Sch wie Schmerzmittel

Was wir über Medikamente wissen, haben wir erfahren, weil es die Pharmaindustrie so will. Sagt Peter C. Gøtzsche. Vielleicht mögen Sie spontan widersprechen: „Sie und ich und noch eine Menge Leute mehr misstrauen der Pharmaindustrie doch ganz gewaltig.“ Im Allgemeinen mag das stimmen, aber wenn es konkret wird, wenn wir ein medizinisches Problem haben oder es uns eingeredet wurde, dann möchten wir doch gerne glauben, dass das stimmt, was Marketing, Vertrieb und Export uns glauben machen wollen.

Das geht nicht nur Ihnen und mir so, sondern auch unseren Ärztinnen und Ärzten. Im Allgemeinen misstrauen sie ihren Fachzeitschriften, aber im konkreten Fall nehmen sie dann doch jeden neu erfundenen Grenzwert und jede als signifikant ausgegebene Arzneiwirkung für bare Münze. Das ist selbstverständlich nicht nur bei Schmerzmitteln so, aber hier sind die Folgen unserer gezielt genährten Ahnungslosigkeit bzw. was schlimmer ist, unseres Scheinwissens, besonders gravierend: Die gängigen Schmerzmittel sind die Ursache der meisten schwerwiegenden Arzneimittelkomplikationen in Deutschland. Viele Patient*innen nehmen dauerhaft größere Mengen ein, nicht selten auf eigene Faust oder weil der Hausarzt ein Auge zudrückt und unter Missachtung der Warnhinweise. Alles in allem führt der übliche Umgang mit Schmerzmitteln hierzulande geschätzt zu ca. 4000 Toten pro Jahr.

Falls Sie Peter C. Gøtzsche noch nicht kennen sollten, siehe Buch-Tipp am Ende. Im Kapitel „Geständnisse eines Insiders“ zeigt der Arzt und renommierte Wissenschaftler auf, wie gerade bei der Vermarktung von Schmerzmitteln – und Studien sind Teil dieses Marketings – jegliche  moralischen und rechtlichen Grenzen überschritten werden. Gøtzsche räumt dabei mit weit verbreiteten Mythen auf, die allenthalben für pure Wissenschaft gehalten werden und sich daher, nebenbei bemerkt, wie selbstverständlich bei Wikipedia finden, etwa dass Schmerzmittel vom Typ NSAR entzündungshemmend wirken oder dass die zweite Generation der NSAR irgendwie besser sei als die erste. (Über die Schmerzmittel-Skandale findet man zumindest unter den fachlichen Stichworten nichts, da sich niemand mit den Pharmariesen anlegen will.)

Brisant ist z.B. auch die Erkenntnis, dass höhere Dosen, anders als behauptet, keinesfalls automatisch stärker wirken als niedrigere – aber definitiv mehr Nebenwirkungen verursachen, und zwar nicht selten schwerwiegende. Als „besonders aggressiv und skrupellos“ bezeichnet Gøtzsche die Marketingstrategie der Firma Pfizer. Sollte Ihnen der Name bekannt vorkommen, ja, richtig, es handelt sich um die Firma, die gerade die Welt vor Corona rettet. „Pfizers Marketing war sehr erfolgreich und total verlogen.“ Geschwüre im Magen-Darm-Trakt mit Todesfolge beispielsweise, Pfizers wusste angeblich von nichts, obwohl es die Firma sehr wohl wusste. „Die Frage, ob eine ethische Firmenpolitik sich eher auszahlt als eine unethische, ist schnell beantwortet. Pfizer wurde der größte Pharmakonzern der Welt.“

Gøtzsche warnt uns davor, unseren Ärzten bezüglich Medikamente zu viel Vertrauen zu schenken. Ärzte hätten „sehr, sehr wenig Informationen über die Medikamente, die nicht von der Pharmaindustrie sorgfältig zusammengestellt und geschönt wurden“. Nur, bei den nicht-verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln ist die Situation keinesfalls besser! Da vertrauen die Patient*innen darauf, dass die Risiken und Nebenwirkungen gering sein müssen, weil die Medikamente verschreibungsfrei sind. Doch unsere Zulassungsbehörden schützen uns nicht konsequent vor der Einnahme von Giften, bestenfalls warnen sie uns davor, das ist aber etwas anderes.

„Nicht länger als drei Tage ohne ärztlichen Rat einnehmen.“ Man liest es, und manchmal hört man es auch in einer Apotheke. Doch die Realität sieht anders aus. Die z.T. tödlichen Risiken werden verdrängt, von Patienten sowie von der Pharmaindustrie und den Politikern. Um ein Signal zu setzen und Apothekenkunden auf das Nebenwirkungsrisiko hinzuweisen, wurden vor einigen Jahren – auf Antrag des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) – immerhin Großpackungen von Paracetamol unter Rezeptpflicht gestellt. Einen ähnlichen Antrag hatte das BfArM mehrmals für gängige nicht-steroidale Schmerzmittel (NSAR) wie ASS, Ibuprofen, Diclofenac und Naproxen gestellt. Doch getan hat sich in den vergangenen 15 Jahren nichts, die Politik hat sich an den Widerspruch der Pharmaindustrie gehalten, für eine solche Verschreibungspflicht fehlten die triftigen Gründe. Auch eine große Studie, die 2018 veröffentlicht wurde und zeigte, wie stark das Risiko für Herzinfarkt, Vorhofflimmern und Schlaganfall durch Diclo & Co steigen, änderte offenbar nichts am Fehlen der triftigen Gründe.

Diclofenac und Ibuprofen sind schon länger berüchtigt für das Risiko der Nierenschädigung, bekannt ist außerdem ihre schädigende Wirkung auf die Magen-Darm-Schleimhaut (weshalb oft „magenschützend“ Protonenpumpenhemmer als Begleitmedikation gegeben werden). Kurzum, bei Magenschleimhautentzündungen, Magen-Darm-Geschwüren, Blutgerinnungsstörungen, Herz- oder Nierenschwäche und Asthma sind ASS und NSAR ungeeignet.

Paracetamol böte sich als Alternative an. Experten halten es für verträglicher als die meisten NSAR (ASS, Ibu, Diclo). Es wird sogar für Kinder empfohlen. Andererseits ist es wegen häufiger Leberschädigungen gefürchtet. Zwar handelt es sich dabei in der Regel um Folgen von Überdosierungen. Teil des Problems ist jedoch vermutlich, dass Paracetamol – möglicherweise wegen seines harmlosen Images – oft nicht „bestimmungsgemäß“ gebraucht wird. Auch weisen einige Experten darauf hin, dass der Abstand zwischen wirksamer Dosis und schädlicher Überdosis gerade bei Paracetamol sehr gering sei.

Fazit: Schmerzmittel können zwar kurzfristig eine symptomatische Hilfe darstellen, aber sie helfen auf Dauer immer weniger und schaden immer mehr. Daher ist ein verantwortungsvoller Umgang mit diesen Medikamenten so wichtig:

  • Kennen Sie Ihre Laborwerte bezüglich Niere und Leber? Wie steht es um Ihre Herzgesundheit? Wie geht es Ihrem Magen? Diese und weitere Fragen sollten Sie mit Ihrem Arzt klären, bevor Sie Schmerzmittel einnehmen.
  • Auf keinen Fall sollten Sie zusätzlich zu bereits vom Arzt verordneten Medikamenten auf eigene Faust Schmerzmittel einnehmen.
  • Für die Behandlung chronischer Schmerzen sind die üblichen kurzwirksamen Schmerzmittel meist ungeeignet. Sie können im Gegenteil zur Chronifizierung beitragen.

Die gute Nachricht: Schmerzen haben viel mit Wahrnehmung zu tun. Positive Effekte stellen sich daher nach körperlichen Aktivitäten ein. Das mag kurios wirken, doch tatsächlich hilft Bewegung – ohne sportlichen Leistungsdruck – Körper, Seele, Geist und reduziert Schmerzen. Bewährt hat sich auch das Achtsamkeitstraining „MBSR“. Die Schulung der Wahrnehmung und Bewusstseinssteuerung führt nach einigen Wochen des Übens nachweislich zur Schmerzreduktion. Der Erfinder des MBSR Jon Kabat-Zinn hatte das Training ursprünglich für Schmerzpatienten entwickelt, bevor es seine Erfolge auch bei anderen Indikationen zeigte. 

Buch-Tipp (zur Kritik der hemmungslosen Vermarktung von Schmerzmitteln): Peter C. Gøtzsche: Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität. Wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert, riva, 2. Aufl. München 2020; hier v.a. das Kapitel „Geständnisse eines Insiders“

Hörbuch-Tipp (zur Selbsthilfe): Jon Kabat-Zinn: Schmerz. Meditationen zum Umgang mit chronischen Schmerzen, arbor, Freiburg 2013, sowie zahlreiche Bücher des Autors in diesem und anderen Verlagen