Ü wie Übertragung

Da wir Gefühle für Menschen und die Bedürfnisse, die wir mit diesen Menschen verbinden, nicht an irgendeinem Tag im Erwachsenenleben ganz neu erfinden (obwohl: es mal so zu betrachten, mit dem „Geist des Anfängers“ in der Achtsamkeitspraxis, das kann durchaus aufschlussreich sein), empfinden wir sie irgendwie ähnlich wie „damals“, irgendwann früher, in Bezug auf andere Menschen. So gesehen, ist Übertragung etwas „Normales“, obwohl ich zu diesem Begriff, sofern er sich auf Psyche und Psychotherapie bezieht, ein gespaltenes Verhältnis habe. Psychotherapeutisch wird die Übertragung dann relevant und im wahrsten Sinne des Wortes spannend, wenn die Gefühle und ihre Intensität als unangemessen – vom Betreffenden, also dem Absender, und/oder vom Empfänger – erlebt werden. Dann ist sie mit inneren und äußeren Konflikten verbunden.

In den Anfängen der modernen Psychotherapie, als Sigmund Freund die Psychoanalyse entdeckte oder entwickelte, nervte es ihn ziemlich, dass seine Patientinnen ihn häufig mit ihrem Vater verwechselten. Er meinte, die Therapie könnte viel effektiver sein, wenn sich diese Verwechslung ausschalten ließe. Später vertrat er die genau gegenteilige Position: Diese „Übertragung“ (der Vater-Rolle auf den Therapeuten) sei so etwas wie der Motor der Therapie – und er glaubte sogar, man müsse sie fördern. Irgendwann würde, vereinfacht gesagt, der Patientin ein Licht aufgehen, sie würde begreifen (dass der Vater für alle Zeiten weg ist und sie sich selbst um ihre kindlichen Anteile kümmern darf und muss) und gewissermaßen schon halb geheilt sein. Tja, fast zu schön, um wahr zu werden.

Ich bin 60 Jahre alt. Viele „meiner“ Patientinnen sind deutlich jünger, da liegt die Übertragung der Vater-Rolle in der therapeutischen Situation nahe. Allerdings ist eine Übertragung nicht an derartige, scheinbar eindeutige Konstellationen gebunden: Ein Patient im Seniorenalter kann einer jungen Therapeutin die Mutterrolle übertragen. Nicht einmal die Geschlechtsrollen sind vorgegeben.

Die stärksten Übertragungen erlebe ich immer wieder bei Patientinnen mit ausgeprägten Essstörungen – und dabei habe ich manchmal den Eindruck, dass sie eine Mutterrolle auf mich übertragen (obwohl es in diesem Kontext durchaus auch intensive Vater-Übertragungen gibt). Was genau ich als Therapeut erlebe und für die Patientin empfinde, nennt die Tiefenpsychologie in Freuds Nachfolge die „Gegenübertragung“. Freud war der Ansicht, dass die Gegenübertragung eine Reaktion auf die Übertragung der Patientin sei – und forderte, dass der Therapeut auf keinen Fall auf das Beziehungsangebot der Patientin eingehen dürfe. Indem der Therapeut der kalte, undurchsichtige Spiegel bleibt, wächst die Übertragungsenergie und verstärkt sich das Bemühen der Patientin, ihn zum Vater zu machen – was irgendwie und irgendwann zum Durchbruch der Erkenntnis führen sollte.

Dumm nur, dass dies häufig so nicht funktionierte, schlimmer noch: auf genau diese Weise entstanden ganz viele Abhängigkeiten von Therapeuten (und vermutlich genoss zumindest ein Teil der vermeintlich korrekt handelnden Analytiker de facto die Vaterrolle mit der kindlichen Abhängigkeit der Patientin). Heute weiß man, dass die Gegenübertragung nie NUR eine Reaktion ist, sondern auch Aktion des Therapeuten, mag er noch so gut ausgebildet sein und seine Fälle in Supervision besprechen. Außerdem kann man z.B. gerade bei frühkindlich traumatisierten Patientinnen mit dem Anwachsen der Übertragung alles verschlimmern, sie sogar retraumatisieren. Nicht nur bei diesen Patientinnen sind Transparenz und Klarheit besonders wichtig; deshalb wird der Therapeut heutzutage nicht auf jenen Sankt-Nimmerleinstag warten, an dem die Patientin den Erkenntnisdurchbruch hat, sondern sie gleich in der Situation fragen: „Wie alt fühlen sie sich gerade? Woher kennen sie diese Situation? Was ist jetzt anders?“ Oder auch mit seiner Gegenübertragung konfrontieren: „Haben Sie eine Idee, warum ich mich gerade wie eine Mami fühle, die ihr Kleines nicht versorgen kann? Warum ich irgendwie auch ärgerlich werde?“

Die Erfahrung mit essgestörten Patientinnen ist noch unter einem anderen Aspekt aufschlussreich, denn hier geht es um Ernährung – und die Störung hat häufig mit Störungen der emotionalen Nährung (emotionalem Hunger, emotionaler Sättigung) zu tun.

Einerseits ist klar, dass ich als Therapeut gewissermaßen auf verlorenem Posten kämpfen würde, wenn ich versuchte, hier das zu ersetzen, was die Patientin als Kleinkind oder Mädchen nicht oder auch im Übermaß bekommen hat. Warum Übermaß? Manche essgestörte Patientinnen können nichts attraktiv daran finden, erwachsen zu werden; die Störung sowie die daraus resultierende krampfhafte Versorgung durch Mutter (oder seltener Vater) hält sie in der Kind-Rolle. Es ist zwar mehr oder weniger nur meine persönliche Wahrnehmung, also keine Statistik, aber unter essgestörten Patientinnen habe ich überproportional mehr solche erlebt, die ihre Mutter als die beste Freundin oder den Vater als den besten Freund bezeichnen und wo häufig, wenn auch nicht zwingend, eine doppelte Partnerverwechslung stattgefunden hat oder noch stattfindet.

Das Ziel von Therapie ist, dass Patienten noch mehr oder tatsächlich (psychisch) erwachsen werden und für ihre kindlichen Anteile selbst sorgen zu lernen. Wie soll diese Selbstfürsorge gelernt werden, wenn ich als Therapeut diese Funktion wieder abnehme? Diese Fehlsteuerung geschieht m.E. häufig in der klassischen, streng-kontrollierenden Therapie von Essstörungen. Dadurch wird die Regression (das Hineingleiten in ein kindliches Stadium), die Kehrseite der Übertragung, gefördert, egal ob sich das „Kind“ (die Patientin) brav oder trotzig verhält. Allerdings muss man auch sagen, ganz ohne kontrollierendes „Abtrainieren“ sind Essstörungen in vielen Fällen nicht in den Griff zu bekommen. Aber dazu muss es die Eigenmotivation der Patientin geben: erwachsen werden zu wollen. Therapie hat mit vielen Paradoxien zu tun und stellt oft eine Gratwanderung dar, gerade beim Umgang mit der Regression.

Andererseits würde sich heute kaum noch jemand an die strenge Version der Freudschen Abstinenzregel halten, die eben nicht nur besagt, dass der Therapeut keinesfalls eine Privatbeziehung zu der Patientin haben darf, sondern tatsächlich auch, dass er gar nichts, was wie persönliche Beziehung wirkt, unterhalten darf. Heute geht die Mehrheit der tiefenpsychologisch arbeitenden Therapeutinnen und Therapeuten davon aus, dass viele Patientinnen (nicht nur die mit Essstörungen) „nachgenährt“ werden müssen – und das dabei der Therapeut auch für eine Übergangszeit eine nährende Rolle haben kann oder muss. Die Therapie sollte eine ergänzende und korrigierende Beziehungserfahrung ermöglichen.

Das therapeutische Kunststück besteht dann darin, dass die Patientin sich am Ende der Therapie aus der Übertragung gelöst und befreit hat, selbst für sich sorgt, vielleicht indem sie am Modell des Therapeuten gelernt hat, wie es gehen könnte, und dies in entsprechende innere Instanzen integrieren konnte. Manchmal schreiben mir ehemalige Patientinnen, dass sie in schwierigen Situationen sich fragen: „Was würde Herr Wagner jetzt sagen oder machen?“ Ich möchte nicht behaupten, dass dies der Nachweis für einen Therapieerfolg ist (es könnte auch als Beleg für eine fortbestehende Übertragung gelten und da muss ich mich dann schon an die Abstinenzregel halten), aber es zeigt in welche Richtung die Therapie zielt: Selbständigkeit.

In der Gruppentherapie funktioniert Übertragung prinzipiell ähnlich wie in der Einzeltherapie. Es kann z.B. ein sehr intensives Ringen der Patientinnen darum geben, wer wie viel Zeit und Zuwendung von „Papi“ oder „Mami“ bekommt. Hier hat man als Therapeut den Vorteil, dass man sein Erleben mit dem der Co-Therapeutin oder der Praktikantin abgleichen kann. Oft lässt sich die Übertragungsenergie auch für den Gruppenprozess selbst nutzen, z.B. indem die Beziehung zwischen Patientin und Therapeut sogar die Gruppe validiert oder reflektiert wird. Apropos Reflexion: Auch verhaltenstherapeutisch oder systemisch arbeitende Kolleginnen und Kollegen verwenden nicht selten die (Reflexion der) Übertragung als Diagnoseinstrument. So kann es sein, dass in Therapeutenteams, die sogar überwiegend verhaltenstherapeutisch oder systemisch arbeiten, die Besprechung der Patientinnen tiefenpsychologisch fundiert ist oder wirkt.

„Wie geht es Dir in der Gegenübertragung?“ lautet eine klassische Frage in Teams oder Supervisionen. Der Patient überträgt dem Therapeuten ja nicht nur eine Rolle(nerwartung), sondern häufig auch intensive Gefühle. Hat sich beim Patienten z.B. viel unterdrückte Wut aufgestaut, die er nur als passive Aggression (überzogene Kritik, Herumstänkern, Abwerten, Schmollen …) herauslässt, kann möglicherweise der Therapeut die volle Wut empfinden. Es ist jedenfalls keineswegs nur schön, Adressat einer starken Übertragung zu sein. Auf der anderen Seite müssen Therapeuten aufpassen, nicht vorschnell berechtigte Kritik von Patienten dadurch abzuwehren, dass sie behaupten, es handle sich um Übertragungsphänomene. (So etwas nennt man eine Strategie zur Selbstimmunisierung, man könnte auch sagen, eine narzisstische Strategie von Therapeuten, um ihren Selbstwert zu erhalten: die Kränkung abzuwehren, die darin bestünde, Fehler zu machen und Kritik zu erhalten.)

Die Intensität von Übertragung und Gegenübertragung ist bisweilen schwer auszuhalten, etwa wenn uns Ohnmacht übertragen wird, umso wichtiger ist ein professionelles Umgehen damit, sonst reinszenieren sich Erfahrungen, die die Patientin schon sehr gut kennt: eine breite Palette von „ich kann sie doch noch nicht entlassen“ (siehe klassische Psychoanalyse), was zu unproduktiver Therapieausweitung führt, bis zu „ich will sie (oder die Verantwortung für sie) schnellstmöglich loswerden“, was zum Therapieabbruch durch Patientin oder Therapeut führen kann. Auch da würden wir heute, im Unterschied zu Freud, unbedingt transparent sein und die Reflexion als „Konfrontation“ anstoßen: „Einerseits würde ich sie gerne bis Weihnachten dabehalten, andererseits bin ich sicher, dass würde Ihnen eher schaden.“ Oder im anderen Fall: „Ich habe den Eindruck, sie provozieren regelrecht Ihren Rauswurf, das kennen Sie ja schon gut. Ich will Sie aber nicht verlieren.“

Zusammenfassend könnte man sagen, die Übertragung ist von drei- oder vierfachem Nutzen für den Patienten:

  • Sie verhilft ihm zu vermehrter Selbsterkenntnis.
  • Sie bietet ihm eine korrigierende Beziehungserfahrung mit elterlicher Autorität und Sorge (bzw. „Liebe“) an
  • Und damit eine neue Selbsterfahrung: ich bin kein kleines Kind mehr, ich gestalte meine Beziehungen.
  • Schließlich hilft sie ihm, die therapeutischen Fortschritte durch Verinnerlichung der therapeutischen Instanz zu integrieren und zu festigen.

Das Selbst und die Selbstwirksamkeit werden gestärkt.

Im Idealfall. Aber so einfach ist es nicht. Da fehlt das regelmäßige Einüben des erwachsenen Selbst in alltäglichen Situationen. Daher muss der Therapeut den Patienten auch motivieren, die Fortschritte im Umgang mit anderen Menschen im Alltag vielfach einzuüben, und sei es vorerst nur der Klinikalltag. D.h. die Übertragung mag ein Motor sein (genaugenommen sind Konflikte der Motor der Psychotherapie), aber der Patient muss lernen, sein Auto zu fahren, seine Autonomie zu leben, sein Leben zu gestalten.

Das „Unangemessene“, das S. Freud zunächst an der Übertragung störte, sollte uns immer bewusst sein: Die Übertragung trägt eine Chance, aber auch ein Risiko in sich. Ziel der Therapie ist das Wohl des Patienten, zunächst einmal seine/ihre Stabilisierung, dann seine Entwicklung, sein (Noch-mehr-)Erwachsenwerden. Hemmen wir dies oder fördern wir dies? Das ist bisweilen eine Gratwanderung.

Auch offensichtliche „Übertragungen“ im Leben des Patienten haben etwas, das wir als unangemessen erleben können: Wenn Partnerschaften z.B. wie Eltern-Kind-Beziehungen wirken. Dazu würde ich dreierlei anmerken wollen: Erstens interessieren wir uns in der Therapie in der Regel nicht für gesellschaftliche Normen, Normalität und Moral. (Außer für unsere eigene therapeutische Ethik: dass das Wohl des Patienten absolute Priorität haben muss.) D.h. eine Beziehung mag uns aus dem Alltagsbewusstsein heraus noch so abstrus vorkommen, sofern es beiden gut damit geht, müssen wir uns damit nicht zwingend beschäftigen. Zweitens, das hängt damit zusammen, lautet eine schöne Formel der systemischen Therapie „Versuch nicht etwas zu reparieren, was gar nicht kaputt ist!“ Drittens, allerdings, bei Menschen, die in der Therapie auftauchen oder im wahrsten Wortsinn dort schmerzhaft aufschlagen, ist häufig hinter der funktionierenden Fassade („mein Mann ist so lieb“, „meine Frau unterstützt mich zu 100 Prozent“) doch sehr vieles kaputt gegangen bzw. hat etwas aufgehört zu funktionieren, da hat sich das Unangemessene zur Pathologie entwickelt, etwa wenn die als Kind in der Partnerschaft lebende Frau sich gar nicht mehr vor die Tür traut ohne den Mann in der Vaterrolle – und mittlerweile auch der bisher diese Rolle genießende Mann das nicht mehr (aus-)halten kann.

PS. Zur „Übertragung“ im Alltagsleben: Es gibt in vielen Beziehungen psychologische Phänomene, die damit zumindest eng verwandt sind. Wenn ich mich für ein paar Momente dem Tagtraum hingebe, ich könnte doch meine Friseurin heiraten (die sich gerade so mütterlich-liebevoll um mich kümmert und mir durch die Haare fährt), ist das m.E. noch keine Übertragung, weil es weder besonders intensiv noch nachhaltig wirkt. Übertragung beinhaltet einen länger anhaltenden intensiven Prozess, keine unverbindliche Phantasie für Minuten. Erzählt mir eine Patientin, alle ihre drei Ehen seien daran gescheitert, dass sich der Mann relativ bald in ein großes Kind verwandelt habe, so würde ich etwas wie Übertragungsdynamik unterstellen – und dazu trägt die betreffende Patientin bei, denn so viel Zufall gibt’s nicht. (… selbst wenn das Sprichwort sagt: „Männer werden 7 Jahre alt. Danach wachsen sie nur noch.“) Alles, was sich unangemessen intensiv und anhaltend anfühlt und zum wiederholten Mal in einem Leben „passiert“, verrät etwas über die Psyche des Betreffenden. Ähnlich „verdächtig“ ist es, wenn ein Patient berichtet, er habe öfters die Arbeit gewechselt, aber bis auf einmal immer extremes Pech mit den Chefs erlebt. (Merke: „immer“ verweist auf Wiederholungen und „extrem“ auf eine unangemessene Intensität. Das sind schon starke Hinweise.) Vermutlich konnte in dem einen glücklichen Fall der Chef die Vaterrolle ausüben, die der Patient immer gesucht hat, in allen anderen Fällen war er eben nur ein Chef. Und bevor sich der Patient dann immer wieder an den Rand des Burnouts arbeitet, um sich väterliche Anerkennung (oder mütterliche Liebe) zu verdienen, sollte er vielleicht doch einmal in Therapie gehen.