Viele Jahre habe ich zunächst als Naturheilkundler nach Lösungen für ADHS gesucht. Mittlerweile bin ich der Auffassung, dass wir den Blick schon sehr verengt haben, wenn wir von ADHS sprechen. Dann geht es oft um die Frage „Ritalin oder nicht?“ – und die Naturheilkunde kann da scheinbar gar nicht mithalten. In der Tat führen medikamentöse Angebote wie ein „homöopathisches Ritalin“ in die Irre und lenken von dem ab, was aus ganzheitlicher Perspektive wirklich helfen kann. Andererseits halten die meisten Klienten in der Naturheilkundepraxis nichts davon, wenn man sie nur mit Vorschlägen zu Veränderungen des Lebens entlässt. Aus verschiedenen Gründen lassen sie sich lieber auf andere ganzheitliche Erklärungsansätze für ADHS ein: Impfschäden, Umweltgifte, Allergien usw. sind m.E. als mögliche Faktoren zwar nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, aber ich würde doch in den allermeisten Fällen zunächst die wesentlich mitverursachenden Lebensumstände ins Auge fassen.
Der Anteil der Ernährung an der ADHS-Störung wird schon fast so lange diskutiert, wie es die Diagnose gibt. Gerieten anfangs vor allem Nahrungsphosphate, Konservierungsmittel und Geschmacksverstärker ins Visier der ganzheitlichen „Ermittler“, hat sich der Blick nach und nach auf die Ernährung insgesamt ausgedehnt. Heute werden Fast-Food, der hoher Zuckeranteil in der Nahrung sowie auch Koffein in Co als mitverantwortlich angesehen. Es ist mehr als naheliegend, dass ein hoher Konsum an Softdrinks (Cola) nervöse Unruhe begünstigt, sei es durch ausgeprägte Blutzuckerschwankungen oder durch Koffein.
Auch der Mangel an naturnahen Aktivitäten einerseits – vereinfacht gesagt: körperbetontes Spiel und Sport – und andererseits der übermäßige Konsum von TV, Unterhaltungselektronik, Handy und Tablet beeinträchtigen das Konzentrationsvermögen erheblich und beschränken die eigene Kapazität zur Regulierung von Impulsen und Aufmerksamkeit.
„Weiß ich doch.“ „Das haben wir alles schon probiert.“ Solche oder ähnliche Reaktionen sind nicht selten. In vielen Fällen lohnt dann keine weitere Diskussion. Dennoch muss der nächste Schritt nicht Ritalin heißen! Was von vielen Betroffenen und Angehörigen als besonders hilfreich erfahren wird, ist ein lebenspraktisches Training, wie es Ergotherapeuten anbieten. Im Grunde geht es dabei um spielerische Einübung von Selbstregulation: Wie kann ich „runterkommen“ bzw. Tempo rausnehmen? Wie kann ich Pausen machen und selbst Entspannung herbeiführen? Aber auch: Wie geht Aktivierung, wie können Tempo und Aufmerksamkeit gesteigert werden?
Eine Psychotherapie ist sinnvoll, wenn die Unruhe sozusagen im Familiensystem liegt und es bei den „Symptomträgern“ auch um Themen wie Gesehen-werden, Wertschätzung und Aufmerksamkeit-bekommen geht. Gerald Hüther hat darauf hingewiesen, dass viele ADHS-Betroffene als Kleinkinder zu wenig gemeinsame Zeit mit den Bezugspersonen erleben durften. Im gemeinsamen Machen, in der gemeinsamen gerichteten Aufmerksamkeit (etwa auf das eigene Haustier) lernen Kinder eine ganze Menge, u.a. auch eine bessere Impulskontrolle.
Ein Haken an den meisten ganzheitlichen Ansätzen ist, dass sich Eltern schnell schuldig oder angegriffen fühlen, so als hätten sie etwas falsch gemacht. Das ist gewissermaßen das „Einfallstor“ für die psychiatrische oder biomedizinische Sicht der Dinge, die ADHS mit einer angeblich angeborenen Stoffwechselstörung erklärt. Demnach soll im Gehirn der Patientinnen und Patienten an entscheidenden Stellen ein Mangel an Dopamin, dem sogenannten Glücks-, Belohnungs- und Motivationshormon, vorliegen.
Beweisen konnte dieses Modell noch niemand. Zwar führen die auf dieser Erklärungsbasis verabreichten Psychostimulanzien in vielen Fällen tatsächlich dazu, dass die Symptomatik vorübergehend zurückgeht: Unter den Medikamenten, die wie berüchtigte Straßendrogen (Amphetamine) wirken, geht es „allen“ (den Betroffenen und dem Umfeld wie Eltern und Lehrer) besser. Allerdings wären die Ergebnisse lange nicht so beeindruckend wie oft behauptet (oder auch empfunden), würde man sie nicht mit der Entwicklung unbehandelter Betroffener vergleichen, sondern mit Patientinnen und Patienten, die mit Ergo- und Psychotherapie sowie Pädagogik lernen, sich selbst besser zu regulieren.
Ritalin und Co machen abhängig, die Leistungssteigerung hat ihren Preis, der evtl. ein Leben lang zu zahlen ist: Erhöhung des Blutdrucks, Appetitmangel, Wachstumsstörungen, Depressionen und Schwindel sind nur einige der Nebenwirkungen. Wer sich die Patientenzahlen und deren gigantisches Wachstum anschaut, kommt ins Grübeln. Der Arzt und Forscher Peter C. Gøtzsche, ein bekannter wissenschaftlicher Pharmakritiker, ist überzeugt, dass die Diagnose ADHS den meisten Betroffenen eher schadet als nützt. Unter Berufung auf Allen Frances, der einst die Arbeitsgruppe leitete, die das diagnostische Handbuch DSM überarbeitete und später ins Zweifeln geriet über die Ausweitung der Diagnosen, bezeichnet Gøtzsche ADHS als eine der künstlich erzeugten „falschen Epidemien“. Tatsächlich ist es erschütternd, dass heute manchmal bis zu einem Viertel der Kinder in den hochentwickelten Staaten als von ADHS betroffenen eingestuft werden.
Gøtzsches Sicht auf ADHS lautet vereinfacht etwa so: Es ist weder eine Krankheit (sondern nur ein Set von störenden Symptomen) noch eine Gehirnstörung (man hat nie so etwas beweisen können) noch ein Stoffwechseldefizit (Stichwort Dopamin), vielmehr zeigen die betroffenen Kinder einfach Varianten von normalem Verhalten – bei der „Normalverteilung“ gibt es immer etwa 5%, die deutlich abweichen, ohne dass dies aber pathologisch sein muss. Gøtzsche hat eine genial einfache Erklärung für einen Großteil der „Problemfälle“: Bei den Kindern, die Herbst in die Schule kommen, handelt es sich um kleine Menschen, die extrem unterschiedlich alt sind, bei einigen ist die Gehirnentwicklung zwar normal wie bei den andern, aber aufgrund des Geburtsdatums (im Winter) ein Dreivierteljahr oder mehr hinter den Spitzenreitern. Dies führt zu starken Überforderungen, die aus einem nachvollziehbaren Unterschied ruckzuck eine psychosoziale Störung machen – die Kinder werden abgehängt und auffällig.
Was lässt ADHS eigentlich so pathologisch wirken? In erster Linie ist es die mangelnde Anpassungs- und Leistungsfähigkeit der Betroffenen. Vielleicht sollten wir also mehr über die Gesellschaft nachdenken, die so urteilt. Eine andere Erklärung von Gøtzsche lautet: Die betroffenen Kinder bekommen zu wenig Zuwendung, was ihre Entwicklung unnötig verzögert oder beeinträchtigt – da gibt es durchaus Schnittmengen mit Gerald Hüther. „Leider finden es viele Kliniker einfacher, Eltern mitzuteilen, ihr Kind habe eine Gehirnstörung, als ihnen andere Erziehungsmethoden vorzuschlagen.“
Diese Einschätzung erscheint manchen Betroffenen verständlicherweise zu pauschal und moralisierend. Das Thema ADHS ist u.a. deshalb so komplex, weil die verschiedenen Erziehungsinstanzen sowohl an der Produktion des Problems wie an seiner pathologischen Bewertung mitwirken – und wir schlecht die betroffenen Kinder selbst um Antwort bitten können.
Ich kenne eine Reihe erwachsener Patient*innen, die die Diagnose ADHS sehr entlastet hat: „Endlich ein handfester Grund, warum es mir so geht, wie es mir geht!“ Weiterhin haben mir auch etliche von ihnen versichert, dass sie sich, seit sie die berüchtigten Medikamente einnehmen, deutlich stabiler und leistungsfähiger fühlen. Letztlich müssen es m.E. die Betroffenen – als Erwachsene – selbst entscheiden, welchen Weg sie gehen und welche „Wahrheit“ ihre eigene ist. Moralische, pharma- und auch gesellschaftskritische Perspektiven helfen da nur bedingt weiter. Bei Kindern würde ich allerdings Eltern raten, noch eine zweite oder dritte Meinung einzuholen und die ein oder andere ganzheitliche Maßnahme auszuprobieren, bevor das Kind Medikamente bekommt.
Literatur:
- Peter C. Gøtzsche, Tödliche Psychopharmaka und organisiertes Leugnen, riva, München 2016
- Gerald Hüther, ADS: Reparaturdenken führte auf die falsche Spur, in: Naturarzt 5/2012 (in dieser Ausgabe, die ich als Redaktionsleiter organisierte, befinden sich noch zwei weitere interessante Beiträge zu ADHS)