Ein Bypass ist eine Umgehung. Das kann eine Umgehungsstraße um ein Stadtzentrum sein oder eine künstliche Ader am Herzen, die eine verstopfte Koronararterie überbrückt. Man kann auch Probleme umgehen. Gelingt das mittels Spiritualität, nennen wir das einen Spiritual Bypass. Daran ist zunächst nichts verkehrt. Es gelingt allerdings oft doch nicht so ganz, zumindest nicht auf Dauer. Dann wird die versuchte Erleuchtung oder das spirituelle Erwachen zur Wirklichkeitsflucht. Darauf trifft der Sponti-Spruch zu: „Probleme, die wir ignorieren, verschwinden nur, um Verstärkung zu holen!“
Mit dem Begriff für dieses Phänomen hat mich vor zwei Jahren ein Praktikant bekannt gemacht (@Philipp: danke!). Seither begegnet es mir ständig, jede Woche – und das ist vermutlich untertrieben. Bei einer Klinik, die so ganzheitlich orientiert und auch offen für Spiritualität ist wie die, in der ich arbeite, könnte man das erwarten. Was mich fast noch mehr erstaunt: Ich entdecke den Versuch des Bypassing bei mir.
Vor zehn Jahren, am Jahreswechsel 2014/15 habe ich mich nicht als besonders „spirituell“ wahrgenommen (meine Frau sah es etwas anders und meinte, ich müsste mich mal sehen, wenn ich Healing Songs singe). Aber statt guten Vorsätzen wollte ich damals Spruchkarten von Louise L. Hay und ähnlichen Vertreterinnen der Esoterik mit dem Handy fotografieren, um für jeden Tag der Woche zwei Sprüche als Motto zu haben. Das Handy habe ich vor sechs Jahren gewechselt, aber die Speicherkarte nicht: Die Bilder bzw. Sprüche dokumentieren, dass ich trotz oder wegen der dramatisch zunehmenden Konflikte am Arbeitsplatz ganz gelassen bleiben wollte. Ein Beispiel gefällig? „Wenn wir in uns selbst Harmonie schaffen, sind auch unsere Beziehungen harmonisch.“
Mit ganz viel Verständnis für alles und jeden über den Dingen stehen. Wer hat davon auch schon mal geträumt? Ich mag solche Wünsche und Vorsätze keinesfalls schlecht reden bzw. schreiben. Doch wenn sie auf der Verleugnung eigener Bedürfnisse und Vermeidung notwendiger Auseinandersetzungen beruhen, können sie mitten in die Depression führen (die wir dann gerne als Burnout bezeichnen).
Schon deswegen klingeln bei mir heute ein paar Alarmglöckchen bzw. ich werde hellhörig (nicht hellsichtig :-)), wenn bestimmte Patienten bei der Aufnahme zur Psychotherapie sagen, sie wollen ihre „Gelassenheit“ wiederfinden. Ich finde Gelassenheit großartig, und noch großartiger einen meiner Lieblingssprüche von Thich Nhat Hanh (mit dem ich einiges mehr an Spiritualität entdeckt habe): „Meditation ist die gelassene Begegnung mit dem, was ist.“ Gelassenheit darf jedoch nicht mit der Leugnung eigener Bedürfnisse erkauft werden. Spiritualität sollte nicht das erlernte Anpassungs- und Vermeidungsverhalten bestärken. Oder mit Bezug auf den Spruch zur inneren und äußeren Harmonie: Harmoniesucht macht krank.
Der Begriff Spiritual Bypass wendet sich nicht gegen Spiritualität! Im Gegenteil, er wurde zwar von einem Psychologen vor 40 Jahren erfunden, aber von vielen spirituellen Lehrern zustimmend aufgegriffen. Diese haben festgestellt, dass manche ihrer Schüler*innen vieles Unangenehme, von unangenehmen Gefühlen bis hin zum ganzen Leid dieser Welt, „außen vor“ halten wollen. Doch so ist Spiritualität heute meist nicht gedacht, eher so: Alles darf da sein, man muss es zwar nicht gleich „einladen“ (was manche Lehrer raten), aber wir stellen uns in der spirituellen Praxis der Realität, lassen alles zu, damit wir es auch wieder etwas loslassen können, sind nicht damit identifiziert.
Es gibt sicher in manchen Religionen zum einen das Ideal des weltfernen, aller Probleme enthobenen Erleuchteten – zum andern auch die Idee, mit der Religion selbst den berechtigten Aufruhr der Seele zu besänftigen, innere und äußere Konflikte so zu befrieden. Diesen Typus von Religion, diese Art von Bypassing, hat Karl Marx als „Opium fürs Volk“ attackiert, als Mittel, die notwendigen Veränderungen, in dem Fall: die notwendigen sozialen Umwälzungen, die Therapie für die Gesellschaft zu verhindern. Doch Religion ist vielschichtiger und nicht nur eine (potenzielle) Droge.
Aber nehmen wir an, Sie sind ein politisch interessierter Mensch. Was halten Sie davon, wenn Menschen für den Frieden beten – ist das Spiritual Bypassing? Wer will das beurteilen! Ich vermute, je weniger man selbst mit Spiritualität oder Religion anfangen kann, desto eher neigt man dazu, schnell und überall „Spiritual Bypassing“ zu entdecken. Letztlich können es aber nur und müssen es die Betroffenen selbst entscheiden. Im Übrigen gibt es nicht nur Spiritual Bypassing, man könnte auch von Cultural oder Politcal Bypassing sprechen, z.B. wenn jemand sich sehr übereifrig politisch engagiert und wir dabei den Eindruck haben, er versucht unbewusst sich bzw. sein Seelenheil dabei selbst zu retten. Die Diskussion darüber kann man auch anhand der tiefenpsychologischen Begriffe Verdrängung und Sublimierung führen: Wer Therapie umgeht und dabei sehr viel Energie in Kreativität oder Engagement auslebt. Letztlich kommt durch Bypassing auch eine Menge Gutes in die Welt. Nun aber zurück zum Spritual Bypassing:
Der Schein trügt … Oder wir haben zumindest unsere Zweifel. Handelt es sich dabei um Menschen, die von innerer Ruhe, bedingungsloser Liebe und grenzenlosem Mitgefühl schwärmen? Oder davon, wie oft ihnen Zen, wahres Yoga oder andere Praktiken schon das Leben und die innere Balance gerettet haben – und wir ihnen nicht ganz glauben können? Unser Gefühl sagt uns: „Irgendetwas stimmt hier nicht.“ Ja, das mag schon sein. Bestimmte mehr oder weniger selbst ernannte Propheten oder Gurus des Positiven Denkens wirken manchmal so. Oder auch Anhänger von ihnen. Die vermeintliche Auflösung des Ego erscheint dann psychologisch oft eher eine spezielle Form von spirituellem Narzissmus.
Jede(r) soll nach seinen Vorstellungen glücklich werden. In der Therapie geht es nicht darum, Patienten irgendeines Mangels oder Makels zu „überführen“ oder sie als Pseudo-Erleuchtete zu enttarnen. Spiritualität kann eine wichtige Ressource darstellen. Es handelt sich bei den „Bypassern“ in unseren Praxen sowieso meist um besonders idealistische Patienten, die wir spontan ins Herz schließen, aber leider auch oft feststellen müssen: „Ohje, das kann ja nicht klappen …“ – das Leid nur wegzuatmen, wegzumeditieren oder wegzuchanten. Naja, das ist vielleicht zu plakativ beschrieben, denn soviel wissen die Betreffenden doch selbst, könnte man meinen.
Eine Klientin hatte noch nie oder sehr lange keine Partnerschaft, sie weiß um ihre diesbezüglichen Sehnsüchte, tut aber offenbar wenig dafür, ihnen nachzugehen, sondern hält sich an die bekannte Bypass-Philosophie: „Wenn es passieren soll, wird es passieren …“. Der liebe Gott lässt jedoch den potenziellen Partner nicht an der Haustüre klingeln wie die Sternsinger. Eine andere Klientin, die in den ersten Wochen der Therapie wiederholt betont hat, wie gut ihre Partnerschaft sei und das ihr Hauptproblem im Arbeitskontext stattfinde, räumt auf einmal unter Tränen ihren unerfüllten Kinderwunsch ein; sie musste das mal loswerden. Bisher hat sie weder mit ihrem Mann darüber gesprochen, warum es nicht „klappt“, geschweige denn wurden medizinische Untersuchungen angestellt. Sie meint: „Wenn der liebe Gott es will, werde ich ein Kind bekommen.“
Wir haben es immer wieder mit Patient*innen zu tun, die auf diese und ähnliche Weise innere und äußere Konflikte zu umgehen versuchen und notwendige Lebensrisiken vermeiden. Patient*innen, deren Depressionen maßgeblich aus unterdrückten Ängsten und Überanpassung mit hohen Leistungsnormen resultieren. Die Umgehung mit spiritueller Weltanschauung und Praxis erscheint in verschiedenen Varianten: Patient*innen versuchen, für alles und jeden Verständnis und Mitgefühl zu haben. Die Unterdrückung unangenehmer Gefühle, die sie meist de facto in der Kindheit gelernt haben, versuchen sie als Vergebung, Verzeihung und höheres Selbst zu verklären. Es gibt aber auch solche, die mit den Mitmenschen und der Welt quasi abgeschlossen haben und durch die Spiritualität in eine Art innere Emigration wechseln. Sie wollen ihre Wut und ihr Ego auflösen und schonmal fürs nächste Leben gutes Karma produzieren. (Beide „Typen“ sind hier etwas holzschnittartig vorgestellt, in der Realität ist alles komplexer.)
Wer entscheidet denn eigentlich, was Erleuchtung und was Pseudo-Erleuchtung ist? Niemand kann das. Doch das „Eintreffen“ in der Therapie verrät, dass es beim Betreffenden nicht ganz funktioniert (oder nicht mehr, immer weniger usw.): Er oder sie ist seelisch krank geworden trotz ständigen Bemühungen um höheres Seelenheil. Manchmal sieht es nach einem normalen Burnout aus – immer für andere und hohe Ideale unterwegs sein –, manchmal nach einem expliziten emotionalen oder spirituellen Burnout. Die anhaltende Selbstunterdrückung äußert sich irgendwann als Depression. Es gibt hier immer wieder dramatische Einzelfälle: Menschen, die sich auf dem spirituellen Weg immer weiter in die Depression hineinarbeiten – vielleicht auch weil falsche Propheten Erleuchtung in dieser „Tiefe“ versprechen – bis hin zur Suizidalität.
Das Verständnis mit den Eltern, die einen emotional missbraucht haben, mit Kollegen, von denen man gemobbt, und Chefs, die einen verheizen, solches Verständnis und Vergeben wirkt sehr edel und ist tatsächlich ein schönes Ideal. Es verträgt sich aber nicht so gut mit dem Start einer Psychotherapie (in einem fortgeschrittenen Stadium kann das ganz anders aussehen). In der Psychotherapie geht es nicht darum, die Bösen und Schuldigen für das Leiden der Patienten ausfindig zu machen und an den Pranger zu stellen. Aber selbstverständlich stellen wir uns z.B. gegen falsche Loyalität mit Eltern. Solche Loyalität ist nicht spirituell, sondern ängstlich-vermeidend. Es bedeutet „Verrat“ (ein etwas unglücklicher, weil moralischer Begriff) an unseren kindlichen Anteilen – dem inneren Kind.
Spiritualität und (Psycho-)Therapie können sich sehr gut ergänzen, haben viele Gemeinsamkeiten, je nachdem auch eine gemeinsame Basis: die Liebe zum Leben und zu den Menschen. Je nach Lebensphase und -herausforderung ist es naheliegend und passend, mehr das eine oder eben das andere zu wählen. Manchmal sind Menschen zurecht therapiemüde – ja, klar, dann sollten sie besser mal auf ein Meditationsretreat gehen als noch eine weitere therapeutische Schleife zu drehen. (Den umgekehrten Fall kennen wir natürlich auch: Menschen, die endlich mal richtig in der Therapie ankommen sollten …) Es gibt außerdem Lebenssituationen, wo Spiritualität die einzige Zuflucht bleibt, das kann man dann wohl kaum Spiritual Bypassing nennen.
Wohin geht die Entwicklung – lerne ich mehr zu mir und meinen Bedürfnissen zu stehen und die Risiken, die damit verbunden sind, einzugehen? Oder löse ich mich noch mehr auf, weiche noch mehr zurück, werde noch angepasster? Therapie bedeutet, seine Bedürfnisse kennenzulernen, bewusster wahrzunehmen und zu vertreten, um besser zu leben, und zwar nicht nur spirituell. Das ist mit inneren und äußeren Konflikten verbunden. Außerdem bedeutet Therapie, dass der Patient übt, tabufrei zu denken und unzensiert in die aktuellen Gefühle und die seiner jüngeren Anteile reinzuspüren.
Es gilt (z.B.), erst einmal die Wut wirklich zuzulassen, bevor man ans Vergeben geht. Stark aggressionsgehemmte Patienten mit extrem konfliktvermeidendem Verhalten weichen dem aus, manchmal eben durch Flucht in (noch mehr) Spiritualität. Besser wäre, z.B. den Eltern (im übertragenen oder rituellen Sinn) die Last zurückzugeben, bevor man ans Versöhnen geht. Allgemeiner, in Bezug auf das spirituelle Ideal der Aufgabe des Egos, kann man aus therapeutischer Sicht entgegenhalten: Es muss erst einmal eine Ich-Kraft spürbar sein, ein konfliktfähiges Ich, das für sich und seine Bedürfnisse eintritt.
Das meditative Davonlaufen vor dem Ich – seinen Gefühlen, Bedürfnissen, Wünschen und Sehnsüchten – ist häufig nicht die erleuchtete Auflösung des Ego im Sinne des Buddhismus oder anderer Lehren, sondern einfach eine weitere depressive Strategie, d.h. eine Strategie der Verdrängung und Unterdrückung. Da die Verdrängung hier als Loslassen praktiziert wird, kann sich dies phasenweise durchaus erleichternd und antidepressiv anfühlen. Und es ist schön, wenn es funktioniert! Daher sollten wir diese Übungen auch nicht per se schlecht machen, müssen aber gelegentlich in dem Sinne „konfrontieren“, dass sich so allein meist kein nachhaltiger Heilungsweg erschließt – falls wir als Therapeuten gefragt werden.
Literaturtipp: Pema Chödrön, Wenn alles zusammenbricht. Hilfestellung für schwierige Zeiten, München 2001. Dieses Buch kann man zwar auch wie eine Anleitung zum Spiritual Bypassing verstehen, ich lese es aber anders: Es geht nicht darum, das Leid loszuwerden durch Erleuchtung oder buddhistische Haltung, sondern sich ihm zu stellen.