Ich bin wieder ein Jahr älter geworden. Die meisten postmodernen Menschen in der zweiten Lebenshälfte fühlen sich laut Studien 10 bis 15 Jahre jünger als ihr amtliches Alter. Vielleicht weil ich mich mit dieser Diskrepanz von Wunsch und Wirklichkeit schon gelegentlich theoretisch (journalistisch) befasst habe, kann ich sie bei mir nicht mehr recht empfinden, d.h. ich kann mich nicht mehr selbst effektiv überzeugen, ich sei „quasi“ Mitte 40. Was ich allerdings gut erinnere: Wie es bei mir vor 10 bis 15 Jahren damit los ging, dass Alter(n) überhaupt ein Thema wurde.
Alles fing damit an, dass ich mich auf dem Weg zu meinen Eltern verfahren hatte. Es gab zuvor eine Umleitung und ich dachte, naja, so gut kennst Du Dich doch aus in der alten Heimat. Dann musste ich allen Ernstes im Umkreis von 20 Kilometer meiner Geburtsstadt den Autoatlas rausholen (Sie sehen, ich war meine Zeit noch nie so richtig voraus) – und konnte mich in dem trüben Licht der Auto-Innenbeleuchtung nicht zurechtfinden. Verd… Ich weiß nicht mehr, ob ich selbst 1+1 zusammengezählt habe, jedenfalls ging ich bald darauf zum Optiker und bekam meine erste Brille. Mit der neuen Klarsicht verschwanden nebenbei und rasch die für mich ungewohnten Kopfschmerzen und Ermüdungserscheinungen bei der redaktionellen Arbeit. So weit so gut. Dass eine „Lesehilfe“ schon ein ziemlich markanter Hinweis auf Alterung ist, dass verschweigt man(n) gern, nach dem Motto „ich kann nicht klagen“ (würde aber sehr gerne). Es gibt ja wirklich Schlimmeres!
Im Grunde war es nur eine Frage der Zeit, bis ich einmal mit Brille auf der Nase vor dem Spiegel stehen würde. Und das hat dann wirklich mein Weltbild verändert. Ich habe mit einem Schlag (!) gesehen, wie alt ich äußerlich geworden bin. Und das tue ich mir freiwillig nicht jeden Tag an. Eine Frage der Einstellung, so könnte man das Thema Altern diskutieren. Mein Alternativvorschlag hier lautet: eine Frage der Verdrängung. Und darauf beruht wohl die oben erwähnte Diskrepanz von Wunsch und Wirklichkeit.
Verdrängung ist nicht per se etwas Negatives, ganz und gar nicht! Allerdings gibt es handfeste medizinische Probleme, die viel mit dieser fulminanten Verdrängungsleistung bezüglich unseres Alterungsprozesses zu tun haben. So sind uns „theoretisch“ alle wesentlichen Faktoren bekannt, die das Altern beschleunigen, die Gefahr von Krankheiten im Alter erhöhen und unsere Lebenszeit verkürzen – aber praktisch scheint das keinen so richtig zu interessieren. Devise: „Ich doch nicht.“ Oder genauer: „Das betrifft doch (hoffentlich) mich nicht.“ Es gibt noch eine ganze Reihe von Varianten, z.B. „Wenn ich nur wollte, könnte ich schon, aber ich muss ja nicht …“ (Bekannt ist auch die spätere Variante: „Ich geh doch nicht ins Seniorenheim, da sind ja nur richtig alte Menschen.“)
Falls Sie sich einmal reinen Wein in Sachen biologisches Alter einschenken möchten, lade ich Sie gerne zu einem kleinen Spiel ein. Ich zähle im Folgenden bekannte Risikofaktoren auf (zugegeben etwas schwammig), und in Klammern nenne ich einen leicht fiktiven, aber nicht ganz aus der Luft gegriffenen Wert, um den Sie, „biologisch“ gesehen, älter sind, als Sie meinen oder als Ihr Personalausweis behauptet:
- Sie trinken mehr als eine Flasche Wein oder drei Flaschen Bier pro Woche (plus 1,5 Jahre).
- Sie sind stark übergewichtig (BMI größer als 30: plus 1,5 Jahre).
- Sie betreiben keinen Sport (plus 1 Jahr).
- Sie rauchen seit mehr als zehn Jahren (plus 2 Jahre).
- Ihr Blutdruck ist stark erhöht (größer als 160/95: plus 1,5 Jahre).
- Sie gehen so gut wie nie an die frische Luft (plus 1 Jahr).
- Sie essen viel Fleisch und Wurst (jeden Tag) und wenig Gemüse (plus 1,5 Jahre).
- Sie haben starken Stress bei der Arbeit und gehen daher häufig ungern zur Arbeit (plus 1,5 Jahre).
- Sie haben so gut wie keine Freunde bzw. nahestehende Menschen und sind sehr wenig in Kontakt (z.B. weniger als 1-mal pro Woche: plus 1 Jahr).
- Sie schlafen weniger als 6 Stunden pro Nacht (plus 1 Jahr).
Natürlich könnte man das alles auch positiv ausdrücken und andersherum berechnen, denn tatsächlich könnten Sie, wenn Sie sich in mehreren Punkten (z.B. Sport, Ernährung, Kontakte, Entspannung) aktiver oder gesünder verhalten, das biologische Alter „drücken“ (also vielleicht minus 1 Jahr oder minus 1,5 Jahre). Vielleicht beinhaltet das Ergebnis dieser Überlegung tatsächlich eine positive Überraschung für jene, die sich manchmal älter fühlen, als sie sind, oder eine Bestätigung für einige, die sich eben deutlich jünger fühlen, als es das amtliche Alter hergibt.
So oder so, es stimmt schon: Was wir bei aller gesunden Lebensführung auch brauchen, das ist eine angepasste Lebenseinstellung. Gelassenheit im Umgang mit Veränderungen, die uns zum Großteil vorgegeben werden, und Gelassenheit mit – ja so ist es – Einschränkungen, das muss man nicht per se als Verdrängung betiteln. Also doch ein Grund, ab und zu ein bisschen so zu tun, als ob ich 10 bis 15 Jahre jünger wäre? Das könnte eine gute Idee sein, zumindest für meinen Blog bzw. für einen Beitrag über L wie Leichtigkeit (passt aber auch gut zur Als-ob-Philosophie). Nicht zu verwechseln mit L wie Leichtsinn, wenn Männer in den Wechseljahren (meist sind es Männer) mit 55 so tun, als wären sie 25.
Was aber, wenn keinerlei Gelassenheit sich einstellen will? Dann hilft vielleicht eine eher psychotherapeutische Sicht bzw. „Konfrontation“. Das Thema Alter(n) hat häufig eine ähnliche Funktion wie andere psychische oder psychosomatische Symptome, z.B. Phobien, Zwänge, Essstörungen, Schmerzsyndrome: Es lenkt von tieferliegenden Problemen und wirklich schmerzhaften Fragen und Konflikten ab. Und das funktioniert umso besser, je mehr „Objektives“ auf dieser Projektionsfläche erscheint: Die Schmerzen sind ja nicht erfunden und die sonstigen Störungen können auch so faktisch wirken – genau wie Alterserscheinungen, egal ob Falten, Haarausfall, Besenreißer, Sehverschlechterungen oder Gehbeschwerden. Ja, ich bin nicht mehr der, der ich mal war. Nur können wir an den „objektiven“ Erscheinungen oft gar nicht viel machen, es sei denn, wir lassen uns „liften“ oder anderweitig jünger „spritzen“.
An was wir arbeiten können, das ist die Lebenskrise darunter, und da geht es dann doch um jene Verdrängung, die uns schadet: Welche Zeit ist abgelaufen? Was habe ich verpasst? Was verpasse ich gerade, indem ich immer so weiter mache? Was fürchte ich, nicht mehr zu erleben? Wenn z.B. ein Klient seit 30 Jahren im gleichen Job ist und sich schon 10 Jahre nur noch dahinschleppt – und nun die Devise ausgibt: „Die letzten 10 Jahre schaffe ich auch noch …“, dann würde ich sein Hadern mit dem Alter(n) dahingehend konfrontieren, dass wir nur mehr Leben ins Leben bekommen und das lähmende Gefühl der ablaufenden Uhr nur dadurch überwinden, dass wir etwas riskieren. Riskieren bedeutet: Es kann auch schief gehen. Wenn wir doch lieber ein bisschen depressiv oder gar ziemlich resigniert so weitermachen wollen wie bisher, ist es unsere Entscheidung.