G wie Gelassenheit

Es gibt Schnittmengen zwischen Psychotherapie und Achtsamkeitspraxis. Je nach Lebens- und Therapiephase kann es aber auch wichtig sein, beides auseinander zu halten: Während wir beim Erlernen der Achtsamkeit viel darüber erfahren, das Leben zu lieben, so wie es ist – und damit weniger von Begierden und Ängsten gesteuert zu werden –, wollen wir in der Therapie Klientinnen und Klienten unterstützen, sich mehr daran zu wagen, das Leben zu verändern, wie es noch nicht ist. Und das heißt, sich den Sehnsüchten, Ängsten und Konflikten zu stellen, statt sich in Gelassenheit oder gar des fränkischen „bassd scho“ zu üben. Andererseits, wahre Gelassenheit kann doch nicht schaden, oder?

Vielleicht kennen Sie diese Zen-Parabel (sonst finden Sie verschiedene Varianten davon im Web): Dem Bauer läuft sein Pferd weg. Die Nachbarn sagen: „Oh, welches Pech.“ Der Bauer antwortet jetzt und auch bei jeder weiteren Wendung der Geschichte: „Gut – schlecht – wer weiß das schon!“ Das Pferd kommt zurück und bringt ein Wildpferd mit. Die Nachbarn sagen: „Was hast Du für ein Glück.“ Wir kennen die Antwort des Bauern. Der Sohn versucht das Wildpferd einzureiten, stürzt herunter und bricht sich das Bein. Die Nachbarn sagen: „Was für ein Pech.“ Ja, genau, der Bauer sagt, was wir erwarten. Der Krieg beginnt, alle jungen Männer werden eingezogen, aber nicht der verletzte Sohn des Bauern. Undsoweiterundsofort.

Diese Geschichte könnte oberflächlich als Zen-Variation von „Hans im Glück“ erscheinen. Hier wie dort erscheint uns der Protagonist ein wenig einfältig und gleichzeitig beneidenswert weise, denn seine Einstellung hilft ihm, Unglück durch Bewertung zu vermeiden – bei Hans im Glück in der übertrieben verdrehten Form, dass er mit jedem „objektiven“ Verlust von Wohlstand offenbar noch glücklicher wird. Die sogenannte „Moral“ von der Geschichte steht beim Hans im Widerspruch zur Logik des Kapitalismus, das allein rechtfertigt grundsätzliche Sympathie mit Hans und seiner Geschichte. Bemerkenswert fand ich aber, als ich kürzlich auf ein Pixi-Büchlein mit Hans im Glück stieß, dass er am Ende mittellos und glücklich bei seiner Mutter landet, also nicht etwa im Erwachsenenleben! Freud lässt grüßen.

Und die Moral von „Wer weiß das schon“? Da es sich um eine Zen-Parabel handelt, können wir vermuten, dass es „mal wieder“ um heitere Gelassenheit geht. Der Protagonist lässt sich weder von den schicksalhaften Prüfungen des Lebens niederschmettern noch von unerwartet glücklichen Fügungen mitreißen. Nach dem Motto: „Alles darf sein, aber ich identifiziere mich nicht damit.“ Das ist buddhistisches Verständnis von Lebenskunst und Glück. Im Westen versuchen wir dagegen alle Tricks und Strategien zu erlernen, wie man mehr von den positiven Fügungen hin- oder abbekommt und weniger von negativen Fügungen behelligt wird. Daher erscheint uns spontan nur die eine Seite des Bauern, das Nicht-Hadern, vorbildhaft, die andere Seite ist wie verdeckt.

Positiv. Negativ. Wer weiß das schon. Von klein auf lernen wir zu bewerten, gut und schlecht, auch besser und schlechter zu unterscheiden. Es ist überlebensnotwendig und unverzichtbar: zu beurteilen, ob etwas für einen gewissen Zweck taugt oder nicht. Dies oder das schmeckt gut oder nicht so gut, ist bekömmlich oder vertrage ich eher nicht. Auch Werkzeuge können für einen bestimmten Zweck mehr oder weniger geeignet sein. Nennen wir dies das pragmatische Beurteilen. Es gehört zum Menschsein, verschafft uns weitgehende Freiheit von Instinkten und erspart uns viele Probleme und Frustrationen (etwa mit ungeeignetem Werkzeug etwas bewerkstelligen zu wollen) – ist aber keine Gewähr für Glück.

Auch das moralische und ästhetische Bewerten lernen wir von klein auf: Etwas ist gut oder böse, etwas ist schön oder hässlich. Dies gehört ebenfalls zum menschlichen Dasein, zum Zusammenleben. Nur tendiert das bewertende Denken dazu, exzessiv zu werden – ein Leistungsdenken, dessen Ideal eine (über)menschliche Maschine ist, die alles perfekt macht (Note 1), das einwandfreie moralische Handeln ebenso wie das große Kunstwerk oder den künstlerischen Gesang. Mit derartigem Leistungsdenken kommt uns die Lebendigkeit und Spontaneität abhanden, im „moralischen Leben“ sowieso, wir leben nur noch auf der Seite der Normen und verlernen unsere Bedürfnisse wahrzunehmen. Und im Kreativen ebenso: das angeborene Bedürfnis, sich auszudrücken, wird unterdrückt, die Kreativität erstirbt. Naja, nicht ganz, denn das Leben regt sich und wehrt sich glücklicherweise doch ab und zu.

Wir können das Leben ganz neu entdecken, es erscheint wie ein Erwachen, wenn es uns gelingt, Schritt für Schritt uns und andere immer weniger zu bewerten. Besonders schwierig dabei ist allerdings, das moralische Bewerten von Mitmenschen und ihren Handlungen – und damit auch von uns selbst – zurückzufahren. Heutzutage verstehen viele Menschen sogar den Begriff „Achtsamkeit“ moralisch: „Das war unachtsam von Dir (oder von mir)!“ „Ich wünsche mir mehr Achtsamkeit von Dir!“ Jon Kabat-Zinn, der die Achtsamkeitspraxis wissenschaftlich erforscht und mitbegründet hat, stellt dagegen fest, dass einer der wesentlichen Faktoren von Achtsamkeit das Nicht-Urteilen, das Nicht-Bewerten ist. „Es ist wie es ist.“

Solange wir andere Menschen schnell und streng bewerten, das ist das therapeutisch Interessante daran, solange ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir uns selbst innerhalb sehr enger Grenzen von Normen aufhalten, nicht für uns selbst eintreten, sondern für Normen: Dies tut „man“ nicht, das tut „man“ auch nicht. Dies oder jenes kann „man“ doch wohl erwarten. Usw. Wir machen uns und anderen das Leben schwer, weil wir ständig am Bewerten sind. Hier gibt es wieder eine Parallele zur Ästhetik. Vielleicht kennen Sie auch Musiker (in der Regel ambitionierte Hobbymusiker), mit denen man kein Konzert besuchen sollte, weil sie alles ständig bewerten und nichts richtig genießen können.

Der Mensch ist fast immer in der Lage, eine noch höhere Bewusstseinsebene zu erklimmen (die Philosophen haben dafür den Begriff der „Metaebene“ erfunden), in Bezug auf das Bewerten bedeutet dies, es als solches zu erkennen und damit zu relativieren: „Aha, da ist es mal wieder.“ Ich wehre es nicht ab, ich verdränge es nicht, ich kämpfe nicht dagegen an, ich lasse es bewusst zu und dabei auch schon wieder etwas los. Ich nehme es nicht als Wahrheit, sondern als Erscheinung meines Geistes und damit als gar nicht so wichtig. Fast immer ist uns eine solche Zen-Haltung möglich, nur nicht, wenn wir „auf 180“ sind und gleich zu explodieren drohen, oder wenn wir uns angegriffen oder bedroht fühlen – dann sollten wir zunächst die Situation verlassen und schauen, wie es uns möglich ist, runterzukommen und uns sicher zu fühlen.

Als Therapeut und Anleiter habe ich oft automatisch eine Beobachterrolle (obwohl ich ja auch Beteiligter bin!), daher fällt es mir gewohnheitsmäßig etwas leichter als den Klienten selbst, das exzessive Bewerten zu entdecken. Dann weise ich darauf hin, dass es für uns eine effektive Entspannungsmaßnahme und der psychischen Gesundheit sehr zuträglich ist, uns und andere weniger zu bewerten.

Wenn ich allerdings selbst, z.B. im Rahmen der „Selbsterfahrung“ (Eigentherapie, Workshops etc.) mit anderen Teilnehmenden auf Augenhöhe bin, also nicht in der Beobachterrolle, merke ich, wie anstrengend es sein kann, nicht zu bewerten. Während andere reden, redet mein „innerer Kritiker“ immer wieder dazwischen und bewertet: … „Na, jetzt komm aber mal zur Sache, bring endlich mal Butter bei die Fische!“ … „Ich finde nicht, dass dies hierhergehört!“ … „Übernimm doch mal ein wenig mehr Verantwortung, bevor Du alle anderen für schuldig erklärst!“ Doch mein innerer Kritiker bewertet genauso schnell und streng auch mich: … „Na, dagegen ist Deine Geschichte harmlos, eigentlich hast Du ja nur Luxusprobleme.“ … „Siehst Du, was andere geleistet haben, nicht so ein Weichei wie Du.“

Wenn die innere Stimme immer so hart oder brutal klänge, würden wir das bewertende Denken leichter enttarnen, oft geschieht es jedoch viel subtiler. Beim Bemerken des Bewertens ist entscheidend, dass der innere Kritiker nicht mit hinaufsteigt auf die Metaebene und uns auch noch für das Bewerten abwertet. Eher hilft ein zusätzliches inneres „Aha“ oder „Soso“. Wir haben die Möglichkeit, alles, auch das Bewerten mit Nachsicht zu behandeln oder sogar als Erkenntnischance zu nutzen, nämlich: wie wir durch Bewerten Leid erzeugen, wie uns aber auch dieses Leid zur Gelassenheit führen kann. Wir können zum Beispiel an jeden bewertenden Satz des „inneren Kritikers“ eine Formel unseres „inneren Zen-Meisters“ anhängen: „Gut – schlecht – wer weiß das schon?!“ Oder auch: „Es ist wie es ist.“ Das kann eine Entdeckung von Achtsamkeit in schwierigen Momenten sein.

Ich habe mir angewöhnt, und es geht viel um Gewöhnung, in Situationen, wenn etwas nicht klappt: im Verkehrsstau, mit dem PC, im Kontakt mit Menschen, auch bei eigenen Fehlern oder verpassten Chancen, wo ich früher spontan gedacht hätte (und nicht nur spontan, sondern noch Tage darauf): „So ein Mist!“ immer öfter mir innerlich vorzuflüstern: „Hm, soso, wer weiß das schon.“ Zugegeben, manchmal denke ich beides, denke an Mist und an Zen. Und ich weiß auch: Man kann die Gelassenheit des „Wer weiß das schon“ nur für sich selbst entdecken. Ich würde niemals auf die Idee kommen, jemand, der sich z.B. gerade das Bein gebrochen hat und unglücklich ist, die Antwort des Bauern zu empfehlen. Manchmal gibt es (noch) nichts Gutes am Schlechten, häufig glücklicherweise schon (irgendwann).