Medikamente sind in Ländern mit hohem Arzneimittelverbrauch die dritthäufigste Todesursache (nach Herzkrankheiten und Krebs). „Würde eine neue Bakterie oder ein Virus eine derart gefährliche Epidemie oder auch nur ein Hundertstel davon verursachen, würden wir alles in unserer Macht Stehende tun, um die Erreger zu bekämpfen.“
Das schrieb Peter C Gøtzsche, Arzt und Forscher, Professor für Studiendesign und jahrzehntelanger Kenner der Branche, im Jahr 2013. Heute wissen wir, wie Recht er hatte: Wir bekämpfen ein Virus, als würde der Weltuntergang drohen, wir feiern bereits Gedenktage für Coronatote – dabei sterben in hochentwickelten Industrieländern viel mehr Menschen an anderen Ursachen, z.B. an Nebenwirkungen von Arzneien, von Medikamenten, die die Pharmaindustrie uns als großartige Innovationen und Wohltat für die Menschheit verkauft hat. (Interessiert Sie das Thema? Dieser Blog hier ist eine Fortsetzung von P wie Pharma.)
Rheuma-, Diabetes-, Migränemittel, Blutdruck- und Blutfettsenker, Hormone – ich habe in den vergangenen 25 Jahren manches kommen und gehen sehen. Sobald der Patentschutz abläuft oder Nachfolgerpräparate auf dem Markt sind, tut plötzlich alle Welt, also die wohlinformierte Fachwelt so, als habe man es ja schon länger gewusst, dass die einstigen Wundermittel doch nicht so toll sind. Professoren, die vorher noch die Nicht-Verordnung jener von ihnen beworbenen Medikamente als ärztlichen Kunstfehler anprangerten, erwähnen diese bisweilen nicht einmal mehr.
Wenn von neuartigen Arzneien oder Medikamenten der zweiten oder gar dritten Generation die Rede ist, sollte unsere Alarmanlage anspringen. Bei vielen Indikationen sind die alten Mittel im Nutzen-Risiko-Profil günstiger, ganz zu schweigen von den immensen Kosten der „neuartigen“ Medikamente. Das ist das Perfide an dem System: Da die Patient*innen die Kosten nicht direkt tragen müssen, lassen Sie sich leicht für eine neue und neuste Therapie gewinnen, in der Annahme, es handele sich auch um die beste.
Teure Medizin führt manchmal zu guten Plazeboeffekten (und Nebenwirkungen können diese Effekte absurderweise sogar verstärken). Dagegen sind echte Fortschritte in der medikamentösen Therapie laut Gøtzsche „sehr selten“. 2009 wurden 109 neue Medikamente oder Indikationen untersucht: Die ganz große Mehrheit brachte gar nichts Neues, außer dass 19 von ihnen als riskant eingestuft wurden, lediglich 3 konnten immerhin als „kleine therapeutische Durchbrüche“ bewertet werden. Im gleichen Jahr entschied die dänische Gesundheitsbehörde, dass Triptane, eine großartig beworbene Innovation der 1990er Jahre, die fast 20 Jahre viel Geld von Steuerzahlern oder Kassenangehörigen für die Behandlung der Migräne gefressen hatte (und das nicht nur in Dänemark), nicht wirksamer sei als Aspirin.
Einer der großen Haken an neuen Medikamenten ist oft, dass die Nebenwirkungen vertuscht werden, bis sie nicht mehr zu verheimlichen sind – nicht selten, bis es „genug“ Leichen gegeben hat. Bei mehr als der Hälfte der Medikamente musste nach Markteinführung der Beipackzettel geändert werden, weil ernsthafte Risiken peu a peu bekannt wurden. Nun gibt es Firmen- wie Behördenvertreter, die dazu sagen: „Na, bitte – das System funktioniert doch.“ Viele Arzneimittel sind allerdings richtig gefährlich und die Hersteller wissen es frühzeitig und überlassen es dem Zufall, wann genug schwere Schäden oder gar Todesfälle im Zusammenhang mit der Einnahme gemeldet werden. Und auch dann wird oft eben nur der Beipackzettel geändert!
Wie können wir uns schützen? Wir sollten uns zunächst fragen, ob wir überhaupt krank sind, ob wir also ein Medikament brauchen, oder ob uns jemand eine Scheindiagnose, eine erfundene Krankheit untergejubelt hat.
Ein aktuelles Beispiel: Nach den Statinen, den vorletzten neuartigen Cholesterinsenkern kommt jetzt wieder eine neue Generation von Lipidsenkern auf den Markt und wird aggressiv beworben. Man folgt dabei „einer in Leitlinien seit Jahren propagierten LDL-Senkung auf konkrete, immer niedrigere Zielwerte – eine Strategie, für die hinreichende Nutzenbelege fehlen“, so das pharmakritische „arznei-telegramm“.
Falls Sie zu den Betroffenen gehören, fragen Sie sich vielleicht, warum ihr Haus- oder Facharzt diese Strategie verfolgt, und ihre LDL-Werte noch weiter verbessern will, obwohl die Nutzenbelege fehlen? Vielleicht weil er (oder sie) Vertreterbesuche zulässt, weil er auf einer vom Hersteller finanzierten Fortbildung war (die meisten Fortbildungen zahlen Firmen) oder gar selbst als „Multiplikator“ gegen Honorar tätig ist. Oder einfach nur, weil er längst die „Strategie“ der Pharmaindustrie verinnerlicht hat, dass Laborkosmetik, also die Senkung von Laborwerten (bzw. wie es in Studien meist heißt, die Verbesserung sog. Surrogatmarker) „irgendwie“ automatisch auch das Leben verlängert? Mitnichten! Es ist wunderschön, wenn man dem Patienten, dem man eine Art Krankheit eingeredet hat, anhand von Laborwerten zeigen kann, was man für ihn leistet, so lange er nicht erfährt, dass dies nichts an seiner Prognose geändert hat.
Die Pharmaindustrie weiß, wie man selbst minimale und für die Prognose irrelevante Effekte als „signifikant“ vermarktet. Manche Schlankheitspille führt laut Studienergebnissen dazu, dass die Patienten im Studienverlauf z.B. 3 kg abnahmen – nicht gerade ein Riesenerfolg, wenn man 100 kg wiegt und wenn die 3 kg hinterher schnell wieder zugenommen wurden. Als „Alternative“ galt bisher die längere Einnahme des Präparats: Diese Alternative war vielfach tödlich. Wie skrupellos die Pharmafirmen vorgehen, zeigt sich gerade bei vielen Schlankheitspillen, die nie hätten zugelassen werden dürfen und zahlreiche Menschen das Leben gekostet haben. Was sagt die Industrie dazu: Die heutigen Mittel sind besser, sozusagen „neuartig“. Für Peter C. Gøtzsche bedeutet „neuartig“ oft nur, dass das Marketing immer geschickter operiert und „dass Arzneimittelbehörden sich weigern, aus der Geschichte zu lernen.“
Wussten Sie, dass die Psychiatrie ist „das Paradies der Pharmaindustrie“ ist? Die pharmafreundliche Umgestaltung des diagnostischen Handbuchs DSM allein von der dritten zur vierten Auflage hat zu regelrechten Epidemien mit Krankheiten geführt, die zuvor kaum bekannt waren: ADHS, Autismus und bipolare Störung – bei Kindern! Ein Zyniker würde sagen: Vorsorge fängt man halt am besten im Kindesalter an. Seit 2013 gibt es die fünfte Auflage des DSM. Demnach reicht es schon, dass man länger als zwei Wochen schlecht drauf ist und Einschlafprobleme hat, um die Diagnose Depression verpasst und Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) verordnet zu bekommen. Auch das prämenstruelle Syndrom (PMS) von Frauen wurde zur Krankheit erhoben und wird mit Antidepressiva behandelt, die die Patientinnen teilweise abhängig machen. Wer solche Diagnostik und Therapie durchleuchtet, versteht allmählich, „warum die Zahl der Depressiven seit der Zeit, in der es noch keine Antidepressiva gab, um das Tausendfache gestiegen ist“. Glauben Sie wirklich, dass wir mental derart viel schlechter drauf sind als unsere unmittelbaren Vorfahren?
Sorry, ich wollte ja eigentlich schreiben, wie wir uns schützen können. Kann ich Ratschläge geben? Vielleicht zunächst einmal den: Nichts glauben, was die Pharmaindustrie behauptet. „Die meisten Medikamente haben keinerlei positive Wirkungen“. (Gøtzsche) Vielleicht ist diese These ein bisschen übertrieben, aber sie schont Ihre Gesundheit. Schon aus diesem Grund sind manchmal stockkonservative Schulmediziner die größten Naturheilkundler, auch wenn sie weder Heilpflanzen noch Homöopathika noch Vitamine verordnen: Sie rezeptieren einfach so wenig wie möglich, weil das Nicht-Schaden schon den größten Nutzen hat!
Das Gegenteil davon sind moderne geschäftstüchtige Mediziner, die sehr gerne auch mit dem Begriff Ganzheitsmedizin werben, worunter sie allerdings oft nur „Vorsorgeuntersuchungen“ verstehen. Das Suffix „Prä“ für „Vor“ sollte Sie allerdings VOR-sichtig machen: Prä-Hypertonie, Prä-Diabetes, Prä-Kanzerose usw. Sie fühlen sich vielleicht topfit und werden gerade zum Kranken erklärt und möglicherweise im nächsten Schritt zur Einnahme gefährlicher Medikamente überredet.
Leben Sie gut und gesund, treiben Sie Sport, ernähren Sie sich gesund, verzichten Sie auf Softdrinks (Cola & Co), hören Sie mit dem Trinken auf, sorgen Sie für Entspannung und ausreichend Schlaf, schalten Sie die Glotze ab – alles super, solange dies als Prävention bezeichnet wird! Doch wenn der Rezeptblock gezückt wird, sollten Sie schon in den Turnschuhen stecken. Nehmen Sie kein Medikament, das sie nicht zwingend benötigen.
Ich bin seit meiner Zeit als Politikredakteur ein großer Fan des Hausarztmodells: dein bester Freund und Lotse. Wenn Sie einen Hausarzt bzw. eine Hausärztin Ihres Vertrauens haben, schätzen Sie sich glücklich! Fragen Sie ihn (sie) auch zu fachärztlichen Verordnungen. Holen Sie sich eine Zweitmeinung und konfrontieren Sie Ärzte im Zweifel mit kritischen Informationen aus dem Internet, haben Sie dabei keine Angst zu „nerven“: z.B. wie viele Patienten behandelt werden müssen, damit ein einziger profitiert oder wie deutlich sich die Prognose durch die Einnahme des Mittels konkret verbessert. Ein guter Arzt (Ärztin) erklärt es Ihnen gerne! Fragen Sie den verordnenden Arzt bzw. die Ärztin, wenn Sie weiter Zweifel haben, z.B. auch, ob er/sie das Medikament selbst nehmen würde, wenn er in Ihrer Situation wäre – oder ob er es seiner Mutter, seiner Frau, seiner Tochter oder seinem Bruder verordnen würde.
Wenn Ihnen Ihr Arzt etwas ganz Neues vorschlägt, fragen Sie hin, wann und wo und von wem er zuerst von dieser neuen „Leitlinie“ (siehe oben Cholesterin) gehört oder gelesen hat. Oft wäre die Antwort einfach: von einem Pharmavertreter oder auf einer Pharmafortbildung. Die neue Heilsbotschaft muss deshalb zwar nicht ganz frei erfunden oder durch „Datenmassage“ zu angeblichen Fakten gemacht worden sein, die Wahrscheinlichkeit dafür ist allerdings relativ hoch.
Nehmen Sie, falls möglich, kein Medikament, das nicht mindestens zehn Jahre zugelassen ist. Bei neuen Medikamenten, das lehrt die Geschichte wieder und wieder, holt die Pharmaindustrie im wahrsten Sinne des Wortes nicht selten das Blaue vom Himmel in Bezug auf angebliche Vorteile und macht solange Reibach, bis die Patient*innen genug Blutzoll gezahlt haben und die Behörden einschreiten MÜSSEN. De facto haben sich alte Medikamente, deren Patentschutz abgelaufen ist, in der Mehrzahl der Indikationen viel eher bewährt. Und Lügen bezüglich neuer Medikamente haben manchmal doch ein Verfallsdatum.
Haben Sie den Mut, als unmodern oder konservativ in Bezug auf Innovationen zu gelten. Sie könnten im Ausgleich dafür ja politisch progressiv und zukunftsfähig denken 🙂
PS. Es kann sehr riskant sein und wird hier ausdrücklich nicht empfohlen, verordnete und evtl. lebenswichtige Medikamente (z.B. Blutdrucksenker) oder auch Medikamente mit Abhängigkeitspotenzial (z.B. Antipsychotika) eigenmächtig und ohne Rücksprache mit dem Arzt oder Heilpraktiker abzusetzen. Weitere Haftungsausschlüsse finden Sie im Impressum, ich möchte weiter meine Praxis und diese Webseite betreiben dürfen.
Buch-Tipp: Peter C. Gøtzsche, Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität. Wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert, riva, 2. Aufl. München 2020