Wenn Schuld ein Gefühl wäre, würden wird dann von Schuldgefühlen sprechen? Vermutlich nicht. Lassen wir es aber dahingestellt, ob es Schuldgefühle überhaupt gibt (vermutlich ist das einfach eine Frage der Definition). Hier geht es heute darum, dafür zu sensibilisieren, dass Schuldgefühle Teil eines Schutzmechanismus sein können, der Scham und Angst abwehrt. Je bereitwilliger ich mich schuldig erkläre, desto weniger muss ich mich der Scham stellen – oder der Angst, z.B. dass ich es im Grunde gut verstehen kann, was ich tat, oder dass ich es wieder tun würde.
Der Begriff Pseudogefühl stammt aus der Gewaltfreien Kommunikation und bedeutet, dass es sich nicht wirklich um ein Gefühl von mir handelt. Ein Beispiel: „Ich fühle mich verletzt.“ Wir alle wissen, wie sich das anfühlt, aber im Sinne der GFK ist das kein Gefühl, da ich nicht bei mir bin, sondern beim „Täter“, der mich verletzt hat. Echte Gefühle in diesem Zusammenhang wären z.B. Trauer, Wut, Angst, Scham (wenn ich bloßgestellt wurde). Sicher ist das Konzept „Pseudogefühl“ diskutabel, aber spüren Sie selbst hinein, wenn Sie das nächste Mal von „verletzt“ reden oder jemand davon reden hören.
Pseudogefühle schützen uns davor, die eigentlichen Gefühle wahrzunehmen, weil diese zu schmerzhaft oder angstbesetzt sind, oder diese offen zu kommunizieren. Mit „verletzt“ bin ich das Problem erstmal los, weil der andere das Problem bzw. der „Täter“ ist. Interessanterweise ist es oft auch für die Täter oder Verursacher einfacher, sich schuldig zu „fühlen“, als echte Gefühle zu spüren. Wenn ich mich schuldig fühle, kann ich mich entschuldigen, ohne meine tieferen Ängste, Ärgernisse und Traurigkeiten anzuschauen. Statt mich z.B. meinen Ängsten um die Beziehung zu meiner Partnerin zu stellen, nehme ich das Schuldgefühl an, sie verletzt zu haben. So korrespondieren mein Pseudogefühl Schuld und ihr Pseudogefühl Verletzung. Kein Wunder, dass die Beziehung von solch einer Konstellation und Kommunikation nicht profitiert. (Das soll übrigens nicht heißen, dass Entschuldigungen prinzipiell tabu oder sinnlos wären!)
Der größte Teil von Schuldgefühlen verdeckt Scham. Diese ist, schon aus kulturellen Gründen, ein so unangenehmes Gefühl, je nach Erziehung und eventuell traumatischen Kontexten mit Ohnmacht und Überwältigungsangst verbunden, dass wir es auch bei einem hohen Preis vermeiden. Bei vielen Betroffenen, selbst Menschen mit reichlich Therapieerfahrung, gilt Scham daher immer noch als Symptom für Schwäche, Krankheit oder mangelnden Selbstwert, als etwas rundum Schlechtes, das es zu überwinden gilt. Die Scham ist vorbei – das klingt erstmal gut, und im Zusammenhang der Frauenbewegung hat der Slogan durchaus seine Berechtigung. Als Therapieziel aber nicht. Erst wenn Betroffene lernen, mit Scham anders umzugehen und eine angemessene Scham tolerieren können, treten Schuldgefühle in den Hintergrund. Ich kann mich schämen, wenn ich etwas wie auch immer Intimes offenbare, ich kann mich weiterhin schämen dafür, wie ich mich in Situationen verhalten habe, aber deshalb bin ich nicht „schuldig“ an dem, was andere daraus gemacht haben.
Schuldgefühle sind nicht per se auszuschließen, vor allen Dingen dann nicht, wenn sie einen realen Bezug haben – z.B. Verursachung eines Autounfalls durch überhöhtes Tempo oder unter Drogeneinfluss (wobei man interessanterweise rechtlich gerade da teilweise als schuldunfähig gilt). Schuldgefühle können so unerträglich sein, dass sich Menschen deswegen suizidieren! Aber auch hier könnte man fragen, geht es wirklich um die Schuld? Oder stecken wiederum Angst und Scham dahinter, anderen „unter die Augen zu treten“ bzw. nicht mehr „in den Spiegel sehen zu können“?
Es ist sinnvoll, wenn Menschen Verantwortung für ihr Handeln übernehmen, in manchen Fällen auch sich entschuldigen oder sich evtl. auch selbst zu verzeihen lernen, wenn eine Entschuldigung bei den Opfern nicht möglich oder nicht ausreichend erscheint. Die emotionalen Qualitäten, die damit verbunden sind, können allerdings sehr verschieden sein, und sind therapeutisch relevant und werden mit „Schuld“ nicht wirklich erfasst.
Wie ist es mit Menschen, die z.B. im Rahmen einer streng religiösen Erziehung gelernt haben, sich für alle Mögliche schuldig oder als Sünder*in zu fühlen? Meist geht es auch dabei um Scham, im Sinne einer Botschaft, die da lautet: Wenn Du „sündigst“, also von den Normen Deiner Erziehungspersonen abweichst, hast Du Dich zu schämen. Und davor solltest Du gewaltig Angst haben, weil es entsetzlich ist, sich falsch bzw. ausgestoßen zu fühlen.
Bei Patient*innen mit Depressionen fällt häufig auf, dass ihre Schuldgefühle unverhältnismäßig, also überproportioniert und starr wirken, unbeeinflussbar von einem Realitätscheck z.B. bezüglich realer Handlungsalternativen zum Zeitpunkt der „Tat“ oder dem multifaktoriellen Entstehungskontext des Vorfalls. Es fühlt sich manchmal an, wie ein Mechanismus, selbst oder gerade wenn dieser mit reichlich Tränen verbunden ist. Ich möchte daher nochmals betonen, dass Schuldgefühle oder das Festhalten daran manchmal den therapeutischen Fortschritt massiv blockieren. Jede(r) kann sich allerdings denken, dass es wenig hilft, diese Patienten davon abbringen zu wollen. Nur nach längerer therapeutischer Arbeit könnte auch einmal die Frage nach dem „Nutzen“ der Schuldgefühle hilfreich sein.
Manchmal steckt hinter der intensiven und tränenreichen Beschäftigung mit Schuldgefühlen in Bezug auf die Vergangenheit eine Angst (verbunden mit Sehnsüchten), sich in der Gegenwart oder nahen Zukunft „schuldig“ zu machen. Beispielsweise hören wir als Therapeut immer mal wieder: „Ich hätte mich vor 20 Jahren von meinem Partner trennen müssen, da hätte ich meinen Kindern viel erspart.“ Es kann sein, dass dahinter die Angst steckt, sich jetzt – endlich – zu trennen und, nein, nicht schuldig zu werden, sondern für meinen Teil dieser Aktion Verantwortung übernehmen zu müssen. Oder die Angst, sich jetzt nicht mehr trennen zu können, obwohl man/frau es sich eigentlich wünscht.
Wir alle wissen, wie sich Schuldgefühle „anfühlen“ und lassen uns nicht so leicht durch rationale Einwände, dass sie unangemessen sind, überzeugen. Schuldgefühle überwinden bedeutet aufgrund ihrer Hartnäckigkeit auch, dass neue Gedanken und neue Reaktionen gewissermaßen eingeübt werden müssen. Es reicht also nicht, sich einmal klar zu machen, dass ich nicht schuld war oder alles wesentlich komplexer ist, als es das Urteil „schuldig“ erscheinen lässt. Denn das Muster, das beim Denken an das Problem XY Schuldgefühle auftreten lässt, springt automatisch an. Aber die Erkenntnis ist der notwendige erste Schritt: Wir müssen tatsächlich bereit sein, Schuldgefühle loszulassen. Unterm Strich: In der Therapie ist die Frage nach der Schuld selten produktiv (nicht nur, aber auch, weil sie rückwärtsgewandt ist), sehr wohl aber die nach der Verantwortung – für das was jetzt passieren soll.