K wie inneres Kind (Teil 2)

Teil 1 handelt vor allem von der Willkommensarbeit für das innere Kind nach John Bradshaw.

John Bradshaw war geprägt vom Optimismus des psychotherapeutischen Aufbruchs in den 1970er und 80er Jahren, auch von der positiven Haltung zu „aufdeckenden“ Therapieverfahren. Nach und nach hat sich aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass solche Verfahren und auch die Arbeit mit dem inneren Kind, die prinzipiell stabilisierend wirken soll, zweifellos auch aufdeckend ist oder schnell werden kann und daher problemlos eigentlich nur von einem Teil der Klienten zu leisten ist: von denen, die im Leben (oder durch intensive Therapie) bereits eine gewisse Ich-Stärke aufbauen konnten. Dies ist bei komplex traumatisierten Patienten mit fortgesetzten Misshandlungen (oder Vernachlässigungen) in der Kindheit eben nicht der Fall.

Tatsächlich spalten viele komplex traumatisierten Erwachsenen ihre Kinder ab und fühlen sich nur sicher, solange diese nicht auftauchen! Für eine Arbeit mit dem inneren Kind müssen daher elementare Voraussetzungen geschaffen werden. Gabriele Kahn hat dazu 2010 ein sehr hilfreiches Fachbuch (also für Therapeut:innen) veröffentlicht: In kleinschrittiger Arbeit werden mit positiven Bildern und „Filmen“ ein sicherer Ort hergestellt (genaugenommen sichere Orte sowohl für das Kind als auch für den Erwachsenen!) und ideale Helfer aufgebaut, bevor die eigentliche „Rettungsaktion“ stattfindet, in der das Kind oder die Kinder gerettet werden und in Kontakt mit dem Erwachsenen gebracht werden.

Der „Trick“ besteht darin, dass nicht der Erwachsene das Kind retten muss, was viele Klienten überfordern würde und auch Widerstand auslösen könnte: Bei einem Teil von ihnen wird durch Verinnerlichung der Täterperspektive und Loyalität mit den Tätern das Kind entwertet, d.h. wenn das innere Kind überhaupt auftaucht, wird es abgelehnt, teilweise gehasst. Das Kind kann in diesen Fällen nicht vom Erwachsenen selbst, sondern nur von den Schritt für Schritt in der Phantasie aufgebauten Helfern gerettet werden. Eine Wiederbelebung der Traumainhalte soll dabei nicht stattfinden, insofern ist diese Arbeit nicht aufdeckend im Sinne früherer Therapien vor der Jahrtausendwende, aber doch weit mehr als stabilisierend – sie ist Teil des Heilungsprozesses. Gabriele Kahn spricht von „sanfter Traumaverarbeitung“.

Ich nehme an, wer dies liest, begreift wahrscheinlich, wie komplex und anspruchsvoll das Verfahren ist und wie viel Erfahrung sowohl mit traumatisierten Patienten als auch mit Imaginationsarbeit sie voraussetzt. (Genaugenommen ist es noch komplexer, da G. Kahn die für die Traumatherapie entwickelte EMDR-Technik einbezieht.) Für die Laien unter Ihnen lautet die Botschaft: Sie sollten sich selbst nicht überfordern! Natürlich kann man gewissermaßen jede therapeutische Arbeit als Arbeit mit dem inneren Kind verstehen. Die meisten Patient:innen können im geeigneten Rahmen von vielen verbreiteten Methoden oder Übungen wie „Brief an die Eltern“ (aus Sicht des/der Kleinen), Stuhlarbeiten wie „was meint der Kleine dazu“, Rituale wie „die Last der Kindheit zurückgeben“, Glaubenssätze ändern oder austauschen nach dem Motto „raus aus den Kinderschuhen“ usw. profitieren. Es gibt aber Menschen, wo der bedürftigste und am stärksten verletzte kindliche Teil des Klienten auf diese Weise unerreichbar bleibt. 

Falls sie den Eindruck haben, das mit dem inneren Kind funktioniert bei Ihnen nicht und es besteht ein traumatischer Hintergrund dafür, gibt es zwar dennoch Optionen, aber erstens nur mit professioneller Hilfe. Zweitens gelten selbst dann grundlegende Bedingungen: Es darf zum Zeitpunkt der Arbeit keinerlei Kontakt zu den Tätern bestehen. Das ist z.B. nicht möglich, wenn die Klienten weiterhin oder wieder bei den Tätern wohnen; aber schon ein ständiger Telefonkontakt reicht aus, um die Arbeit zu vereiteln. Außerdem muss der Klient in einigermaßen sicheren Verhältnissen leben, auch das ist vielfach bei traumatisierten Klienten nicht gegeben (z.B. wenn kein Halt im Alltagsleben besteht). Insofern sollten wir – Therapeuten und Klienten – uns nicht auf die Arbeit mit dem inneren Kind fixieren, als ob es der einzige Weg für die Therapie wäre.

Gabriele Kahn: Das Innere-Kinder-Retten. Sanfte Traumaverarbeitung bei Komplextraumatisierung, Gießen 2010, siehe auch ihre Website