach außen verlagern und in gewisser Weise ausleben können. Auch wenn es sich sehr unangenehm anfühlen mag, sich über einen egoistischen Mitmenschen aufzuregen, ist es doch weniger schlimm, als tiefsitzende eigene Schmerzen wahrzunehmen (etwa wie meine Eltern es mir „ausgetrieben“ haben, das erste Stück Kuchen oder das letzte Schnitzel zu ergattern). In der Therapie ist es sinnvoll (und langfristig auch vorteilhafter fürs Leben), wenn wir diese Projektionen durchleuchten und uns fragen, was sie über uns verraten.
Natürlich gibt es auch positive Projektionen: Wenn wir anderen Menschen gute Eigenschaften zuschreiben, die wir an uns selbst entweder nicht wahrhaben können oder zu bescheiden sind bzw. unseren Stolz darauf nicht wahrnehmen können. Im Reich solcher Filmvorführungen befinden wir uns, wenn wir verliebt sind – wir sehen nur, was wir sehen wollen. Deswegen kann das Stadium der Verliebtheit für Therapie sehr hinderlich sein, denn dabei geht es ja gerade darum, Projektionen zu durchleuchten und z.T. aufzulösen. Wer will schon erkennen, was er auf seine Traumpartnerin projiziert?
Eine spezielle Form der Projektion ist die „Übertragung“. Dabei projiziert der Betreffende eine Rolle aus seiner Biografie auf einen aktuell mit ihm verbundenen Menschen; als würden Akteure aus unseren uralten Filmen aus der Leinwand heraus- und in unser Leben eintreten! In der Therapie ist es typischerweise eine Vater- oder Mutter-Rolle, die auf den/die Therapeut/in übertragen wird. Im „wahren Leben“ gibt es dies aber auch, etwa wenn ich zeitlebens, meine Chefs mit meinem Vater verwechsle oder meine Frau mit meiner Mutter – und immer wieder die gleichen Arbeits- oder Beziehungsschicksale erleide. (Die Übertragung wird sicher mal ein eigenes Stichwort hier im Blog, daher hier nur ganz kurz angerissen.)
Ich verwende den Begriff Projektion allerdings nicht nur klassisch, d.h. im tiefenpsychologischen Verständnis, sondern noch in einem anderen Sinn, der ebenfalls an das bildhafte Verständnis der Filmvorführung anknüpft und doch eine grundlegende Annahme mit der Tiefenpsychologie teilt: Die Projektion ist Ergebnis von Verdrängung, sie stellt einen Abwehrmechanismus dar. Den „Projektionsverdacht“ als therapeutische Arbeitshypothese kann man letztlich auf alle Probleme und Themen anwenden, die eine Psychotherapie dominieren, und fragen: „Wenn dies hier der Spielfilm ist, den wir gerade sehen und der uns wie schon so oft wieder einmal fasziniert – was könnten wir sehen, wenn er nicht gespielt würde oder wenn wir gar hinter die Leinwand sähen?“
Ich hatte schon mehrfach Patienten mit ausgeprägter Hypochondrie, also Angst vor Krankheiten, sie haben sich ständig den Blutdruck gemessen oder hatten eine Ärzte-Odyssee wegen banalen Symptomen veranstaltet, bevor sie bei mir landeten. In den Horrorfilmen von ihren potentiellen Erkrankungen „verarbeiteten“ sie andere, viel „realistischere“ Lebensängste (die ihnen aber nicht bewusst waren), etwa vor dem Verlust der eigenen Firma oder der Frau, Angst vor Gesichtsverlust oder eben vor dem Tod. Sofern die objektiven medizinischen Probleme erkennbar gering sind, lassen sich solche Projektionen durchschauen. Was aber, wenn der Mensch tatsächlich ziemlich viele oder schwere Gebrechen hat? Auch dann können die damit verbundenen Ängste einen hohen Anteil an Projektionen aufweisen!
Ein Mann kommt in die Therapie und klagt über seine massiven Arbeitskonflikte. Auf die im Aufnahmegespräch standardmäßig verwendete Frage nach seiner Partnerschaft winkt er ab, da sei alles in Ordnung, es gehe ihm wirklich nur um die Arbeit. Tatsächlich, wenn wir den Blick auf seine Arbeit richten, sehen wir gravierende Konflikte. Dennoch stellt sich im Verlauf der Therapie heraus, dass es in Wahrheit viel „einfacher“ ist, sich Woche für Woche auf diese Konflikte zu konzentrieren, als sich dem ebenfalls problematischen und letztlich sogar bedrohlicheren Partnerschaftsthema zuzuwenden.
Gerade wenn scheinbar massive „objektive“ Probleme die Hauptthematik zu sein scheinen, lohnt das Gedankenexperiment, sich diese Probleme als Projektion vorzustellen. Man könnte fast sagen, die scheinbar schlimmsten objektiven Probleme sind die am besten geeigneten Projektionsflächen, um tieferliegende Schwierigkeiten und Schmerzen darauf umzulenken. Dazu ein letztes Beispiel: Eine Klientin kommt nicht darüber hinweg, dass ihr Hund überfahren wurde. Das ist in der Tat traumatisch – und mit massiven Schuldgefühlen verbunden: Hätte … hätte … hätte … Daran gibt es nichts zu deuteln. Oder doch? Von Woche zu Woche stellt sich mehr heraus, dass diese Leinwand, auf der – seit Jahren – so oft der gleiche tieftraurige Film spielt, nicht nur etwas zeigt, sondern auch etwas verbirgt: Dass der Hund so etwas wie der einzige Lebensinhalt war und dass es einen noch größeren Riesenschmerz darüber gibt, dass die sehnlichst gewünschten menschlichen Beziehungen scheiterten.