Sch wie Schuldgefühle

Schuldgefühle sind Pseudogefühle. Das ist eine gute Arbeitshypothese, dazu weiter unten einige Hinweise, aber es ist noch weit mehr als das. Wir sollten uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass diese Aussage fast immer zutrifft, wenn in der Therapie von Schuldgefühlen oder auch vom „schlechten Gewissen“ die Rede ist: Sie dienen als unbewusster Abwehrmechanismus, damit die Betreffenden nicht das spüren oder zeigen müssen, was weit schmerzhafter und angstbesetzter ist als diese sogenannten Schuldgefühle.

Vorneweg noch ein Hinweis: Es geht mir nicht um „sprachpolizeiliche Vorgaben“ (wie es der Political Correctness oder der Wokeness unterstellt wird). Sie „dürfen“ natürlich weiter von Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen reden. Ich mache das auch manchmal. Wir reden halt so und denken, die anderen wissen, was wir damit meinen. Nur sollten wir in der Therapie dabei nicht stehen bleiben, sondern tiefer schürfen. Schuldgefühle verbergen etwas.

Als Therapeut begegnen wir manchmal Patientinnen, an die wir nicht „rankommen“, die wie eingemauert sind in Schuldgefühle, sie sind verzweifelt „locked in“, wir sind verzweifelt „locked out“, weil wir nicht helfen können; manchmal hilft es, dies anzusprechen. Oft sitzt dahinter eine große Scham. Vielleicht ist sie gar nicht riesig, aber die Angst vor ihr macht sie größer und führt zur Aufblähung des Abwehrmechanismus: der sog. Schuldgefühle. Die generelle Vermeidung von Scham führt dazu, dass ihre verschiedenen Schichten oder Faktoren nicht sortiert und auseinandergehalten werden können, das macht sie so diffus und lässt sie so gefährlich, also bedrohlich und überwältigend erscheinen – und den Abwehrmechanismus, den Widerstand gegen Ergründung, also auch gegen Therapie, so stark.

Nehmen wir an, eine Patientin hat in Kindheit oder Jugend fortgesetzten sexuellen Missbrauch erfahren, sei es durch den ersten Freund oder durch den Opa oder Onkel. Irgendwie hat sie „mitgemacht“ und fühlt sich dadurch schuldig oder mitschuldig. Je nach psychologischer Schule könnte man diese Selbstverurteilung als „Täterintrojekt“ verstehen, d.h. als Übernahme und Verinnerlichung der Perspektive des Täters: „Du hast es doch auch gewollt.“ „Du hast Dich nicht gewehrt.“ Ein Erwachsener, also auch der erwachsene Anteil der Betroffenen, könnte erkennen, dass es nicht um Schuld geht – dass sie als Kind manipuliert, erpresst, bedroht oder zumindest durch die Autorität des Täters gelähmt war –, sondern um Scham: Opfer zu sein, so gesehen zu werden, und meist auch um die Scham, mit einem solchen Täter in so enger Beziehung zu stehen.

Ein Teil der Betroffenen scheint zu dieser erwachsenen Erkenntnis nicht in der Lage. Nach meiner Erfahrung liegt das häufig an einer älteren oder entwicklungspsychologisch früheren unbewussten Scham, an dem, was ich manchmal die existenzielle Scham nenne: die Angst oder tiefsitzende (vermeintliche) Gewissheit, auf der Welt nicht willkommen, nicht gut genug zu sein, keine Freude für die familiäre (also vertraute) Umwelt, sondern eine Last zu sein. Interessanterweise bilden in jenen frühen Jahren, wenn das Kind lernt, was Schuld heißt, (falsche) Schuldgefühle und Scham einen für das Kind noch nicht verstehbaren Komplex. Es bildet sich z.B. ein, schuld daran zu sein, dass Mama so oft traurig (depressiv und suizidal) ist, dass Papa trinkt oder dass sich Mama und Papa getrennt haben. Auf einem solchen Hintergrund kann im Übrigen die Entwicklung des Selbstwerts so stark zurückbleiben, dass die Betreffenden später anfälliger für Missbrauch werden. (Allerdings sind auch im Selbstwert gut entwickelte Kinder nicht per se gegen Missbraucht geschützt!)

Der Erwachsene könnte hier erkennen, dass das Kind überhaupt nicht schuldig sein kann – und begreifen, warum das Kind es noch nicht begreifen konnte. Es ist so wichtig, dass der erwachsene Anteil der Betroffenen diese Erkenntnisse seinen jüngeren Anteilen kommuniziert: Gerade weil das Kind Scham und Schuld vermischt und verwechselt, muss der Erwachsene es für seine kindlichen Anteile sortieren, die Schuld ablehnen oder bewusst ablegen und sich der Scham stellen: sich zeigen mit dem, was war und was ist, wie es sich anfühlte und welche Unsicherheiten und Ängste „das innere Kind“ daher bis heute hat – und zu diesem be- und verschämten Kind stehen lernen.

Über Schuldgefühle hatte ich schon ausführlich unter dem Stichwort „Schuld“ referiert, aber es ist mir ein Anliegen, die Verwechslung von Scham mit Schuld und die Vermeidung von notwendiger Scham durch „Schuldgefühle“ ins Bewusstsein zu bringen. „Notwendig“ ist die Scham, weil sie ein Grundgefühl ist wie Freude oder Trauer – und wenn wir sie wegdrücken, wird die Therapie oder allgemeiner unsere persönliche Reifung in der Regel blockiert. Nur durch den Umgang mit Scham im Therapieprozess können wir lernen, dass Scham uns nicht automatisch überwältigt, wir lernen, uns gleichzeitig zu schämen und andere Gefühle zu empfinden, etwa die Freude, gesehen und mit unseren (tatsächlichen oder eingebildeten) Fehlern angenommen zu werden, oder auch den Stolz, etwas erreicht zu haben.

Es geht allerdings nicht ausschließlich um Scham. Alle Gefühle, auch „echte“, können dazu „dienen“, andere Gefühle zu „vertreten“ oder zu verbergen. Vor allem, wenn uns Gefühle irgendwie übertrieben oder überzogen vorkommen oder immer wieder musterhaft auftreten, obwohl sie schon mehrfach bearbeitet wurden, handelt es sich vermutlich um einen Abwehrmechanismus. Noch ein Beispiel:

Die Patientin, zwischen 50 und 60 Jahre alt, sagt, der Therapiefokus liege für sie auf dem Verhältnis zu ihrem Sohn und ihren Schuldgefühlen. Der Sohn ist, altdeutsch gesagt, vom rechten Weg abgekommen, gut vernetzt in der Drogenszene. Alle Mitpatienten verstehen, dass sich die Mutter schuldig fühlt. Wer kennt das nicht: die Angst, etwas oder gar alles falsch gemacht zu haben?! Aber, das genau ist der „Trick“ der Abwehrmechanismen: Sie lenken die Aufmerksamkeit dorthin, wo es ganz objektiv wirkt, wo alle zustimmen. In diesem Falle habe ich es anders gesehen: Sicher, hinter den Schuldgefühlen steckt wie so oft Scham, die Angst, von anderen mit dem eigenen „Versagen“ (der missratene Sohn) gesehen zu werden. Doch dahinter war diesmal noch viel mehr Angst: Die Angst vor Einsamkeit, die Angst, das eigene Leben nicht (er)füllen zu können, nachdem der Sohn die Mama „verlassen“ hat. Durch die Schuldgefühle wird das Loslassen unterbunden und eine, wenngleich minderwertige Beziehung aufrechterhalten.

Mein Blog zur „Schuld“ endete damals mit dem Satz: „In der Therapie ist die Frage nach der Schuld selten produktiv.“ Heute möchte ich daran noch Betrachtungen zu Schuld in der Partnerschaft anschließen. Häufig hat Schuld bzw. die Unterstellung derselben eine (meist unbewusste) manipulative Wirkung, was vermutlich der Grund ist, warum die Betreffenden ungern auf solche Bewertungen verzichten. Es ist wie auf einem Bankkonto: „Du warst schuld an meiner Verletzung. Also hast Du Schulden bei mir.“ Und mancher „schuldiger“ Partner ist überzeugt davon, dass es stimmt, und rackert sich ordentlich ab, um seinen Kontostand wieder in den schwarzen oder grünen Bereich zu bringen, ohne dass sich jedoch die Beziehung grundlegend verbessert.

Bei Paarberatungen (und Angehörigengesprächen) schließe ich vorab eine Art Pakt: „Das Thema Schuld spielt heute keine Rolle.“ Das ist tatsächlich in erster Linie eine Arbeitshypothese und sie erleichtert allen Beteiligten die Paartherapie erheblich. Nach meiner Erfahrung kommt man damit erheblich schneller voran in der Auflösung von Partnerschaftskonflikten. Auch wenn eine(r) oder beide (heimlich) überzeugt davon sind, dass der andere an irgendwas Schuld hat oder zu 90% schuldig ist für die Beziehungskrise, entspannen sich doch relativ schnell beide und können sich viel mehr öffnen. Der, der erwartet hatte, wieder Mal schuld zu sein, merkt, aha, darum geht es nicht. Und dem oder der anderen wird vielleicht zunächst gar nicht klar bewusst, warum sie sich auch entspannt, aber es funktioniert so: Wenn der andere nicht schuld ist, bin ich es ja auch nicht, das ist der Deal. Und dann können wir über das reden, was mich traurig, ängstlich, wütend macht oder auch, was mich erfreut und was ich mir wünsche – oder für was ich mich wirklich schäme und was mir wirklich leid tut. Manche Klienten „suhlen“ sich dagegen lieber in „Schuldgefühlen“ (oder auf der anderen Seite: in alten „Verletzungen“), um bloß nicht an Angst, Trauer, Wut und Scham zu kommen oder offen über Bedürfnisse und Wünsche bezüglich der Zukunft zu sprechen.

Im Übrigen ist die Suche nach den Schuldigen auch in der Einzeltherapie in der Regel fruchtlos, sie blockiert meist therapeutische Fortschritte: Wenn meine Eltern schuld sind an dem, wie ich ticke und lebe, bin ich schuld daran, wie meine Kinder sich schwer tun im Leben usw. Es geht nicht um Schuld und Schuldige. Und ja, auch das ist in erster Linie eine Arbeitshypothese, um die therapeutische Arbeit voranzubringen.

Sicher müssen wir im Leben die „Verantwortung“ für manche Dinge übernehmen oder eben, wenn andere sie haben oder hatten, ihnen zurückgeben. Und natürlich gibt es auch Schuld – z.B. beim Thema Missbrauch und Gewalt, aber auch bei weniger offensichtlichen Dramen in Beziehungen. Nur, das sind gemessen an der Fülle der Fälle, wo von Schuldgefühlen in der Therapie gesprochen wird, eher Ausnahmen. Der juristische oder moralische Maßstab ist in der Therapie jedenfalls selten hilfreich, egal ob der sog. Täter oder das sog. Opfer vor uns sitzt. Denken wir nur an das Beispiel „Fremdgehen“, da schwingt der alte, mehr oder weniger schwerwiegende Tatbestand „Ehebruch“ mit. Die Täter-Opfer-Perspektive und die Pseudogefühle „Verletzung“ (Opfer) einerseits und „Schuldgefühl“ (Täter) andererseits halten die Betreffenden davon ab zu spüren, um was es wirklich geht: Gefühle und Bedürfnisse, die damals da waren und die jetzt da sind. 

Mit dem „schlechten Gewissen“ ist es genauso: ein Mechanismus oder Muster, das uns davon abhält, wirklich hinzuspüren, um was es geht. Nochmals zum Beispiel Fremdgehen: Das „schlechte Gewissen“ hält den „Täter“ davon ab zu fühlen – die Angst, dass die Partnerin sich rächt oder die Partnerschaft aufkündigt, auch die Angst vor Bloßstellung (z.B. gegenüber den Kindern oder der Verwandtschaft), die Angst vor Scham, die Trauer, dass es soweit gekommen ist, den Ärger auf die Partnerin, die sich die letzten Jahre ziemlich hängen ließ und nicht in die Partnerschaft investierte (zumindest aus Sicht des Mannes); das sind nur mögliche Beispiele. Nicht spüren müssen kann auch bedeuten: Das schlechte Gewissen trägt dazu bei, dass die Affäre, das Fremdgehen fortgesetzt wird, weil der Täter nicht hinspürt und sich irgendwie mit seinem „schlechten Gewissen“ zufriedengibt.

Kurzum, trau keinem „Schuldgefühl“, bevor Du es nicht therapeutisch ausgeleuchtet hast!

PS. Selbst dann, wenn tatsächlich Schuld vorliegt, können damit verbundene Schuldgefühle Teil eines Abwehrmechanismus sein. Wie gesagt, die Seele geht mit ihren „Ablenkungstricks“ oft dahin, wo es für alle besonders objektiv wirkt. Denken wir an einen Mann, der im Vollrausch einen Unfall mit Todesfolgen verursacht hat. Obwohl er juristisch möglicherweise nur als eingeschränkt schuldfähig eingestuft wird, könnten wir denken, da geht es um Schuld und der Patient hat „berechtigte“ Schuldgefühle. Es kann aber auch sein, der Patient klammert sich an seine Schuldgefühle, um davon abzulenken, dass er sein Leben insgesamt einfach nicht auf die Reihe bringt und Angst davor hat, für die Gestaltung seines Lebens Verantwortung zu übernehmen. Das ist ein klassischer psychischer Abwehrmechanismus: Wenn die Gegenwart und Zukunft zu viel mit Ängsten verbunden sind, wendet sich der Patient voller Reue und intensiv immer wieder der Vergangenheit zu. Schuld eignet sich dazu hervorragend. „Ich muss erst meine Schuld bearbeiten, bevor ich mich dem Leben zuwende.“ Das ist Unsinn, aber häufig die Psycho-Logik von Patienten.