F wie Familie

Welche Bilder entstehen, wenn Sie das Wort „Familie“ hören? Denken Sie an „Familienfest“, an „Weihnachten“ oder die schöne Formel „… im Kreise der Familie“! Tausende von Patientinnen und Patienten habe ich kennengelernt, ein paar Hundert davon intensiver. Unterm Strich würde ich bilanzieren: Die Familie leistet nur in Ausnahmefällen das, was sie verspricht, nur wenige Familien nähern sich dem Ideal, für die anderen bleibt es oft bittere Illusion oder faszinierendes Schicksal. Dass es bei den Menschen, die nicht in Therapie kommen, grundsätzlich ganz anders sein soll und die Mehrheit jener therapiefreien Familien ein völlig anderes Bild ergäbe, wage ich zu bezweifeln. Gewiss, mein Blick ist etwas einseitig, aber vermutlich lesen Sie den Beitrag gerade deswegen 🙂

Die Familie ist das Nest oder auch der Käfig, in den wir ungewollt hineingeboren werden, sie liefert im günstigsten Fall Geborgenheit und bedeutet für viele Gefangenschaft, ist Segen und Fluch. Als Institution der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und historischen Entwicklungen bringt sie uns bei, was es heißt sich anzupassen: von kirchlichen Normen bis Arbeits- und Leistungszwängen. Irgendwie müssen wir eben zivilisationstauglich genormt werden, und vielleicht ist der Kontext der familiären Bindung immer noch der dafür am besten geeignete. Die Familie erscheint alternativlos, zumindest in den westlichen Kulturen bleibt das, was als Alternative versucht wurde – Zuchtanstalten im Nationalsozialismus oder die Verstaatlichung der frühkindlichen Erziehung in der DDR, verbunden mit großer Skepsis gegenüber der Familie – abschreckend in der Erinnerung. Aldous Huxley hat in Brave New World gezeigt, wie die Utopie des totalitären Humanismus in eine transhumane Dystopie führt. Dann lieber Familie! Andererseits muss man sie deshalb nicht gleich heiligsprechen.

Über die Jahre, in denen ich mich in verschiedenen systemischen Aus- und Fortbildungen herumtreibe und als Therapeut arbeite, habe ich mich in viele Familien hineingespürt. In keine wäre ich gerne hineingeboren worden. Und in meine eigene Herkunftsfamilie? Auch nicht, zumindest nicht mit „hurra“. Ich liebe meine Großeltern, meine Eltern und meine Geschwister. Ich bin dankbar und glücklich, dass ich in dieser Zeit mit ihnen leben durfte, dass ich so viel Halt erfahren habe, dass die Familie nah genug war und doch weit genug entfernt – wofür ich allerdings auch selbst gesorgt habe. Heute würde ich sagen, mein inneres Kind hat entschieden, dass wir sobald als möglich davonlaufen, gleich nach dem Abitur. Ich vermisse die Geborgenheit manchmal noch heute, aber ich liebe meine Freiheit. Jede(r) muss für sich selbst entscheiden, wie groß das Bedürfnis nach Sicherheit und die Sehnsucht nach Geborgenheit sind – und wann der Preis dafür sich wie Gefangenschaft anfühlt.

Mich beunruhigt es, wenn Patienten wochenlang von ihrer Herkunftsfamilie reden, viele Tränen vergießen, Wutausbrüche durchleben, in unrealistischen Hoffnungen schwelgen – wo sie doch längst eine eigene Familie haben (die manchmal kaum eines Wortes gewürdigt wird)! Da hat beispielsweise eine Frau in den besten Jahren einen liebenswerten Partner und drei starke Kinder und hadert doch jeden Tag darüber, dass ihre eigene Mutter die Schwester bevorzugt hat. Es wirkt manchmal, als würden Patientinnen ihr Leben regelrecht verpassen, weil sie die Vergangenheit nicht Vergangenheit sein lassen können. Oder auch jene „Kinder“, die mit 50 oder 60 immer noch den Eltern wie kleine Kinder untergeordnet sind, die kuschen, sich eher wie fünf als wie 50 benehmen oder die Eltern ohne erkennbaren Dank versorgen und pflegen, auch hier wieder: das eigene Leben verpassen. Diese Menschen sind nicht falsch, aber sie erleben sich selbst als falsch, nicht gut genug von klein auf, so dass die Herkunftsfamilie einen scheinbar unseligen Magnetismus für Denken und Fühlen verursacht. Ich kann das alles verstehen. Und ich kann therapeutisch gut daran arbeiten: mitfühlend, fürsorglich, spiegelnd. Dennoch explodiere ich auch manchmal: „Ja, hört das denn nie auf?!“

Hört das denn nie auf, dass uns die Herkunftsfamilie immer wieder einholt, dass jedes Problemchen irgendwie mit dieser Vergangenheit zu tun zu haben scheint, als wäre allem Bemühen um Erwachsenwerden bestenfalls begrenzter Erfolg beschieden? Hört das denn nie auf, dass die Herkunftsfamilie sogar real immer wieder auftaucht, im Schlechten wie im Guten? Wenn Partnerschaften und Freundschaften zerbrechen, die Familienbande funktionieren, die Familie ist füreinander da (natürlich nicht bei allen): zuverlässig, tröstlich, beruhigend und beunruhigend. Ist das nicht furchtbar ungerecht? Ist es! Apropos ungerecht: Es geht nie um Schuld, wenn wir aus therapeutischer Sicht auf das Schicksalhafte der Familiengeschichte schauen, sondern um Anerkennung von Leid und Verstrickung. Wenn da etwas gelöst wird, kann der Blick frei werden für das, was AUCH gut war oder ist.

Die schiefe Optik der klassischen Psychotherapie sorgt dafür, dass wir den Fokus dermaßen auf das Defizitäre legen, auf all das schauen, was schlecht gelaufen ist, was wir nicht bekommen haben, statt den Reichtum zu sehen, der uns letztlich durchs Leben hat gehen lassen, der uns ausgestattet hat, das Leben zu bestehen. Ja, wir haben es in der Therapie per se mit familiär „Geschädigten“ und „Leidtragenden“ zu tun. Also, nehmen Sie diese Einlassungen hier nicht als Weltanschauung über die Familie „an sich“, sondern über Erfahrungen mit der Familie von Patienten (inkl. mir selbst) – und mit der Familie als Patient.

Die Pioniere der Familientherapie wie Virginia Satir hatten die Hoffnung, Familien als ganze behandeln zu können, um damit auch die „Symptomträger“, also jene Familienmitglieder, die gemeinhin als die Kranken (Patienten) gelten, zu heilen. Aber die Familien kamen selten oder es war sehr umständlich. Heute wenden wir alle möglichen therapeutischen Tricks an, den einzelnen im Geflecht seiner Herkunftsfamilie besser zu erkennen, ganzheitlicher wahrzunehmen als nur durch die eigene Brille, wenden auch viele Methoden an, ihn (sie) mit der gleichzeitig allgegenwärtigen und doch nicht anwesenden Familie zu versöhnen: Rituale der Abgrenzung und der Lastenrückgabe, Briefe des inneren Kindes an die Eltern, Gegenüberstellungen mit den idealen Eltern, Aufstellungen für neue innere Bilder, nicht zuletzt auch die Ersatzelternschaft auf Zeit durch uns Therapeuten, die bei manchen Patienten z.B. die Klinikzeit so heilsam erscheinen lässt. Oft wirkt es im Moment stark, manchmal überwältigend, aber kann doch das alte Leid auf Dauer nicht verdrängen, soll es auch nicht, denn dieses muss integriert zu werden.

Wir arbeiten mit einzelnen, die meist wieder in ihre Familien zurückkehren, oder zumindest in das Familiensystem (d.h. auch wenn sie nicht unter einem Dach mit der Familie leben). Das Gleichgewicht in der Familie und die heimlichen Gesetze und Tabus, die es stützen, „wartet“ nicht darauf, dass unser(e) Patient(in) gesund wird oder sich drastisch ändert, im Gegenteil. Das bedeutet nicht, dass er (sie) gut und die Familie oder die Familienmitglieder böse sind. Es ist auch kein unabänderliches Schicksal, doch um es zu ändern muss der Patient den Mut haben, sich den Seinen in anderer Form zuzumuten als noch länger nur Verständnis zu haben.

Familienaufstellungen, das wäre und wird ein eigenes Thema. Hier nur so viel: Ich verstehe die Arbeit so, dass das alte innere Bild des Klienten durch eine neue Ahnung ersetzt wird – oft verbunden mit einer Aufgabe für den Auftraggeber („Was kann ich tun, damit …?“). Grob gepeilt würde ich sagen, die meisten Patientinnen und Patienten, die ihre Familie und die eigene Kindheit verklären, müssen durch eine Art Desillusionierung gehen, damit ihre Therapie überhaupt Fahrt aufnimmt. Und umgekehrt müssen wir genauso bei den meisten derjenigen, für die die komplette Familie (und Kindheit) nur negativ und schwarz war, für „Reframing“ oder Irritation sorgen; denn da war doch einiges nicht ganz so schlimm und sogar gut. Therapie heißt, die Dinge durch eine andere Brille betrachten, nicht der immer gleichen Lebensgeschichte folgen.

Therapeuten wie Patienten lassen sich in die Irre führen, z.B. von scheinbar „objektiven“ Erfahrungen in der Vergangenheit, oder einfach auch von den schon hundertfach erzählten Geschichten des Patienten, von jenem roten Lebensfaden, den er (sie) gestrickt hat, um sich sein Leid zu erklären. Virginia Satir, die Pionierin der Familientherapie, hat einen Sonderfall dieser Irreführung erkannt: Bei dem, was in unserer Biografie, in unseren Kinderjahren schief lief, denken wir natürlich meist an die Eltern und was sie als Vater oder Mutter falsch gemacht haben, zu wenig Liebe, zu viel Strenge, zu wenig Präsenz usw. Dabei wird häufig übersehen, welch große Bedeutung für die Störungen oder Neurosen des Klienten das spielt, was zwischen den Eltern als Paar (!) schief gelaufen ist und was, wenn überhaupt erinnert, nur als unschön, aber nebensächlich betrachtet wird oder komplett einem Tabu unterliegt.

Angenommen die Eltern sind kein wirkliches Liebespaar, sondern mehr ein Zweckbündnis für Kinder und Familie, so können in der „Dreiecksbeziehung“ zum Kind schnell Bedürfnisse, die eigentlich zur Paarebene gehören, verschoben werden auf die Eltern-Kind-Beziehung. Interessanterweise war die alte Psychoanalyse für solche Verwicklungen wesentlich sensibler, hat sozusagen die Flöhe husten hören (Beispiel Ödipuskomplex) – und mit dem Abschieben der Psychoanalyse in die Geschichte scheint auch das Bewusstsein für diese Dreiecksbeziehungen gelitten zu haben. Wir reden zwar häufiger von „Parentifizierung“, wenn Kinder gegenüber Eltern selbst eine Versorgerrolle übernehmen, es also im Grunde zu einem partiellen Rollentausch kommt. Doch dahinter steckt meist, wenn nicht der Partner des betreffenden Elternteils ganz abhanden kam, eine emotionale „Abwesenheit“ des Partners, also ein schwerer Beziehungsdefekt in der Paarbeziehung.

Nicht von ungefähr stellt auch in der Arbeit mit der Familienaufstellung die Differenzierung bzw. das Auseinanderdividieren von Paarbeziehung und Elternfunktionen eine große Aufgabe dar: „Was wir als Paar nicht geschafft haben, nehmen wir zu uns zurück und heraus aus Deiner Verantwortung.“

Wie geht es weiter, wenn die Herkunftsfamilie losgelassen wird? Zum einen finden manche von uns in Arbeits-, Lebens- oder Glaubensgemeinschaften oder gar im Hobby ihre neue oder sogar „wahre“ Familie (mit allen Risiken, die damit verbunden sind). Dabei nutzen sie Talente, die sie in der Herkunftsfamilie ausgebildet haben. Manchmal kann dies zu einer zumindest zeitweiligen Versöhnung oder einem inneren Frieden beitragen. Zum andern gehört zum „wie geht es weiter“ bei den meisten die Gründung einer eigenen Familie (die uns manchmal wieder näher an die Herkunftsfamilie heranführt). Wie schön wär’s, wenn die Schäden durch die Herkunftsfamilie aufgearbeitet oder zumindest angeschaut würden. Aber vielleicht würde es dann statt idealer Familien eher weniger Familien geben. Mit anderen Worten, ich ziehe den Hut vor allen, die wohlgemerkt: ohne Illusionen, den Mut zur Familie aufbringen.