Jede Psychotherapie hat eine rückwärtsgewandte und eine zukunftsorientierte Perspektive (und verwirrenderweise wird dann oft noch im Hier und Jetzt „gearbeitet“ …), im weitesten Sinne könnte man sagen: eine tiefenpsychologische und eine verhaltenstherapeutische. In der einen geht es um Verstehen und Selbsterkenntnis: Warum mir dies und das immer wieder passiert, wie ich geworden bin, was ich bin, warum ich meine Energie immer wieder an falschen Stellen verausgabe usw. In der anderen geht es darum, wie ich ein besseres Leben führen kann, genauer: wie ich das bessere Leben anfange, am besten recht bald! Mehr von dem machen, was klappt und mir gut tut, weniger von dem machen, was entweder nicht klappt oder nicht gut tut. So gesehen, müsste eigentlich die Zukunftsperspektive als die attraktivere erscheinen.
Interessanterweise ist dies bei Patient*innen, vor allem zu Beginn der Therapie, häufig nicht so. Es gibt eine Menge Widerstand gegen den Blick in die Zukunft, die Gründe dafür sind vielfältig:
- Es kann daran liegen, dass die Betroffenen noch nicht genug Empathie für erlittenes Leid erhalten haben und dies ihre nächstliegende mit Therapie verbundene Sehnsucht darstellt.
- Viele Patient*innen mit Depressionen und Ängsten müssen zunächst wieder Zuversicht schöpfen, mehr Vertrauen ins Leben finden, bevor sie sich Ziele setzen können. Sie benötigen neben Empathie auch Zuspruch, Spiegelung und Wertschätzung ihrer Ressourcen, manchmal auch Coaching für konkrete kleine Schritte.
- Sich ein Ziel setzen bedeutet: nach vorne gehen wollen. Das bedeutet auch, wichtige Anteile von uns müssen über die Phase des Zurückhabenwollens hinaus sein. Das ist verständlicherweise schwierig, wenn es im Leben eine (manchmal nur vermeintlich) „goldene Zeit“ gab, die vielleicht noch nicht lange zurück liegt, die aber nie mehr wiederkehrt.
- Last not least, ja, es ist oft „bequemer“, sich mit der Vergangenheit zu befassen, wo es um Schuld und Schuldige zu gehen scheint (eine in der Psychotherapie meist nutzlose Kategorie), statt Verantwortung für die eigene Zukunft zu übernehmen. Allerdings, „bequem“ trifft es nicht, weil die Patient*innen es sich schlicht und einfach nicht zutrauen: nach vorne zu gehen, Schritt für Schritt Dinge anders zu machen als bisher.
Therapeutisch ist es gerade deshalb höchst riskant, über die zum Teil massiven Herausforderungen hinwegzusehen, die vor den Betroffenen liegen und vor denen wir uns auch als Therapeuten manchmal ohnmächtig fühlen – und der gemeinsamen „tiefenpsychologischen“ Faszination der Vergangenheit zu erliegen.
Die Motivation für ein lebenswertes Leben, in dem zunächst einmal auch kleinere Brötchen gebacken werden, muss vom Patienten kommen. Als Therapeuten stärken wir – mit Feedback, Bestätigung, Differenzierung, Skalierung und Reframing (wie viel sind Sie vorangekommen oder auch nur warum wurden Sie heute nicht noch weiter zurückgeworfen) sowie mit Komplimenten – die Bereitschaft weiterzugehen. Mit dem Erreichen von kleinen Zielen entstehen Zuversicht und der Wille, den nächsten Schritt nach vorne zu setzen. Ein weiterer Vorteil dieser Strategie der kleinen Schritte: Wir beide (Klient*in und Berater*in) bleiben viel eher im Hier und Jetzt, sind gelassener und können die schrittweise Veränderung genießen. Wenn die Therapie auf diese Weise Freude macht, stimmt die abgegriffene Floskel: „Der Weg ist das Ziel.“
Also nur noch kleine Brötchen backen? Jein. Große Ziele können für einen Teil der Klienten motivierend sein, und wir dürfen den Klienten nie unterschätzen! Große Ziele haben es allerdings an sich, dass sie statistisch gesehen, zu einem großen Teil nicht erreicht werden. Und wir wissen ja nie genau, zu welcher statistischen Gruppe unser konkreter Klient gehört. Viele setzen sich zu große Ziele – bei manchen ist dies das Verlassen des Partners, die Kündigung des Jobs oder der Abbruch der Verwandtschaftsbeziehungen, bei anderen Projekte wie Weltreise, Unternehmensgründung oder Auswandern, wiederum bei anderen sind die Ziele ganz abstrakt wie „Gesundheit“ oder gar „endlich glücklich“. Weil sie irgendwie selbst wissen, dass es unrealistisch ist (z.B. die Trennung vom Partner oder Kündigung des Jobs, solange man massiv finanziell abhängig ist), gehen viele Betroffene dann erst gar nicht aufs Ziel zu, sondern verschieben dieses Losgehen auf morgen und übermorgen. Nach geraumer Zeit stellen sie auch in der Therapie fest, dass sie immer noch die gleichen „Ziele“ haben, und dass dies unglaublich frustriert, deprimiert und zur Selbstabwertung führt.
Wenn wir am großen Ziel festhalten wollen, brauchen wir einiges an Training sowie Etappenziele. Diese Ziele sollten im Einklang mit dem Gefühl der Selbstwirksamkeit stehen oder entsprechend neu gesetzt werden. Interessant dabei ist, dass von diesen zeitweiligen Erhebungen aus auch der „tiefenpsychologische“ Rückblick auf unsere Geschichte ganz anders ausschauen kann: Viel zu oft haben wir zuvor unter „Verstehen“ nur das Verständnis für unsere Schattenseiten und unser Scheitern verstanden. Jetzt erkennen wir daneben einen Reichtum, den wir mit uns tragen. Eine derartige „Versöhnung“ kann weder am Anfang der Therapie stehen noch gelingt sie durch reine Tiefenpsychologie.
PS. Eine Variation von „Der Weg ist das Ziel“ aus der buddhistischen Psychologie stammt von Thich Nhat Hanh: „Es gibt keinen Weg zur Heilung. Heilung ist der Weg.“ Und für ihn beginnt dieser Weg, indem wir bewusst atmen. Oha, ist es wirklich so einfach? Naja, warum nicht einfach mal zehn bewusste Atemzüge als Ziel für heute nehmen?! Wir sollten jedenfalls nicht zulassen, dass das Erreichen von Großzielen zur Bedingung für ein „neues Leben“ gemacht wird. Wer die kleinen Ziele und Schritte nicht schätzen lernt, verpasst vermutlich das Leben.