Wir alle haben traumatische Erfahrungen hinter uns. Das klingt etwas banal oder pauschal, aber manchmal ist diese Perspektive wichtig: Kein menschliches Leben ohne Traumata, auch wenn die Unterschiede ziemlich groß erscheinen. Bei manchen handelt es sich um schreckliche Ereignisse, bei anderen um schreckliche Lebensphasen, häufig besonders schlimm, wenn diese in der Kindheit lagen. Die Folgen des Traumas beeinträchtigen das alltägliche Leben, zumindest in Stressphasen, vielleicht ohne dass wir es richtig bemerken, geschweige denn uns vollends bewusst wären, dass es sich um Traumafolgen handelt. Das bedeutet: Jede(r), der sich traumatisiert fühlt, sollte dies nicht bagatellisieren – nur weil es andere Menschen gibt, bei denen es heftiger ausschaut oder die eine amtliche Trauma-Diagnose haben. Wenn es darum geht, den Stress des Lebens zu bewältigen oder zu verwandeln, dann kommt es maßgeblich auch darauf an, wie wir unsere Traumata verarbeitet haben; und das stimmt unabhängig davon, ob wir eine offizielle Traumadiagnose „haben´“.
In diesem Blog geht es schwerpunktmäßig um einen Aspekt, der gewissermaßen „kontraintuitiv“ zum Stichwort „Trauma“ erscheint, d.h. mit dem Sie, die sich für das Thema interessieren, möglicherweise gar nicht rechnen. Ein Teil unserer Patient:innen beginnt die Therapie mit der Vorstellung, „zuerst“ müsste ihr Trauma aufgelöst werden, bevor sie sich wieder den Aufgaben des Lebens, dem Stress da draußen, zuwenden könnten. Daran ist vieles nachvollziehbar und verdient unsere Empathie – und ebenso vieles daran ist unrealistisch oder sogar kontraproduktiv, führt nicht weiter, sondern blockiert uns.
Psychotherapie hat generell mit der Aufgabe zu tun, fest gefügte Vorstellungen aufzubrechen, in Frage zu stellen, zu ergänzen und z.T. zu ersetzen, d.h. zu „Wahrheiten“ gefrorene Bilder, fixe Vorstellungen und zeitlose Glaubenssätze zu erschüttern. Bei „Trauma-Patienten“ (schon das Wort empfinde ich meist als heikel), ist dies besonders schwer, weil sie sich z.T. an ihr Trauma klammern, und es gleichzeitig loswerden wollen.
Die allermeisten Patienten kommen zu uns, egal ob ambulant oder stationär, wenn eine mehr oder weniger akute Überlastung stattgefunden hat oder besteht. Es ist naheliegend, die akute Ohnmacht mit dem lange zurückliegenden Trauma in Verbindung zu bringen, aber wir müssen genauer hinschauen. Das Trauma fungiert oft wie eine Leinwand, als primäre Projektionsfläche für Heraus-forderungen des Patienten. Kurios: Dies kann man gerade dann vermuten, wenn die aktuellen Überforderungen in den Erzählungen keine Rolle spielen! Wie sich vielleicht herausstellt, liegt das eigentliche Trauma schon Jahrzehnte zurück, der Patient war in der Zwischenzeit sehr lange (mehr oder weniger gut) lebenstauglich und möglicherweise ausreichend glücksfähig. Und jetzt? Steht das Trauma im Vordergrund. Ist das nicht merkwürdig. Erklären kann man das mit vielen Modellen, soll heißen: Die Betroffenen denken sich das nicht aus, sie lenken den Fokus nicht willkürlich auf das alte Trauma. Es kann die Folge davon sein, das Schutzmechanismen nicht mehr funktionieren. Und es kann selbst ein Schutzmechanismus sein: sich aufs Trauma fixieren.
Meine Leitfrage für die Therapie lautet in der Regel: „Was machen Sie anders, wenn …?“ (wenn Sie die Klinik verlassen, wenn die nächste Woche beginnt, wenn Sie wieder zur Arbeit gehen usw.). „Wie werden Sie besser leben ab …?“ Manche Patientinnen können sich gar nicht vorstellen, etwas anders zu machen, weil sie es sich nicht zutrauen. Dieser Mangel an Selbstwirksamkeit wird selten behoben, indem man am Trauma selbst arbeitet oder gar sich damit konfrontiert. Umgekehrt ist sinnvolle Traumatherapie im engeren Sinn erst möglich, wenn das Gefühl für Selbstwirksamkeit gestiegen ist durch eine kleinschrittige lösungsorientierte Therapie, d.h. indem Aufgaben in der Therapie und zwischen den Sitzungen gelöst werden – und indem beim Patienten die Bereitschaft wächst, eigenverantwortlich zu leben, auch wenn er/sie das Trauma noch nicht losgeworden ist (oder nie „los wird“).
Wenn wir von Eigenverantwortung in der Therapie reden, so werden wir mehr oder weniger „automatisch“ auf mehrere Probleme gelenkt. Wie bei fast allen psychischen Leiden, kann auch die Trauma-Diagnose mit einem mitunter erheblichen „Nutzen“ verbunden sein, beruflich sowie in Partnerschaft und Familie. Wer z.B. immer nur für andere gelebt hat, dem hilft „das Trauma“ bzw. die Diagnose, endlich etwas zu bekommen oder hinzubekommen, was sie alleine nicht geschafft haben oder sich zutrauen: für die eigenen Bedürfnisse „einzutreten“ (ohne sich als Egoist zu fühlen und beim ersten Widerstand einen Rückzieher zu machen). Das erledigt nun die Trauma-Krankheit oder -Diagnose: Das Umfeld nimmt Rücksicht und evtl. zahlt der Staat die Erwerbsunfähigkeitsrente. Es ist besser so: Besser, wenn andere Rücksicht nehmen und besser, wenn der Staat jene, die anhaltend arbeitsunfähig sind, nicht hängen lässt!
Wenn es jedoch gar nicht vorangeht in der Therapie (wie im wahren Leben), könnte es auch am Vorteil der Erkrankung liegen. Den „Vorteil“ der Krankheit oder der Diagnose kann man durchaus mit dem Patienten anschauen, etwa in Form von Aufstellungsarbeiten: In welchem System ist die Krankheit, die Diagnose oder eben „das Trauma“ nicht (nur) ein Problem, sondern (auch) eine Lösung? Ich betone, hoffentlich oft genug, dass es in der Therapie nicht um moralische Bewertungen geht: Unsere Patientinnen denken sich weder ihr Problem aus, noch erfinden sie ihre ambivalente Motivation oder ihr Verständnis von Krankheit und Therapie willkürlich.
„Trauma“ kann ein Schutzschild oder ein Schutzmechanismus sein – nicht zu verwechseln mit Ausrede! – , damit sich Betroffene nicht den vollen Herausforderungen des Lebens stellen müssen, also jenen Ängsten, die aktuell und realistisch sind (und mit dem Trauma im Grunde wenig zu tun haben). Je mehr wir uns in dieser Situation als Therapeut am Trauma „abrackern“, desto hilfloser scheinen diese Patienten oft zu werden, desto mehr leben sie in der Traumawelt, lassen sich von allen möglichen Anlässen „triggern“, bauen manchmal von Stunde zu Stunde ab, entwerten ihre Alltags- und Lebenstauglichkeit weiter massiv, d.h. sprechen extrem negativ über ihren „Funktionsmodus“, werten es stark ab, wenn wir sie auf ihre Ressourcen oder gar starken Seiten hinweisen. Mit jeder Skalierungsfrage („Wo stehen Sie gerade zwischen 1 und 10 …?“) landen wir wieder im Keller. So entwickeln sie sich zu klassischen „ja,aber-Patienten“, die zwar eine Krankheitseinsicht haben, aber keine Therapiemotivation im Sinne der Psychotherapie (das würde Übernahme von Eigenverantwortung beinhalten), sondern eher im Sinne der Chirurgie („machen Sie mir bitte das Problem weg“).
Man kann es traumatheoretisch erklären: Traumatisierte Patient:innen neigen dazu, in eine Opferrolle zu fallen. Manchmal ist dies auch eine scheinbare Täterrolle („ich bin mal wieder schuld“, „ich verbocke alles“), die de facto auf einer tieferen Ebene eine Opferrolle ist. Das ist vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen mehr als verständlich. Unser Verständnis als Therapeuten darf aber nicht soweit gehen, dass wir dieses Verhalten fördern, vielmehr müssen wir konsequent neues, mutiges Verhalten generieren und belohnen, die erwachsene Haltung im Klienten stärken. Das bedeutet natürlich auch: selbst wachsam genug sein für die kleinen Schritte und Erfolge, die der Patient gar nicht bemerkt.
Die Therapie stellt einen Balanceakt dar, das Trauma ernst zu nehmen und gleichzeitig den Stellenwert der „Trauma-Auflösung“ (was auch immer das sein soll) als Bedingung für sinnvolles Vorwärtsgehen im Leben zu entkräften. Ein besseres Leben ist immer möglich (sonst müssten wir unsere Therapeutenpraxis schließen) und beginnt im Prinzip jetzt. Generell sollten wir Patienten nahebringen, dass es nicht förderlich ist, ultimative Bedingungen für eine neues Leben zu stellen im Sinne von „erst muss…, dann kann ich …“. Es geht vielmehr darum, die konkreten Umgebungsbedingungen für ein besseres Leben herzustellen (z.B. den Kontakt zu Tätern abzubrechen, neue gesunde Kontakte zu knüpfen, sich konkrete Unterstützung für die Herausforderungen des Alltags suchen usw.). Das neue Leben beginnt also wesentlich bescheidener, kleinschrittiger und konkreter damit realistischer als zuvor erwartet, wir entdecken es im Vorwärtsgang (nicht beim Rückwärtsfahren).
Also zurück auf Los: Was soll in ihrem Leben jetzt anders werden? Was hindert Sie daran? Was können wir dafür tun, dass es anders wird? Die offizielle Diagnose eines Traumas macht therapeutisch dabei nicht „den“ Riesenunterschied, den Patienten unterstellen, v.a. jene, die eine Traumadiagnose regelrecht wünschen. Der Leidensdruck von Betroffenen ist meist unabhängig davon, ob eine solche offizielle Diagnose gestellt werden kann: Auch wenn nicht alle Symptome vorliegen, die eine Diagnose wahrscheinlich machen (z.B. Flashbacks, Erinnerungslücken, Vermeidungsverhalten, Fremdheitsgefühle), kann das Leiden immens sein.
Auch die Prognose ist weitgehend unabhängig von der Diagnose: In meinen Therapiegruppen, ambulant wie stationär, haben immer wieder sog. Traumapatienten mehr oder weniger erfolgreich Therapie gemacht – „mehr oder weniger“ heißt, die Erfolgsrate lag bei den Traumapatientinnen insgesamt nicht höher oder niedriger als bei Patienten ohne Traumadiagnose. Damit möchte ich nicht behaupten, spezifische Trauma-Therapie sei an sich überflüssig. Ihr Stellenwert wird allerdings von einem Teil der Patientinnen und vielleicht auch von einem Teil der Therapeutinnen überbewertet. Und manchmal kann Traumatherapie, gerade wenn sie im Sinne der Patienten zu verlaufen scheint, wenn sie sich in der Klinik oder beim ambulanten Therapeuten pudelwohl und hier wie nirgends sonst verstanden fühlen, die Ohnmacht verfestigen und in die Sackgasse führen.
Es gibt noch einen weiteren zentralen Aspekt, warum es ohne die Eigenverantwortung des Patienten nicht geht: Peter Levine, einer der bekanntesten Traumforscher und -therapeuten, hat sich viel mit der körperlich-biologischen Seite von Traumata befasst. Tiere, die aus einem traumatischen Schockzustand kommen, schütteln die angestaute Energie ab.
Der Mensch ist, biologisch betrachtet, auch ein Tier und daher muss Traumatherapie laut Levine primär ein körperlicher Prozess sein. Manches von dem, was er dazu beschreibt, scheint vor allem auf Schocktraumata (Unfall, Überfall, Katastrophen etc.) zuzutreffen, aber auch Opfer von anhaltendem Missbrauch und bindungstraumatisierte Menschen können von seinen Erkenntnissen und Methoden profitieren. (Speziell diesen Betroffenen empfehle ich außerdem das Buch von Dami Charf, siehe unten.)
Die Botschaften Levines sind scheinbar schlicht, doch gemessen an dem, was Jahrzehnte Standard in der Psychotherapie war (reden und reflektieren), geradezu revolutionär:
- Traumatherapie, die den Körper nicht einbezieht, kann nur von begrenztem Erfolg sein.
- Um von einem Trauma geheilt zu werden, muss man sich nicht bewusst oder gar detailliert daran erinnern, weil es um die gestaute Energie im Körper geht, der sich auf seine Weise erinnert.
- Viele Menschen können sich selbst helfen, können tatsächlich Traumata selbst lösen – durch intensives Üben.
Dieser Ansatz ist revolutionär, weil er die Betroffenen ermutigt und in die Lage versetzt, selbst die Handelnden zu werden. Dies steht in deutlichem Kontrast zu den Erwartungen von Patienten am Beginn der Therapie: Sie haben vage Vorstellungen davon, das ihnen geholfen werden soll, verbleiben aber dabei eher in einer Opferrolle, die einen Retter herbeiruft. Levine sagt dagegen zu Betroffenen, sie können das selbst – die Verbindung zum Körper herstellen und eine besondere Art der körperlich-seelischen Selbststeuerung aufbauen: das Pendeln.
Die größte und beste Ressource in der Traumatherapie ist „die Fähigkeit Ihres Körpers, von einer Empfindung des Unwohlseins zu einer Empfindung des Wohlbefindens überzugehen“. Die einzelnen Übungen von der Erfahrung der Körpergrenzen und Erdung über die Differenzierung von Empfindungen, Emotionen und Vorstellungen bis hin zum Aufbau wohlwollender Körperkontakte erscheinen fast banal, zumal wenn wir uns vor Augen halten, als wie komplex Traumatherapie bisweilen dargestellt wird.
Ich glaube nicht, dass es immer so einfach ist. (Ich glaube auch nicht, das Levine das meint.) Es gibt sicher viele Patient:innen, die beim Aufbau ihres Lernprogramms Anleitung und Unterstützung von außen benötigen. Außerdem darf die Notwendigkeit einer ergänzenden eher mentalen Einordnung des Traumas, also psychoedukative Elemente sowie individuelle Erklärungen, nicht so gering geschätzt werden, wie es hier erscheinen mag. Die alte Psychotherapie hat sich zu viel von der „Mentalisierung“ versprochen, die neuere unterschätzt die Mentalisierung bisweilen.
Primär müssen wir Trauma-Patienten dafür gewinnen, selbst etwas zu tun, gewinnen dafür, Eigenverantwortung zu übernehmen: Wie bei jeder Psychotherapie hat der Patient den Hauptjob. Das geht nur, wenn er seine Selbstwirksamkeit mehr und mehr spürt und als attraktiv erlebt: „Ich habe Anteil an meinem Leben und Erleben, ich habe großen Einfluss darauf, wie es mir geht.“ „Ich habe eine Idee und Erfahrungen dazu, wie ich alles verschlimmern kann (z.B. indem ich Drogen nehme) und ich habe durch die Therapie und das Leben viele Ideen und Erfahrungen, wie ich das Leben besser leben kann. Und: Ich will leben!“
Peter A. Levine: Vom Trauma befreien. Wie Sie seelische und körperliche Blockaden lösen (Kösel, München 2007)
Dami Charf: Auch alte Wunden können heilen. Wie Verletzungen aus der Kindheit unser Leben bestimmen und wie dennoch Frieden in uns selbst finden können (Kösel, München 2018)