Vom Flüssigkeitsmangel können Kinder erhöhte Temperatur bekommen – und hochbetagte Senioren benehmen sich so „wirr“, dass sie gar nicht selten fälschlicherweise die Diagnose „beginnende Demenz“ gestellt bekommen. Auch zwischen Kindheit und Alter gibt es zweifellos viele Menschen, die zu wenig trinken. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir alle trinken müssten „wie ein Loch“!
Im Bereich von Medizin und Wellness kursieren zahlreiche Formulierungen, die wohl ihren Sinn haben, die man aber nicht unbedingt wörtlich nehmen sollte: „Entschlackung“, „in den Bauch atmen“ … oder eben „die Nieren durchspülen“. Was wir trinken wird nämlich nicht in einem eigenen Rohrsystem geradewegs vom Mund in die Niere transportiert und von dort in die Blase und wieder hinausgeleitet. Vielmehr müssen Getränke genau wie feste Nahrung durchs Verdauungssystem: Speiseröhre, Magen, Darm. Im Dickdarm wird der größte Teil Flüssigkeit resorbiert und ins Blut aufgenommen. Nur etwa 150 bis 250 Milliliter gehen über den Darm letztlich mit dem Stuhl ab – je nachdem, wieviel Ballaststoffe wir aufnehmen, denn sie binden Wasser im Stuhl (daher lautet „Ballaststoffe plus Trinken“ eine Standardempfehlung bei gewohnheitsmäßiger Verstopfung). Bei Durchfall ist dieser Mechanismus gestört, wir verlieren viel Wasser mit dem Stuhl – und hier macht das reichliche Trinken Sinn.
Mit der Trinkmenge, die über den Darm ins Blut aufgenommen wird, vergrößert sich vorübergehend auch das Blutvolumen. Dies kann bei Patienten mit Herzleistungsschwäche – viele Senioren leiden darunter – Probleme bereiten, denn „die Pumpe“ muss mehr arbeiten. Herzinsuffizienz ist also eine Kontraindikation fürs viele Trinken. Eine australische Studie hat überdies Hinweise gefunden, übermäßiges Trinken könnte sogar die Blutverdünnung so beeinflussen, dass auch dadurch eventuell Verwirrtheit auftritt. Daher sollte man bei Hochbetagten immer achtsam mit der Trinkmenge umgehen, jedenfalls nicht nach der Devise „so viel wie möglich“ verfahren.
Vom Herzen wird das Blut in den Körperkreislauf gepumpt, unter anderem zu den Nieren. Die Nieren pressen einen Großteil der Blutflüssigkeit beim Filtern zunächst als Primärharn ab, holen aber im weiteren Prozess den größten Anteil zurück und geben ihn gereinigt wieder an den Blutkreislauf ab. Nur ein Bruchteil wird als Urin ausgeschieden, sonst würden wir noch mehr Zeit auf der Toilette verbringen. Die Nieren sind also Kläranlagen. Allerdings ist die Filtration ein aktiver Prozess, nicht eine passive „Spülung“, die durch größere Trinkmengen automatisch effektiver würde. Das Mehrangebot an Wasser führt bei Niereninsuffizienz, der zweiten Kontraindikation fürs Vieltrinken, zu Wasseransammlungen im Körper: Geschwollene Hände und Beine sowie ausgeprägte Müdigkeit sind dabei noch harmlose Symptome. Liegt außerdem noch die erwähnte altersbedingte Herzschwäche vor, drohen Lungen- und Hirnödeme.
Wieviel Wasser muss denn der Herz- und Nierengesunde aufnehmen? Allgemein formuliert: Seine Wasserbilanz sollte ausgeglichen sein. Der Organismus tut alles dafür: Auf der „Herein“-Seite stehen die Getränke und Wasser, das mit der Nahrung aufgenommen wird, sowie solches, dass durch den Stoffwechsel im Organismus entsteht. Unter „Heraus“ wird die Flüssigkeitsabgabe über Urin, Stuhl, Atmung und Haut verbucht. Vieles lässt sich aus der Bilanz erklären. Logisch ist daher z.B., im Sommer und bei gesteigerter körperlicher Aktivität mehr zu trinken.
Der Nahrung wird häufig zu wenig Beachtung geschenkt: Eine eiweißhaltige und salzreiche Ernährung sorgt dafür, dass sich die benötigte Urin- und Trinkmenge vergrößert. Dagegen bestehen viele Gemüsesorten zu über 90 Prozent aus Wasser. Vegetarier benötigen daher tendenziell eine geringere Trinkmenge – nach meiner Erfahrung sind es aber Vegetarier*innen, die ihr Gesundheitsbewusstsein durch Vieltrinken unterstreichen, während der typische Fleischesser bei Vieltrinken eher an Alkohol denkt.
Solches „über den Durst trinken“ ist zwar ein anderes Thema, erinnert aber daran, dass der Organismus ja über ein Signal für die Trinkaufnahme verfügt, welches sich viele Jahrtausende bewährt hat: Durst. Dieser meldet sich, wenn der Wasserverlust etwa 0,5 Prozent des Körpergewichts überschreitet (bei einem 70 kg schweren Menschen wären das 350 ml). Das Durstsignal arbeitet ziemlich exakt, sogar bei extremen Belastungen, was aus der Evolutionsgeschichte heraus naheliegend ist. Heute wird daher z. B. Marathonläufern geraten, nicht an jeder Versorgungsstation unterwegs zu trinken, sondern nur dann, wenn der Läufer Durst hat – denn es kam immer wieder zu unerwarteten Todesfällen bei Läufern, die über den Durst getrunken hatten. „Eigentlich“ hört das durstige Säugetier Mensch mit dem Trinken auf, noch bevor alles benötigte Wasser vom inneren Organismus aufgenommen wurde. Der Körper versucht also, übermäßige Wasseraufnahme (Hyperhydrierung) zu verhindern.
Ein großes Problem des modernen Menschen besteht allerdings darin, dass er verlernt, seine Körpersignale wahrzunehmen. Wir werden geradezu dazu konditioniert, die Signale z.B. im Arbeitsleben zu übergehen. Und im Alter lässt der Durst „automatisch“ nach, warum auch immer. Da sich überdies bei Senioren auch Appetit und Nahrungsmengen reduzieren, kann das berüchtigte Flüssigkeitsdefizit entstehen. Das bedeutet aber nicht: zwangsweise 2 Liter zuführen!
Für die meisten Deutschen dürfte die Trinkempfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) zur Orientierung dienen: 1,5 Liter pro Tag. Wie bei vielen DGE-Empfehlungen kann man davon ausgehen, dass dabei ein „Sicherheitszuschlag“ eingerechnet ist. Und wie sieht’s bei Ihnen aus? Stellen Sie sich doch für eine Woche jeweils morgens eine 1,5-Liter-Flasche Wasser auf den Tisch und schauen, was der Wasserstand am Abend verrät. Ich habe nichts gegen probeweise „Trinkkuren“ bei herz- und nierengesunden Patienten. Die Devise lautet aber sicher nicht: „Je mehr, umso besser.“