L wie Low Carb

Das Thema habe ich unterschätzt. Zum einen, weil die von der Tendenz her ähnlichen Vorläuferdiäten (Atkins, Logi, Steinzeit) mehr oder weniger schnell wieder aus der Mode und teilweise sogar in Verruf kamen. Zum andern, weil es einfach nicht zu meiner eigenen Lebenserfahrung gepasst hat und mir von daher die unplausiblen Anteile der Lehre sofort ins Auge fielen. Ich habe jahrelang eine Ernährungsform praktiziert, die auf gegenteilige Weise extrem erscheint: High Carb (viele Kohlenhydrate) könnte man es nennen, wäre aber verkehrt, so wie auch Low Carb (wenig Kohlenhydrate) eigentlich eine irreführende Bezeichnung ist. Ich habe Makrobiotik praktiziert. Der Erfinder George Ohsawa, der diese Kost auf der Basis traditioneller japanischer Ernährung entwickelt hat, war der Meinung: Die höchste Form der Ernährung besteht darin, nur von gekochtem Reis zu leben! Unter seinen Nachfolgern hat die Makrobiotik zwar deutliche Modifikationen erfahren, ein hoher Anteil an gekochtem Getreide ist allerdings geblieben. Vom makrobiotischen Standpunkt aus betrachtet ließe sich sagen: Die pauschale Verteufelung von „Kohlenhydraten“ ist irreführend, denn Vollgetreide kombiniert mit Gemüse hat wesentlich geringere Wirkungen auf den Insulinspiegel als etwa Kartoffeln, Weißbrot oder gar Zucker! Aber schauen wir mal ein bisschen genauer hin.

Ohne Zweifel lassen Zucker und andere isolierte Kohlenhydrate (Weißmehl, Stärke) den Blutzucker schnell ansteigen, was zu einem Insulinschub und später zu einem reaktivem Blutzuckerabfall und neuem Heißhunger führt. Der Körper wird auf Gewichtszunahme geradezu programmiert! Das wusste allerdings auch die alte „Vollwertlehre“. Warum folgt man also nicht ihren Ratschlägen und verzichtet auf diese Lebensmittel oder reduziert ihren Verzehr drastisch? Stattdessen werden bei Low Carb auch komplexe Kohlenhydrate und Lebensmittel mit hohem Anteil an Ballaststoffen (Vollkorn, Hülsenfrüchte), die eine solche Blutzucker-Schaukeltour verhindern oder zumindest deutlich abschwächen, in die Negativschublade „Kohlenhydrate“ gesteckt. Um es mal etwas philosophisch zu sagen: Auf der Methode der falschen Verallgemeinerung von Teilwahrheiten beruhen fast alle Irrlehren.

Low Carb kann beim Abnehmen helfen, und das ist durchaus plausibel: Da Eiweiß und Fett, also der Großteil der Low-Carb-Kost, anders als Kohlenhydrate, den Insulinspiegel nicht beeinflussen, lassen sich Appetit und Hungergefühle eher zügeln. Dafür muss man auf Kartoffeln verzichten (die auch in der Makrobiotik tabu sind), und Nudeln, Brot, gekochtes Getreide, Müsli, Hülsenfrüchte sollten nur sehr wenig (bis maximal 150 g pro Tag) aufgenommen werden. Eine solche Ernährung kann man in diesem vorgegebenen Rahmen mehr oder weniger gesund gestalten, z.B. mit höheren pflanzlichen Anteilen. Außerdem sorgt je nach individuellem Stoffwechseltyp eine eiweißreiche Nahrung für ein schnelleres und besseres Sättigungsgefühl. In jedem Fall ist eine solche Strategie den medikamentösen Appetitzüglern, Schlankheitspillen und angeblichen Fatburnern – ein eigenes Thema – deutlich vorzuziehen! Allerdings, für eine erfolgreiche Gewichtsreduktion muss auch bei Low Carb die Kalorienmenge unter dem Kalorienverbrauch liegen, d.h. die ziemlich einseitige Ernährung allein ist eine Hilfe, vollbringt aber keine Wunder.  

Ebenso plausibel ist auch, und da kommen die größeren Nachteile ins Spiel: Eine eiweißbetonte Kost, die vor allem auf tierisches Eiweiß setzt, beschleunigt Arteriosklerose und erhöht das Risiko das Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten und entsprechende „Ereignisse“ (Herzinfarkt und Schlagfanfall) – und für Krebs! Insbesondere ein hoher Verzehr an rotem Fleisch (inklusive Wurst) ist wissenschaftlich schon lange eine der größeren Risikofaktoren für Krebs. Außerdem führt ein Zuviel an Eiweiß und Arachidonsäure (tierischer Omega-6-Säure) zu verstärkter Rheuma- und Gichtneigung und einer Reihe anderer chronischer Krankheiten. Bei Fisch ist das wegen Omega 3 bekanntlich anders, eine entsprechende Variante von Low Carb wäre schon gesünder.

Das Problem der großen Mehrheit der Verbraucher besteht nicht nur in der „Kohlenhydratmast“ – obwohl wir durch Weißmehlprodukte, Zucker und nicht zu vergessen Softdrinks a la Cola & Co ein Riesenthema haben! Doch ebenso problematisch ist die, oft parallel bestehende, „Eiweißmast“ und bei vielen Konsumenten zusätzlich eine hohe Aufnahme minderwertiger tierischer Fette.

Das Problem bei fast allem ist der Überfluss: Die Mehrheit konsumiert heute rund fünfmal so viel tierisches Eiweiß wie vor 150 Jahren – die Nicht-Vegetarier verzehren pro Jahr rund 65 Kilo Fleisch und Wurst – und, nicht weniger dramatisch, fast 20-mal so viel Zucker! Aus dem Sonntagsbraten wurde Alltagskost und die Sonntagstorte ist vielfach alltägliche Begleitung zum Nachmittagskaffee, nicht zu vergessen Getränke wie Cola oder auch, bei etwas mehr gesundheitsbewussten Konsumenten, der hohe Konsum an Fruchtsäften: Mit 1 Liter Apfelsaftschorle haben Sie schon ca. 50 g Zucker aufgenommen, da wäre ein Apfel besser gewesen. Deshalb wäre die pauschale Verteuflung von Obst wegen des Kohlenhydratanteils falsch: So viele Äpfel isst kaum jemand.

Übrigens habe ich es mehrfach erlebt, dass sich zeitweilige Anhänger von Low Carb sehr inkonsequent an die Lehre halten: Sie meiden zwar Brot, Pizza, Nudeln und auch Vollgetreide, naschen aber durchaus Süßes (also einfache Kohlenhydrate) oder trinken gar Alkohol, was das Abnehmen, für viele das Hauptmotiv der Diät, nicht eben erleichtert. Das führt dann dazu, dass die Betreffenden später sagen: „Habe ich auch schon versucht, bringt nichts!“ Dafür kann dann wiederum Low Carb nichts.

Die Entstehung von Übergewicht geht meist auf mehrere Faktoren zurück, manchmal ist dies noch relativ einfach zu erkennen, wenn sich z.B. die Arbeits- und Lebensweise in Richtung weniger Energieverbrauch geändert haben (vom Handwerkerjob ins Büro gewechselt, vom Sportler zum Couchpotatoe verwandelt), aber die kalorienreiche Ernährung inklusive Alkoholkonsum beibehalten wurde. Die Energiebilanz ist immer mitentscheidend, das versuchen viele Diät-Vermarkter zu verheimlichen, so als gäbe es einen Zaubertrick für Bequeme.

Häufig und gerade bei starkem Übergewicht sind jedoch auch psychische Faktoren beteiligt. Daher sollte die Gewichtsreduktion auf verschiedenen Säulen ruhen. Eine isolierte Diät führt dagegen nicht selten zu Jojo-Effekten: Was schnell runter ging, kommt umso schneller wieder drauf. Schlecht für die nachhaltige Wirkung einer Diät ist insbesondere, wenn sie gar nicht als Dauerernährung geeignet ist – und genau das trifft auf Low Carb zu. Da viele Betroffenen ohnehin Risikopatienten für Herz-Kreislauf- und auch rheumatische Gelenkerkrankungen sind, muss von dauerhaft hohem Eiweißverzehr abgeraten werden. Bleibt also die Frage, wann und wie die Diät abgesetzt und eine nachhaltig gesunde Ernährung eingeführt wird und ob es nicht besser wäre, von vorneherein mit einer Diät zu beginnen, die sich in wesentlichen Teilen in eine Alltagskost überführen lässt: z.B. Basenfasten (hier allerdings oft mit Kartoffeln) oder durchaus auch die makrobiotische Basisdiät mit Reis und Gemüse.

Ich rate übrigens eher selten von Diäten ab, es sei denn, sie bestehen aus Pulvern und Konserven oder der bzw. die Betreffende hat schon „zig“ Diäten hinter sich. Eine Diät kann das eigene Ernährungsbewusstsein erweitern und vertiefen, sie bietet eine Chance, sich bewusst mit Ernährung auseinanderzusetzen und – manchmal auch auf lehrreichen Umwegen – in eine nachhaltig gesunde Ernährung einzusteigen. Allemal besser als Döner, Chips und Cola.

Hinweis: Mein Buch „Die Lebenskraft stärken. Makrobiotik“ (2015) ist nach wie vor für ca. 15 Euro lieferbar beim Makrobiotik-Versand.