Es ist ein Wunder, dass ich darüber noch nicht geschrieben habe. Ich weiß warum: Das Thema ist so groß – und es wird am Anfang meines Blog-Alphabets stehen, es sei denn ich würde mal über Abba oder über Aachen schreiben.
Mit Wundern fängt sie an, die Achtsamkeit. Vor 45 Jahren schrieb der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh im Exil das Buch „The Miracle of Mindfulness“, in dem für mein Empfinden all das steht, was in den Jahrzehnten danach populär wurde und in allerlei Varianten nacherzählt oder wie neu erfunden wurde, was nichtzuletzt auch wissenschaftlich erforscht und so gut dokumentiert wurde, dass heute selbst Krankenkassen die Achtsamkeitspraxis bezahlen. Zu jener Zeit haben auch andere Autoren ähnliche Schriften veröffentlicht – es lag sozusagen in der Luft. Oder frei nach Victor Hugo, nichts ist mächtiger als eine Idee, für die die Zeit reif ist.
Wenn allerdings eine Idee so mächtig geworden ist, dass sie zum guten Ton gehört oder zum Gesetz erhoben wird, kann sie den Reiz der Nachahmung verlieren oder gar Widerspruch auslösen. Aus meiner Erfahrung in der Anleitung von Achtsamkeitstraining ist es daher hilfreich, zunächst zu betonen, worum es primär nicht geht: um den rücksichtsvollen Umgang mit anderen. Wirklich nicht? Naja, der ergibt sich schon irgendwie „automatisch“ auf dem Weg der Achtsamkeit und gehört auch dazu. Aber wie so vieles andere in der Schnittmenge von Selbsterfahrung, Therapie, Beziehung und Spiritualität, funktioniert die Achtsamkeit nur, wenn wir sie für uns selbst entdecken wollen. „Achtsamkeit“ als Moralkeule in sozialen Beziehungen (oder in der Beziehung zu mir selbst) – „das war unachtsam von Dir“ (oder „… von mir“) – passt gerade nicht zur Achtsamkeit in ihrem ursprünglichen Sinn: wahrnehmen ohne zu bewerten. Achtsamkeit entsteht aus einem Geist der Güte, stellen Sie sich dafür einfach Thich Nhat Hanh vor.
Das von ihm beschriebene Wunder der Achtsamkeit meint zum einen, dass wir mit ganz einfachen Mitteln, sofern wir sie regelmäßig üben, unser Leben erstaunlich verändern und bereichern können. Zum andern gehört zu diesen „Methoden“ an vorderster Stelle das Wundern selbst: Dass wir die Wunder, die immer schon in uns und um uns herum sind, wirklich wahrnehmen, sie also bewundern. Dass wir uns für die Wunder des Alltäglichen öffnen oder, wie Thich Nhat Hanh sagt, sie „berühren“. Das Leben bietet alles, immensen Reichtum und sogar das, was Du Dir wünschst und was Du sein möchtest – Du musst es „nur“ mit Deinem Bewusstsein berühren.
Dieses Wundern kann man lernen, z.B. in Achtsamkeitskursen, häufig werden sie heute als MBSR-Kurse angeboten. Die Abkürzung steht für „Mindfulness Based Stress Reduction“ und bedeutet so viel wie achtsamkeitsbasierte Stressreduktion, wobei „Stress“ im Original bei Jon Kabat-Zinn wesentlich mehr umfasste als das, was wir gewöhnlich darunter verstehen – der amerikanische Begriff „Stress“ reicht bis zu Schmerzerkrankungen und Depressionen. Kabat-Zinn hat durch seine wissenschaftliche und publizistische Tätigkeit viel dazu beigetragen, dass Achtsamkeit heute so bekannt ist; auch dadurch, dass er ein standardisiertes Programm entwickelt hat, mit dem er beweisen konnte: es funktioniert. Zu seinen schönsten Einladungen in das Reich oder den Reichtum der Achtsamkeit gehört der Vorschlag, der Welt mit dem „Geist des Anfängers“ zu begegnen, so als hätten wir gerade erst unsere sieben Sinne frisch geschenkt bekommen und würden unser Bewusstsein als wahrhaft bewusstes Sein entdecken.
Das neue Bewusstsein entwickeln wir, indem wir im Alltag „meditieren“, also nicht (nur) in den Auszeiten des Alltags (morgens vor dem Aufstehen, abends vor dem Schlafengehen oder am Sonntag), sondern mitten im Leben. Wir lernen es, indem wir vor allem immer und immer wieder unsere Atmung beobachten und bewusst gehen – indem wir das scheinbar Selbstverständlichste der Welt als Wunder entdecken –, indem wir unseren Körper in all seinen Teilen und Empfindungen bewusst wahrnehmen und indem wir einfach nur still sitzen. Wir lernen es, indem wir dieses neue reiche Bewusstsein mitten im Alltag immer wieder für Momente „anschalten“: mit Achtsamkeit essen, ausruhen, Zähne putzen, die Straße, die wir langgehen, wahrnehmen, uns bewusst unterhalten, indem wir wirklich bei der Sache sind, im Hier und Jetzt. Sicher, wir können nicht ständig jeden Moment auf der Zunge des Bewusstseins zergehen lassen. Und es geht auch nicht um permanente Entschleunigung. Es geht vielmehr um mehr Freiheit im Umgang mit uns selbst und der Welt. Weniger getrieben sein, aber sich manchmal treiben lassen.
Diese Praxis führt zu mehr Mitgefühl, hoffentlich mit uns selbst, sie führt zu mehr Zufriedenheit und Dankbarkeit, zu mehr innerem Halt und Zuversicht … und ja, sie führt auch zu mehr Respekt und Rücksichtnahme im Umgang mit anderen, zu mehr Toleranz, zu weniger Bewertung und Abwertung von anderen und von uns – und damit zu einer großen Entspannung. Sie kann das Leben erleichtern, gerade auch dann, wenn wir uns in sehr schwierigen Phasen befinden. Sie ermöglicht uns, die Fesseln des Schicksals und unserer Emotionen zu lockern oder zu lösen. Der Weg der Achtsamkeit ist ein Weg der Befreiung. Einatmen, Ausatmen, Staunen.
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