Wie geht es Ihnen jetzt gerade? Was denken Sie, während Sie diese Zeilen lesen, was fühlen Sie, was nehmen Sie außerdem wahr? Sind Sie wirklich gerade jetzt hier? „Im Hier und Jetzt sein“, kennen Sie das? Können Sie das? Ich finde es verblüffend, welche Schnittmengen sich bei diesem Thema zwischen Selbsthilfe, Psychotherapie und Meditation bzw. Achtsamkeitstraining zeigen.
Wenn es uns schlecht geht, befinden wir uns oft im Würgegriff der Vergangenheit oder der Zukunft. Und dann kann sich, zumindest für ein paar Minuten, eine wunderbare Auszeit auftun, wenn es uns gelingt, uns auf das Hier und Jetzt zu fokussieren: „Was ist wirklich gerade jetzt?“
Wenn ich zum Beispiel nachts aus einem Alptraum aufwache und die negativen Gefühle sofort Assoziationen an Probleme des Tages herbeirufen, Versagensängste und Zukunftssorgen, aber auch Kummer, Wut und vielleicht Scham über das, was in der Vergangenheit schief gelaufen ist … und der nächtliche, für Glücksgefühle ziemlich ungünstige Hormonspiegel alles düster erscheinen lässt. Also genau dann: „Was ist gerade jetzt?“ Ich liege im Bett, es ist weich und warm, ich höre ganz vereinzelt Vogelgezwitscher, in der Ferne ein Auto, Lichtstreifen irgendwo im Zimmer, Geblubber oder Gemurmel (vielleicht die Heizung), ich spüre meinen Atem, ich spüre meine Füße, meinen Kopf aufliegen, meinen Rücken, eigentlich ist alles ziemlich friedlich, im Hier und Jetzt, ich werde ruhiger. Wenn unangenehme Gedanken oder Gefühle kommen, lasse ich sie zu, aber lenke meine Aufmerksamkeit wieder zum Hier und Jetzt. Manchmal beruhige ich mich dabei so sehr, dass ich friedlich wieder einschlafe. Oder ich entscheide mich aufzustehen und die friedliche Stimmung bewusst zu genießen, einen Tee zu trinken oder ein paar Zeilen zu schreiben.
Auch in der Therapie ist solche Selbstregulation Gold wert. Wenn uns Gefühle zu überwältigen drohen, kann der/die Therapeut/in die Selbstregulation ein- und anleiten: „Wo sind Sie gerade? Können Sie mich anschauen? Kommen Sie bitte mit dem Bewusstsein hierher, gerade jetzt in diesen Raum. Was nehmen Sie jetzt gerade wahr?“ Im Hier und Jetzt gibt es meist keine Probleme, die liegen in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Deshalb besteht ein Teil des Heilungsprozesses auch oft darin, das Pendeln oder Schaukeln zu lernen: aus der Vergangenheit (oder der Zukunft) wieder mit dem Wahrnehmen ins Hier und Jetzt zu kommen. Und es bedeutet natürlich auch, das Hier und Jetzt nicht nur punktuell zur Selbstregulation zu nutzen, sondern auch mehr und mehr genießen zu lernen: Meine Probleme mit gestern und morgen laufen nicht davon, ich kann dieses Stück Kuchen und die Tasse Kaffee oder einen Spaziergang mit anderen genießen.
Eine wesentliche Rolle spielt das Hier-und-Jetzt-Prinzip in der Gruppentherapie. Vielleicht denken Sie, es werde dort über die Probleme geredet, die man „draußen“ und „damals“ hat oder hatte (mit den Eltern, mit dem Partner usw.). Dass es stattdessen viel eher darum gehen könnte, wie ich mich hier und jetzt mit Mitpatienten fühle und verhalte, das würden viele zu Beginn der Therapie vermutlich bezweifeln. „Doch die Gruppe wäre zum Scheitern verurteilt“, wie Irvin D. Yalom schreibt, „wenn sie versuchen würde, das Problem des Patienten im Damals und Dort zu lösen, schon allein deshalb, weil sie ihre Informationen von einem mutlosen, frustrierten, einseitigen Beobachter erhält“, der über „dort“ und „damals“ feste Meinungen hat. Allerdings verhält sich der Patient in der Therapiegruppe sehr ähnlich wie in seinem sozialen Umfeld („draußen“), also ist das, was wir an Information und Aktivität für die Behandlung benötigen, in der Gruppeninteraktion schon vorhanden: Der Patient kann in der Gruppe lernen, Verzerrungen und Muster in seinen Beziehungen, Reflexionen und in seinem Kommunikationsverhalten zu erkennen und sogar ansatzweise zu beheben – wenn er bereit ist, das Hier und Jetzt in der Gruppe als bedeutend anzuerkennen.
Nicht zuletzt ist „Hier und Jetzt“ ein wesentliches Prinzip der Meditation und der daraus abgeleiteten Achtsamkeitspraxis. Achtsamkeit bedeutet nicht, einmal pro Tag oder pro Woche auf ein Meditationskissen zu sitzen, dabei an nichts zu denken und auf vielleicht Erleuchtung zu warten. Das regelmäßige Meditieren hilft sicher, Achtsamkeit zu entwickeln, aber die meditative Haltung muss dafür auch auf den Alltag angewendet werden. Ohne dieses Gewahrsein zu leben, schreibt der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh, ist so als wäre man tot: „Viele von uns leben wie Tote, wir werden ständig von der Vergangenheit eingeholt, wir lassen uns ständig von der Zukunft vereinnahmen.“
Das klingt wuchtig, aber in der Tat: Wie könnten wir Freude am Leben haben, solange wir uns einen Großteil der Zeit den Kopf zerbrechen über Dinge, die gestern geschehen sind oder morgen vielleicht geschehen könnten? Wir müssen uns selbst wieder „zum Leben erwecken“ – ins Hier und Jetzt kommen, man kann nur den Augenblick wirklich leben. Die vielbeschworenen Momente des „Flow“ (des tranceartigen Einklangs) entstehen nicht unbedingt, wenn wir mit dem Strom des Lebens schwimmen, sondern auch, wenn wir im Fluss des Lebens immer wieder stehen bleiben und innehalten. „Wer innehält, erhält Innen Halt.“ (Laotse)
Ein Anfang könnte sein, den Atem zu beobachten, gewissermaßen das Leben einzuatmen, oder mit vollem Bewusstsein bei einer ganz alltäglichen Tätigkeit verweilen. Es muss ja nicht achtsames Fegen oder Geschirrspülen sein, wie es in manchen Klöstern praktiziert wird. Oft wäre viel mehr Lebensqualität erfahrbar, wenn wir z.B. während des Essens mit dem Bewusstsein wirklich beim Essen sind. Kennen Sie die buddhistische Parabel vom Geheimnis der Zufriedenheit? Thich Nhat Hanh spricht vom Wunder der Achtsamkeit. Tatsächlich können wunderbare Erfahrungen wahr(genommen) werden, auch wenn sonst manches schief läuft in unserem Leben.
Tipp: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Im wissenschaftlich erforschten Achtsamkeitstraining geht man davon aus, dass wir für einige Wochen täglich mindestens 45 Minuten meditieren „müssen“ – plus etwa nochmal so viel Zeit, verteilt auf den Tag, fokussiert bei Alltagstätigkeiten verweilen, damit wir wirksam zur Selbstheilung beitragen. Meine Erfahrung ist, dass es auch mit weniger Einsatz wunderbare Auszeiten außerhalb des Hamsterrads gibt, die Appetit auf mehr machen. Lektüretipp: „Das Wunder der Achtsamkeit“ von Thich Nhat Hanh. Und falls Sie sich für Gruppentherapie interessieren: Irvin D. Yalom. Es gibt spannende Fachbücher zur Gruppentherapie von ihm, aber warum kompliziert, wenn es einfach geht?! Lesen Sie einen seiner Romane, passend wäre hier „Die Schopenhauer-Kur“.