Mit der Ohnmacht fängt alles an. Unser Leben. Das Baby ist auf Hilfe angewiesen. Es lernt nach und nach (und zwar mehr oder weniger), dass es andern nicht egal ist: dass sein Verhalten etwas bewirkt. Wir wissen nicht wirklich, was diesbezüglich das Beste für die Entwicklung des kleinen Kindes ist. Vermutlich glaubt kein:e Leser:in dieser Zeilen, dass Babys absichtlich lange allein gelassen werden sollten, dass man sie ruhig „ausschreien“ lassen darf, weil sie sonst Tyrannen würden. Es geht um Bindung, Autonomie und Gesehenwerden. Sicher, Überbehütung kann dabei auch ein Problem sein, denn das Zutrauen in die Selbstwirksamkeit des kleinen Menschen wird nicht zwangsläufig gestärkt, wenn Mami und Papi immer alles richten. Was aber am Ende schief gelaufen ist, wenn hilflose und ohnmächtige Patienten bei uns in der Therapie landen, das lässt sich oft schwer sagen. Die Betroffenen haben Erklärungen dafür, und Therapeuten ebenso, und alle diese Erklärungsmodelle können sich im Verlauf der Therapie und des weiteren Lebens drastisch verändern. Daher ist es so wichtig in der Therapie, so viel vorab, nicht immer nur die „Verstehensseite“ anzugehen (Vergangenheitsperspektive), sondern im Hier und Jetzt die aktuelle „Verhaltensseite“ zu analysieren und zu verändern (Zukunftsperspektive).
Momente der Ohnmacht treten in fast jeder Psychotherapie auf. Im ambulanten Setting versuchen Therapeuten aus naheliegenden Gründen häufig (vielleicht auch unbewusst) gegenzusteuern, denn wer will schon sein(e) Patient:in mit dem Gefühl der Ohnmacht auf beiden Seiten für eine ganze Woche oder noch länger entlassen? Das ist schon im Einzel ein Problem, erst recht aber in der Gruppentherapie: Müssen die Gruppenteilnehmer nun bis zum nächsten Treffen diese Ohnmacht „mitnehmen“? Dazu später mehr, hier nur so viel: Es ist nicht direkt erstrebenswert, aber es kann passieren – und es gibt Schlimmeres.
Apropos schlimm … Vielleicht ist es ja für uns als Therapeut viel schlimmer, die Ohnmacht auszuhalten, als für die Patient:innen? In der Ohnmacht begegnen wir unserem Größenwahn, oder vornehmer ausgedrückt. den grandiosen Phantasien des Helferdaseins, unserem Retter-Ideal. Nun ist dieses Ideal mehr als gefährlich für eine Therapie auf Augenhöhe, eine Therapie, die den Patienten als mündigen Experten für sein Schicksal und Geschick behandelt. Vielleicht haben vor allem wir hier Gelassenheit, also Loslassen zu lernen. Vielleicht kommen wir dabei an ureigene therapeutische Themen.
Ohnmacht ist sozusagen der tiefste Grund der Therapiebedürftigkeit, die Basis der unangenehmen Grundgefühle, der Kern des Problems: Das Bedürfnis nach Wirksamkeit ist nicht erfüllt, vielleicht schlimmer noch, das Gefühl für so etwas wie Wirksamkeit abhanden gekommen – die Betroffenen sind felsenfest überzeugt, nichts Wesentliches aus eigener Kraft zu schaffen. Da merkt der Therapeut schon, dass das innere Kind leidet und im wahrsten Wortsinn den Ton angibt (jammert und schreit). Wie gesagt, mit der Ohnmacht fängt alles an. In der Therapie ist es ein wichtiger Schritt, an dieses Leiden, diese Schmerzen zu kommen, aber auf den Kern schauen heißt mehr: die Ohnmacht differenzieren und erkennen, dass ich nicht so ohnmächtig bin wie ein kleines Kind, die Bereitschaft fördern, die eigenen Kräfte zu spüren und Verantwortung zu übernehmen.
Ohnmacht ist auch auf Seiten des Therapeuten ein bekanntes Gefühl. Es tritt z.B. auf, wenn Patienten einen sehr abhängigen Beziehungsstil haben, offenbar gewohnt sind, dass andere sie „retten“, vielleicht auch, dass die Krankheit oder Störung dabei „hilft“ (wohl kein Patient denkt sich das bewusst aus, aber viele funktionieren so). Das macht häufig die Verzweiflung der Angehörigen aus: dass sich die Ohnmacht des Patienten auf sie überträgt. Angehörigen fällt es meist schwer zu lernen, dass ihr Partner, ihre Mutter oder ihr längst erwachsenes Kind Selbstverantwortung übernehmen muss – und dass wir ihm da nichts abnehmen können. Auch wir Therapeuten müssen es erst lernen: die Ohnmacht beim Patienten zu lassen und eben nicht retten wollen, was (auf diese Weise) nicht zu retten ist.
Immer wenn ein Patient neu zu uns kommt, stellen wir die Frage, warum er/sie gerade jetzt kommt. „Ich will mein Trauma bearbeiten!“ Okay, aber das Trauma geschah (z.B.) vor 25 Jahren, also: „Warum kommen Sie jetzt?“ Ich füge fast immer auch so etwas hinzu wie: „Wo spüren Sie ihre Ohnmacht derzeit im Leben?“ Manchmal reicht die etwas leichter oder eleganter wirkende Frage danach, was komplett anders wird, wenn die Therapie erfolgreich verläuft. Oder eben zirkulär: „Was denkt ihr Partner (ihre Mutter …), was sie endlich anpacken könnten, wenn sie hier erfolgreich Therapie gemacht haben?“ Allerdings, „erfahrene“ Angst- oder Traumapatient*innen kann man damit selten auf die Spur der Selbstverantwortung bringen. Die Angst davor kann sich während länger anhaltender Therapie in erfolgreiche Abwehrstrategien verwandelt haben: „Ich habe doch schon alles probiert.“ Oder: „Ich kann mir kann nicht mehr vorstellen, was anders werden könnte.“
Die Ohnmacht ist häufig ein Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Für Patient und Therapeut scheint es naheliegend und ich nenne es verführerisch, das Gefühl der Ohnmacht quasi prinzipiell in die Vergangenheit, also z.B. auf das Trauma oder die komplexen Traumatisierungen in frühen Beziehungen zu projizieren. Je ohnmächtiger sich der Betreffende gegenüber den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft fühlt, desto größer ist die Tendenz, der „Faszination“ (d.h. wörtlich: den Fesseln!) der Vergangenheit zu erliegen. Und manchmal führt das in einen Teufelskreis: Je mehr man die Ohnmacht der Vergangenheit wieder erlebt, desto ohnmächtiger fühlt man sich gegenüber realen und aktuellen Herausforderungen – und wendet sich weiter der Vergangenheit zu. Wahrscheinlich hat es jeder Therapeut schon erlebt, dass einzelne Patient*innen unter der (dann offenbar nicht erfolgreichen) Therapie immer hilfloser werden.
Aus diesen Gründen muss Traumatherapie – auch oder sogar primär – ressourcen-, lösungs- und zielorientiert sein. Jeder kleine Schritt nach vorne in der Jetztzeit ist wertvoller für die Selbstwirksamkeit und die Überwindung der Ohnmacht als die x-te Erzählung und Darstellung des Traumas. Ich weiß, dass sich Traumatherapie darin nicht erschöpft. Aber auch (z.B.) das Innere-Kind-Retten wird sich erst dann wirklich hilfreich für die Lebenstauglichkeit des Klienten erweisen, also mehr als eine schöne Erfahrung sein, wenn der/die Klient:in im Rahmen der Therapie als Erwachsener seine Selbstwirksamkeit an realen und aktuellen Aufgaben prüft, bestätigt und ausbaut (z.B. im Knüpfen von Kontakten, im Wagen von Konflikten, in der Etablierung von Strukturen, im Überschreiten von Hemmschwellen, im Riskieren von Frustration), wenn er lernt, was es heißt, dass der Erwachsene die Führung übernimmt.
Erfolgreiche Therapie bedeutet nicht, dass Trauma „loszuwerden“, sondern es in Maßen loszulassen bzw. es lockerer zu halten statt fest zu klammern. Es bedeutet, dass die Betroffenen die inneren Filme der Ohnmacht kennen, aber nicht länger automatisch („getriggert“) in sie hineinrutschen und hilflos hängenbleiben, sondern neue Filme oder andere Sequenzen produzieren. Eine verbesserte Selbstregulation, Selbststeuerung und damit Selbstwirksamkeit steht also am Anfang und am „Ende“ einer erfolgreichen Therapie oder jeder neuen Therapieetappe. Das ist das Gegenteil von Teufelskreis, eine Aufwärtsspirale: Je mehr ich mir im Leben wieder zutraue, je mehr ich Verantwortung für mich übernehmen, desto mehr bin ich in der Lage, sehr Schwieriges und Schmerzhaftes aus der Vergangenheit anzuschauen, zu verarbeiten und zu reflektieren – und je besser mir das gelingt, desto mehr sehe ich, wo ich heute wirklich stehe.*
Nun zurück zu der Frage: Was tun, wenn eine gefühlt unabänderliche Ohnmacht in der Therapie auftritt, den Einzelnen oder die ganze Gruppe scheinbar tonnenschwer belastet und vielleicht die Stunde gleich vorbei ist? Müssen die Gruppenteilnehmer (sofern es sich um Gruppentherapie handelt) nun bis zum nächsten Treffen diese Ohnmacht „mitnehmen“? Ja – wenn sie sie nicht im Therapieraum und beim Therapeuten lassen können bzw. wollen. In derartigen Situationen sage ich meist so etwas wie: „Es ist wichtig, dass wir nicht vor der Ohnmacht davonlaufen oder versuchen, sie durch allerlei Ratschläge und Unterstützungsangebote aus dem Raum zu fegen. Die Solidarität in der Ohnmacht ist das Beste, was wir im Moment geben können.“ Allein das verschiebt schon die Wahrnehmung und die Gefühlslage in den Bereich von Kompetenz und Stärke: „Yes, we can stand it.“ (Wir kommen damit zurecht.) Und ich habe es mehrfach erlebt, dass der betreffende „schwere“ bzw. schwer hilflose Patient beim nächsten Treffen seine Mitpatienten damit überrascht hat, was alles Positives passiert ist, was er auch selbst zuwege gebracht hat und was überhaupt eigentlich gar nicht so schlecht läuft. Bis hin dazu, dass manche Mitpatienten richtig sauer werden, warum sie sich in der Zwischenzeit derart damit beschäftigt haben 🙂 Wenn man die Ohnmacht wirklich zulässt, zeigt sich fast immer, dass sie bei weitem nicht zu 100% besteht. Und wenn doch: was soll’s – wegreden hilft nicht.
Im Klinik-Kontext bin ich noch etwas radikaler: „Sie sind hier, damit sie und wir alle lernen, das ganz Schwierige zuzulassen – und in diesem Rahmen können wir feststellen, dass es sich aushalten lässt und dass es kein schwarzes Loch ist, was alles verschluckt.“ Oder so ähnlich. Jedenfalls mache ich mir nicht per se Sorgen, wenn die Gruppenteilnehmer mal für ein paar Stunden oder Tage mit Ohnmacht auseinandersetzen. Wie gesagt, viele erfahren oder lernen auf diese Weise, dass die Ohnmacht nicht zu 100% besteht – und wenn sie es doch so empfinden, dann müssen sie begreifen, dass es sich um eine Regression handelt, dass sie in diesem Erleben ins Kind zurückgefallen und nicht als Erwachsene da sind. Man kann auch gut eine kreative Aufgabe stellen: Zuerst wird ein Bild gemacht, dass dem Gefühl der 100%-igen Ohnmacht entspricht. (Häufig sind das eben schwarze Bilder oder schwarze Löcher.) Dann wird das Bild gemeinsam reflektiert. Danach soll „nur so als Spiel und Übung“ mal ein völlig anderes Bild erfunden werden.
Mit der Ohnmacht fängt das Leben an. Als Erwachsene haben wir zu begreifen und Verantwortung zu übernehmen, dass wir kein Baby mehr sind. Wer immer nur „ich kann nicht“ sagt, muss lernen, dass dies auch ein „ich will nicht (erwachsen sein)“ beinhaltet. Das klingt ziemlich hart und eignet sich nicht für den Beginn einer Therapie (ebensowenig die Übung mit den Bildern). Leider erfahren diese Wahrheit jedoch viele fast „austherapierte“ Patientinnen und Patienten deutlich zu spät. Wenn wir unseren Patienten diese Erkenntnis nicht ermöglichen – manchmal wird das als Konfrontation bezeichnet, ich bezweifle, dass dies der angemessene Begriff ist – wer und wann dann?!
* PS. Wir wissen alle, dass eine Reihe von Patientinnen und Patienten nur noch begrenzt Verantwortung für sich und ihr Leben übernehmen können, dass sie dauerhaft auf Hilfe angewiesen sind und mit kleinen Verbesserungen zufrieden sein müssen usw. Bei ihnen würden aber auch die wenigsten Therapeuten einen Sinn darin erkennen, immer wieder die verhängnisvolle Vergangenheit zu beackern!