L wie Lebenskraft

Leider haben anschauliche Begriffe wie „Lebenskraft“ (und viele andere) in der modernen Medizin keinen Platz mehr. Das ist vor dem Hintergrund der Medizin als Teil der Naturwissenschaft verständlich, aber nichtsdestoweniger betrüblich für die Praxis (die ja nur zu gewissen, häufig überschätzten Teilen tatsächlich auf Wissenschaft beruht). Wenn jemand vor Lebenskraft nur so strotzt … dann erscheint uns das heute so beneidenswert wie unseren Vorfahren. Ich tröste mich und Patienten gelegentlich mich der Behauptung, die „Kränkler“ würden in vielen Fällen doch älter werden (denn sie achten deutlich mehr auf das Haushalten mit der Kraft). Das ist selbstverständlich nicht wissenschaftlich erwiesen, sondern beruht vor allem auf selektiver Wahrnehmung.

In der Naturheilkunde und in den traditionellen Medizinsystem rund um den Globus lebt die Lebenskraft noch. Die Begrifflichkeiten etwa der chinesischen Medizin (TCM) sind ganz und gar der alltäglichen Naturbetrachtung über Jahrtausende entlehnt. Die Antwort auf die Frage nach der Lebenskraft klingt daher recht bodenständig: Sie ist die Energie, die wir zum einen als Konstitution von unseren Eltern mitbekommen haben, auch als Ergebnis ihrer Lebensführung, und die wir zum andern täglich verbrauchen und wieder aufbauen müssen, in erster Linie durch Ernährung – und Atmung.

Ein kleiner Exkurs: Ich habe mich noch nie und nie mehr so „vital“, also voller Lebenskraft gefühlt, wie nach einem vierwöchigen Bolivienaufenthalt 2005 in 4000 m Höhe. Die Wirkungen des Höhentrainings auf unsere Fitness kann natürlich auch die moderne Biologie erklären, dennoch finde ich es schön, sich auf diese Weise die Bedeutung der Atmung für unser Energielevel zu merken.

Zurück zur Naturheilkunde: Vor rund 200 Jahren haben sich auch hierzulande bekannte Reformer der Medizin noch viele Gedanken um die Lebenskraft gemacht. Samuel Hahnemann (1755-1843), der Begründer der Homöopathie, fand allerdings keines der zeitgenössischen Konzepte überzeugend, und hat daraus die Konsequenz gezogen, die Lebenskraft gar nicht erst näher zu bestimmen, obwohl er Krankheit sehr wohl als „Verstimmung der Lebenskraft“ verstand – und dementsprechend davon ausging, dass eine passende Arznei erkennbar diese Verstimmung aufhebt. Sein Fazit dazu: Wir wissen nicht wirklich, was die Lebenskraft ist, aber wir können ihre Äußerungen beobachten und daraus ihre Funktionstüchtigkeit oder „Verstimmung“ ableiten. Die rechte Behandlung muss sich dadurch ausweisen, dass die Kräfte des Kranken während der homöopathischen Kur im Wesentlichen steigen (zeitweilige Verschlimmerungen können das Bild trüben).

Ein bedeutender Zeitgenosse Christoph W. Hufeland (1762-1836), Leibarzt des Königs von Preußen, stand noch viel mehr auf dem Boden der seit Hippokrates in verschiedenen Varianten tradierten „Humoralmedizin“ (die Lehre von den Körpersäften und ihrer Balance). Von da ausgehend hat er sich ebenfalls mit der Lebenskraft beschäftigt – und war überzeugt, dass Diätetik, also gesunde Lebensführung, das Maß aller Dinge in Sachen Lebensalter ist, er nannte sie daher „Makrobiotik“: die Kunst, das Leben zu verlängern. Die Dauer des Lebens hänge von der Lebenskraft ab, die einer hat, aber auch von der Intensität, mit der er sie verbraucht – und nicht zuletzt von der Ersetzung des Verlorenen, um den Verbrauch einigermaßen auszugleichen.  Nach Hufeland hat der Mensch im Wesentlichen auf die letzten beiden Faktoren Einfluss: Er kann zurückhaltend beim Verbrauch der Lebenskraft sein – „das wichtigste Verlängerungsmittel des Lebens“ – und er kann einiges dafür tun, sie zu regenerieren. Die Natur gibt uns die beste Anleitung für die Schonung der Lebenskraft, wie sich exemplarisch am Schlaf zeigt: „in dieser Pause liegt das größte Mittel zur Verlängerung“ des Lebens. Nichts vermag uns so schnell aufzureiben und letztlich zu zerstören wie andauernde Schlaflosigkeit. Das ist eigentlich topaktuell.

Für viele moderne Naturmediziner ist 120 Jahre ein „realistisches Maß“ der Lebensdauer. Sicher sind die Menschen gut zu verstehen, die darauf sagen: „Ich will ja gar nicht so alt werden, dafür lieber intensiver leben …“ Aber interessant wäre es ja schon, alt werden und vital zu sein. Gestützt auf zahlreiche Quellen hat Hufeland viele Beispiele von hohem Alter gesammelt. Er schließt daraus, dass bei optimaler Lebensweise eine Lebensdauer von 200 Jahren möglich, jedoch zumindest 150–160 Jahre realistisch sind. Aus heutiger Sicht erscheint zwar manches davon übertrieben oder spekulativ. Fakt ist jedoch, dass es zu allen Zeiten alte und sehr alte Menschen gab – ganz ohne die Hilfe der Mediziner. Und aus ihrer Lebensweise lassen sich gewisse Lebensregeln gewinnen. Bei den Beispielen von höchstem Alter ist Hufeland oft eine Art von Fasten aufgefallen („aufhören zu essen, obwohl man noch könnte“), die meisten haben sich an eine pflanzliche Kost gehalten und insbesondere den Branntwein gemieden. „Das Resultat aller Erfahrung und ein Hauptgrund der Makrobiotik ist: In einer gewissen Mittelmäßigkeit liegt das größte Geheimnis, um alt zu werden.“

Nicht ganz so bekannt ist, dass auch Hahnemann seinen Patienten reichlich und strenge diätetische Vorschriften gemacht hat. Kritiker der Homöopathie behaupten immer wieder, seine großen Heilungserfolge ließen sich eher darauf als auf die verabreichten Globuli zurückführen. Der Ansicht bin ich zwar nicht, aber wie wichtig die Diätetik in der Homöopathie ist, wird daraus ersichtlich, dass Hahnemann in den „Chronischen Krankheiten“ mehrfach betont, dass auch das bestgewählte Mittel (Similimum) nicht helfen kann, solange der Quell des Übels noch sprudelt. Etwas moderner formuliert hieße dies, es gibt kein richtiges homöopathisches Mittel für das falsche Leben (also die Untergrabung der Lebenskraft). Mit solchen Aussagen würde man natürlich heutzutage die Praxen schnell leer predigen …

PS. Ob Leben mehr ist als die Summe von biologischen Bauteilen plus ihre nach naturwissenschaftlichen Gesetzen ablaufenden „Mechanik“, darum haben sich früher auch die Philosophen gestritten. Falls Sie sich für diese solche, durch die moderne Naturwissenschaft ad acta gelegten „Weltanschauungen“ interessieren, finden Sie u.a. bei Wikipedia unter Vitalismus Lektürehinweise.

Hinweis: Mein Buch „Die Lebenskraft stärken. Makrobiotik“ (2015) ist nach wie vor für ca. 15 Euro lieferbar beim Makrobiotik-Versand. (Das Buch handelt überwiegend von Ernährung.)