A wie ABC-Anamnese

Aus welchem Anlass kommen Patientinnen in die Psychotherapie? Vielleicht finden Sie die Frage etwas umständlich formuliert. Könnte man nicht sagen: „Warum kommen Patientinnen in die Psychotherapie?“ Jein. Die Frage „Warum“ führt in der Psychotherapie erschütternd häufig zu Weitschweifigkeit, in eine alte Patientenlogik und auch manchmal in die Irre. Sie ist überdies therapeutisch meist so unergiebig, dass man sich – ein bisschen überspitze ich jetzt – ewig und vergeblich damit beschäftigen kann. Was ja auch vielfach geschieht.

Unter Anamnese versteht man die Erfragung von Informationen zur Leidensgeschichte des Patienten: Beschwerden und Vorbehandlungen. Dies geschieht in der Regel systematisch, nach bestimmten Vorgaben und Vorlagen. In der Psychotherapie spielen dabei auch die Familien- und Lebenssituation sowie die Biographie eine gewisse Rolle. Da die Angaben vom Patienten stammen, folgen sie, auch bei erprobten Fragetechniken, nicht selten der selbst hergestellten Krankheitslogik des Patienten – oder sagen wir: Manchmal gibt der Behandler die Steilvorlage und der Patient schießt den Ball ins Tor.

Vielleicht sehe ich das alles zu kritisch. Oft werde ich allerdings aus Aufnahmeberichten, die solcher Anamnese folgen, nur halb schlau. Noch häufiger verhält es sich so, dass wir schon aus den Aufnahmeberichten einigermaßen schlau werden könnten, aber wesentliche Zusammenhänge vergessen oder übersehen, etwa weil wir völlig fasziniert sind von der Biographie, bestimmten Lebensepisoden, besonderen Symptomen oder nicht zuletzt: Traumata.

Daher wende ich eine „Anamnese“ an, die auf eine „Diagnose“ der aktuellen Lebenssituation zielt: „Ich möchte wissen, warum Sie gerade jetzt hier gelandet sind, dazu verwende ich meinen ABC-Baustellen-Check.“ Der Baustellen-Check ist eine „Psychoanalyse“ der harten Fakten: Wie viel Halt hat der Patient im aktuellen Leben und mit welchen realen Herausforderungen hat er oder sie derzeit zu kämpfen? Als Therapeut könnte ich mich auch fragen: Wovor hätte ich Angst, wenn ich in seiner (ihrer) Lebenssituation wäre? Und manchmal auch: Warum nur empfindet er (sie) diese Angst nicht?!

Menschen in unserer Gesellschaft und Kultur bekommen Halt im Leben durch drei oder vier „Baustellen“, und die meisten Psychotherapie-Patienten haben auf einer oder zwei dieser Baustellen akut massive Probleme. Genau das bringt sie in die Psychotherapie – „Es geht nicht mehr so weiter!“ – und nicht z.B. lang vergangene Traumata oder sonstige dysfunktionalen Erlebnisse von anno tobac. Die große Bedeutung der Prägungen aus der Vergangenheit wollen wir nicht leugnen. Wir sollten uns aber therapeutisch nicht in der Vergangenheit verirren oder der Faszination (d.h. Fesselung!) durch die frühen Prägungen erliegen, solange wir nicht die aktuelle Lebenssituation hinreichend erforscht haben.

Um welche Baustellen geht es? Dich wichtigsten heißen Arbeit, Beziehung und Herkunftsfamilie – die ich, um ein A-B-C zu haben, Clan nenne. Wollen wir mal eben den Baustellen-Check für Sie machen?

Arbeit: Haben Sie einen Job, den Sie gerne machen, oder müssen Sie sich Tag für Tag zur Arbeit quälen? Ist Ihr Beruf mit Erfüllung und Anerkennung verbunden oder haben Sie ständig Angst, das Pensum nicht zu schaffen oder in den Konflikten nicht bestehen zu können? Sind Sie nah am Burnout oder schon darüber? Oder vielleicht deutlich vor der Zeit berentet worden – wie bekommen Sie dann Struktur in den Alltag und woher beziehen Sie ihre Anerkennung und Zufriedenheit mit dem eigenen Tun?

Beziehung und (eigene) Familie: Haben Sie eine Partnerschaft? Haben Sie eine eigene Familie (gegründet)? Wenn ja, wie läuft’s da so? (Am Anfang der Therapie hören wir da oft viele Nettigkeiten, die sich später als Halbwahrheiten herausstellen.) Wenn nein, wann hatten sie zuletzt eine Partnerschaft, wie erfüllend war sie, wie ging sie zu Ende? Je nach Alter: Wünschen Sie sich Kinder und wie stehen die Chancen dafür? Haben Sie das Thema Kinder und Familie abgeschrieben? Haben Sie vielleicht sogar das Thema Beziehung schon abgeschrieben? Wer allein ist, trägt ein größeres Risiko für psychische Erkrankungen – das muss zwar nicht so sein, aber wir sollten jedenfalls genau hinschauen, ob das Thema Beziehung Halt oder Herausforderung oder beides ist.

Clan: Über das, was irgendwann in grauer Vergangenheit in der Familie des Patienten schiefgelaufen ist, wird in der Therapie meist mehr als genug gesprochen (auch wenn es sicher einzelne Therapeuten und immer wieder Patienten gibt, die dahin partout nicht schauen wollen, das ist aber die Minderheit). Beim Baustellen-Check geht es dagegen um die aktuellen Verstrickungen mit der Herkunftsfamilie: Wohnt Papa im Haus und behandelt Sie immer noch wie 12, obwohl Sie bereits 52 sind? Lebt Mama in der gleichen Straße und bestimmt seit Jahrzehnten Ihren Wochenplan (etwa wo sonntags gegessen wird und wer kocht), aber Sie trauen sich nicht, sich abzugrenzen, aus Angst „sie zu verletzen“? Sind Sie mit ihren Geschwistern seit Jahren total zerstritten, verstehen sich aber bestens mit einem Neffen oder einer Nichte? Oder, na klar, das gibt es ja auch, erleben Sie die Herkunftsfamilie als wichtigen Halt und Unterstützung in Ihren Krisen?

Aufschlussreich ist auch, welche Rangfolge der Patient diesen drei Themen A, B und C gibt. Ich erinnere mich an einen Patienten, Mitte 50, der ständig darüber reden wollte, dass er bei der Erbschaft benachteiligt worden sei. Was zunächst ganz plausibel erschien, hat sich nach und nach als Stellvertreterthema entpuppt, d.h. ein Thema, an dem alle Emotionen irgendwie abgearbeitet werden können – ohne dass der Betreffende etwas an seinem Leben ändern muss (z.B. weil die Erbschaftsgeschichte seit zehn Jahren gegessen war), eine Scheinbaustelle, die uns in der Therapie daran hindert, auf die Baustelle zu schauen, wo es wirklich brennt (in dem Fall ging es darum, dass der Patient nicht mehr arbeiten gehen wollte oder konnte, aber darüber nicht bereit war zu reden).

Bei manchen Patient*innen „brennt“ es auf allen drei Hauptbaustellen – oder dieses normale bürgerliche Leben liegt bereits, um im Bild zu bleiben, komplett in Schutt und Asche. Viele Patienten sind nicht gleichermaßen psychisch krank, wie sie leiden, sie bräuchten weniger einen Therapeuten als eine gute Fee, jedenfalls ein Wunder. Die Psychotherapie kann das Leiden an der Realität, wenn diese so grausam ist, nicht dermaßen ändern, wie manche sich erhoffen. Mit Glück hilft eine Auszeit für eine erste Stabilisierung und für das selbstwertstärkende Gefühl: „Unter günstigen Bedingungen kann ich besser leben.“ Der Check hilft zu verstehen, wie die Realität aussieht, wie groß der akute Leidensdruck, die aktuelle Therapiemotivation und -fähigkeit sowie die Therapieeinsicht ist. Wenn jemand z.B. von der Therapie eine Rettung erwartet, die diese gar nicht „liefern“ kann, besteht zwar Therapiemotivation, aber keine Einsicht.

Wie gesagt, die Mehrheit der Patientinnen und Patienten hat ihre aktuellen Probleme auf diesen drei Baustellen. Manchmal scheint jedoch alles in Ordnung. Warum ist der Patient dann gekommen? Niemand geht einfach mal so in die Psychotherapie, etwa weil ihm plötzlich die Erkenntnis kommt, er müsste jetzt endlich mal „mein Trauma auflösen“ oder „Licht in die Vergangenheit bringen“. Wieso und wozu gerade jetzt, nachdem Sie 45 Jahre ohne solche therapeutischen Erleuchtungen mehr oder wenig tauglich durchs Leben kamen?

Manches zeigt sich bei den weiteren Fragen im Rahmen des Baustellen-Checks. Mit ein bisschen Trickserei habe ich auch diese Themen noch in alphabetischer Reihenfolge hinbekommen: D-E-F- usw. Aber das ist unwichtig. Wichtig ist dagegen, diese Bereiche nicht auszusparen, um sich ein besseres Bild und Verständnis des Patienten und seines Lebens machen zu können, zu wissen wie viel Halt er oder sie im Leben haben und wie viel Herausforderung sie gerade erfahren:

Dach überm Kopf: Manche Menschen, v.a. jüngere Patientinnen und Patienten, haben kein Zuhause, auch wenn das auf den ersten Blick nicht ersichtlich ist, weil eine Adresse angegeben wurde. Sie wohnen in wechselnden „Bleiben“, ungeklärten Mietverhältnissen, Wohngemeinschaften oder … mit 35 oder 40 Jahren wieder bei Mama und Papa. Es kann viele Gründe und Anlässe dafür geben, manchmal liegt es daran, dass Patienten nicht wirklich erwachsen werden „wollen“. Haben Sie einen Mietvertrag? Leben Sie in einem Bauwagen? Oder „besitzen“ Sie ein überschuldetes oder verfallenes Haus? Wie ist die „Wohngemeinschaft“ wirklich?

Einkommen:  Wie steht es um Ihre Finanzen? Verfügen Sie über eigenes Einkommen (oder Eigentum) oder sind Sie auf Zuweisungen des Staates oder der Familie angewiesen? Selbst wenn Beruf und Partnerschaft passen und die Herkunftsfamilie als unterstützend erlebt wird: Wenn Sie bis über beide Ohren verschuldet sind, haben Sie ein Problem. Das kann man eher weniger mit Psychotherapie lösen. Aber Psychotherapie kann Ihnen helfen, sich dem Problem wirklich zu stellen – und den psychischen Herausforderungen, die damit verbunden sind, u.a. Scham– und Schuldgefühle, Selbstwertverlust, oder auch Partnerschaftskrisen, z.B. wenn das Haus verkauft werden muss. Die Frage nach den finanziellen Verhältnissen führt auch manchmal zu den Hauptbaustellen zurück – warum z.B. wider alle Vernunft an einem Job festgehalten wird oder warum man Eltern, die einen missbraucht haben, treu bleibt; vielleicht weil ein Erbe aussteht.

Freundschaft: Haben Sie (enge) Freunde und welche Bedeutung haben diese für Sie? Manch einer lebt nur für Beruf und Partnerschaft. Das kann klappen, ist aber riskant. Andere leben ausschließlich für den Beruf. Das klappt so gut wie nie dauerhaft. Ganz zu schweigen von jenen, die noch mit 30, 40, 50 oder gar 60 Jahren hauptsächlich um die Herkunftsfamilie kreisen und das eigene Leben verpassen: Hubschrauberkinder – werden leider oft zu spät krank davon und landen evtl. in der Therapie. (Ich bin nicht sarkastisch!) Also, Freunde sind wichtig! Aber, tun Ihre Freunde Ihnen wirklich gut? Ich habe immer wieder Patientinnen, die, wie es im Therapeutenjargon heißt, dysfunktionale Freundschaften „pflegen“, die z.B. sehr einseitig sind, die kein „Nein“ zulassen. Oder denken Sie an Patienten, die nach der Klinik zurück in einen Freundeskreis kommen, wo alle anderen „konsumieren“ (Alkohol, Cannabis o.a.)*.

Meist kann man es bei diesen „sechs Wichtigen“ A bis E belassen. Als Zusatzfrage nicht zu vergessen ist allerdings jene nach ambulanter Therapie. Wem es in fünf Jahren nicht „gelungen“ ist, einen ambulanten Therapieplatz zu bekommen, der hat statistisch oder vermutlich auch in der Klinik zunächst nicht die beste Therapieprognose – und wahrscheinlich völlig überzogene oder verkehrte Ziele für die stationäre Therapie! Doch daran lässt sich arbeiten, wenn wirklich Therapiemotivation und -einsicht vorhanden sind.

Alle Themen aus D-E-F haben mehr oder weniger starke Bezüge zu den Baustellen A,B, C und zeigen uns oft noch mehr von der Dramatik der Lebenssituation und erklären den z.T. gewaltigen Leidensdruck! Und bis dahin ist das Wort Trauma noch nicht gefallen – und jenes wird auch oft gar nicht benötigt, um die Situation zu verstehen.

Manchmal trauen wir uns aus falscher Toleranz oder missverstandener Rücksichtnahme nicht, das Offensichtliche anzusprechen. Patientinnen „drücken sich“ aus verständlichen Gründen davor, solchen Realitäten ins Auge zu sehen – und weichen oft in alte Geschichten aus. Sehr viele sind jedoch erleichtert und dankbar, wenn es endlich rauskommt und wir gemeinsam den Blick auf diese Problemfelder A bis E lenken.

Das ist die Ambivalenz der therapeutischen „Konfrontation“: Wir erlösen den Patienten gewissermaßen davon, seine realen und sehr präsenten Herausforderungen weiter zu verdrängen. Die „Diagnostik“ im herkömmlichen Sinne des Psycho- und Medizinbetriebs trägt dagegen leider oft dazu bei, von den akuten Herausforderungen, die zur Therapie geführt haben, abzulenken – z.B. wenn dann an erster Stelle die Traumadiagnose oder auch eine Persönlichkeitsstörung stehen. Aber wir sollten in der Therapie nicht so tun, als müssten wir „erst das Trauma auflösen“, bevor wir das aktuelle wahre Leben in den Blick nehmen. Es kann für Patient*innen äußerst entspannend wirken, zu erkennen und Beistand bei der Erkenntnis zu haben, dass die Psychotherapie gewisse Wunder NICHT vollbringen kann.

Die kleinen realen Veränderungen im Leben, die zu mehr Lebensqualität führen, sind oft wertvoller als zunächst tief beeindruckende Reflexionen über die Vergangenheit – sofern diese nicht zu einer Verhaltensänderung führen, sondern vielleicht sogar das Ohnmachtsgefühl zementieren. Ich vertrete immer wieder die These, das sog. Traumatherapie retraumatisierend wirken kann, wenn es keinen Therapiefokus auf das aktuelle Leben gibt: „Was wollen und müssen Sie da ändern?“ Wir Therapeuten müssen jedenfalls immer dem Patienten helfen, in der Therapie nach vorne zu schauen, auch wenn das manchmal spontan keinen „Spaß“ macht. Andererseits: Die Erleichterung, die viele Patienten äußern, wenn man endlich mit ihnen so scheinbar „knallhart“ auf die Fakten des aktuellen Lebens schaut, sollte man nicht unterschätzen.

* PS. Drogenkonsum hätte einen eigenen Buchstaben beim Basis-Check verdient: Jegliche Art von regelmäßigem Drogenkonsum kann ein Anzeichen dafür sein, dass Lebensherausforderungen aufgeschoben, vermieden oder dysfunktional bewältigt werden. Sicher gibt es Menschen, die ein erwachsenes und verantwortungsvolles Leben führen und gelegentlich Drogen konsumieren – es handelt sich dabei aber erstens um eine Minderheit, zweitens taucht von diesen Menschen eher selten jemand in der Therapie auf. Und regelmäßiger Drogenkonsum und erfolgreiche Therapie schließen sich meist aus.