T wie Tagebuch

„Das wenige, was ich lese, schreibe ich selbst.“ So, wie es zitiert wird, hat es Karl Kraus wohl gar nicht gesagt. Schön ist es trotzdem. Wie wäre das denn – ein Buch von mir und nur für mich? Um meinen Lebensweg besser zu verstehen und neu zu entdecken. Auch eine ständige Erinnerung daran sein, was ich mir selbst wert bin und was mir das Leben bedeutet. In diesem Sinne ein „therapeutisches“ Tagebuch.

Ein Buch für Alpträume und Wunschträume, für schlaflose Nächte genauso wie helllichte Tage, immer wenn der Leidensdruck oder das Bedürfnis zu schreiben groß genug sind – und das heißt auch: sicher nicht jeden Tag, dafür an manchen Tagen mehrfach. Hierin werden Ängste, Grübeleien und Phantasien festgehalten, auch um sie, so paradox das klingt, damit für eine Zeit etwas mehr loslassen zu können, sozusagen ein Tresor für Probleme, Sehnsüchte und Herausforderungen. Schreiben kann beruhigen, es ist ein gutes Antidepressivum, z.B. auch ein Begleiter für die Zeit zwischen zwei Therapiestunden. Und nicht zuletzt: ein Geheimnishüter! Ja, solch ein Beitrag zur Selbstheilung und zum Selbstcoaching kann m.E. am besten gelingen, wenn das Buch als ein geheimes Forum des unzensierten Denkens funktioniert:

  • Wirre und wilde Ideen, Skizzen, Kritzeleien und Gedichte,
  • Ängste und Sorgen, Ärgernisse und Wut auf den Punkt bringen, auch mal übers Ziel hinausschießen mit krassen Thesen und vielleicht Pamphleten,
  • konkrete Notizen zu bewegenden Erlebnissen des Tages: Erinnerungen an Tiefpunkte und Höhepunkte,
  • festhalten, vor was ich zurückscheue und wofür ich mich schäme,
  • unverbindliche Gedankenspiele: was wäre anders, wenn es anders wäre?!
  • ganz konkrete Pläne,
  • eingeklebte Zitate und Bilder,
  • Dankbarkeit für die schönen und achtsamen Momente,
  • stärkende Aphorismen, gefundene oder erfundene Liedtexte,
  • Listen von eigenen Ressourcen und Kapazitäten,
  • Pro- und Contra-Gegenüberstellungen,
  • Seiten für Realismus und
  • Seiten für Träumereien,
  • „Bilanzen“, was ich schon erreicht habe und was ich noch vorhabe,
  • welche Optionen ich habe,
  • nicht zuletzt auch Feedback und Ermutigungen von Freunden und Kollegen

Manches wirkt vielleicht übertrieben, und das macht es gerade aus: Nicht alles weichkochen und zensieren. Keine Rechenschaftsberichte oder Memoiren!

Was gibt es noch für Tipps? Schreiben als alleinige Methode wäre sicher nicht der Königsweg von Selbstheilung oder Selbstcoaching: Da es eine sehr kopflastige Tätigkeit ist, besteht die Chance, dass wir etwas gut sortieren oder reflektieren, aber immer auch die Gefahr, dass wir viel zu viel und zu schnell sortieren und zensieren, zu früh eine Ordnung hineinbringen. Aus diesem Grund versuchen Therapeuten in der Regel, den Klienten das Schreiben z.B. während der Therapiestunde („um sich wichtige Sachen zu merken“) auszureden, um mehr ins Fühlen zu kommen. Hier wäre der Tipp: öfters einfach drauflos schreiben, was kommt, auch wenn es wie kompletter Unsinn wirkt.

Die kognitiven Hindernisse für ein therapeutisches Tagebuch kann man noch erhöhen, indem man z.B. den Anspruch hegt, das Büchlein müsste irgendwie schön oder ansprechend sein. Ganz und gar nicht! Obwohl es immer wieder einzelne schöne, vielleicht sogar richtig künstlerische Seiten geben wird, empfehle ich Menschen, die zu Perfektionismus und Ästhetizismus neigen, gleich zu Beginn ein paar Seiten herauszureißen und andere zu knicken, Seiten auf dem Kopf zu beginnen und quer über einige Seiten zu kritzeln.

Für besonders kontraproduktiv halte ich es, das Tagebuch für Lebenspartner zu führen, z.B. begleitend zur stationären Therapie: „Ich gebe es ihm hinterher zu lesen, damit er mich besser versteht.“ Nach meiner Erfahrung führt das dazu, dass ganz viel Potenzial ungenutzt bleibt und wichtige Wahrheiten keinen Platz im Tagebuch finden, weil dieses viel zu sehr auf einen externen Leser zugeschnitten ist. Außerdem sind Partner*innen von diesem Souvenir häufig überfordert, da sie die Botschaft auf dem „Appellohr“ hören und sich fragen, was genau sie jetzt tun müssen, um zu beweisen, dass sie verstanden haben. Vor dem Hintergrund des ohnehin hohen Stresslevels bei Heimkehr von Partnern aus der Klinik, sind damit häufig Enttäuschungen programmiert.

Ein solches Tagebuch dient wie alle echte Therapie der eigenen Veränderung, nicht der Änderung anderer Menschen. Ich habe solch ein Buch 2017-2019 geführt und in gewisser Weise hat es mich weit gebracht: Mein Tagebuch war der kreative Masterplan für ein neues Leben, ein immer neu selbst verfasster Wegweiser im Dschungel einer schwierigen Lebensphase. Wenn ich heute reinschaue, bin ich erstaunt, wie „prophetisch“ es an einigen Stellen war, wie viel davon ich umsetzen konnte – und wie viel Glück ich dazu geschenkt bekam.