Psychotherapeutische Patienten sind in Therapie, weil sie in einer Lebenskrise stecken: eine mehr oder weniger dramatische Veränderung liegt hinter ihnen (z.B. ein großer Verlust) oder sie stehen vor einer dramatischen Herausforderung (z.B. wirklich erwachsen werden, sich auf eigene Beine stellen), sie fühlen sich überfordert. Krise ist in der Medizin eine Wende, die mit Gefahren verbunden ist. Von dieser dürfen wir uns nie abwenden!
Patientinnen denken in dieser Lebenssituation manchmal, und dem folgen viele Therapeutinnen, die Krise sei „nur der Anlass“ und die Ursache für das seelische Tief liege: tiefer. Das klingt sehr plausibel und irgendwie löblich: dass man das Übel an der Wurzel beheben will. Für den Patienten mag diese Logik tragfähig erscheinen, für die Therapie ist sie es meist nicht, folgen Therapeuten ihr, so handelt es sich oft um missverstandene Empathie oder unbewusste therapeutische Arroganz (den Patienten retten zu können).
Empathie ist das A und O der Therapie, aber sie darf uns nicht schnurstracks in die Abgründe von Kindheit und Trauma führen. Die große bis ominöse Frage nach dem WARUM führt viel seltener zum Therapieerfolg als Betroffene und z.T. auch Therapeuten annehmen, v.a. weil die Antwort auf das „Warum“ (geht es mir so schlecht?) zu schnell, zu oft, zu einseitig in der Vergangenheit gesucht wird.
Warum! Über die Arten von Ursachen streiten Philosophen seit Jahrtausenden. Und dabei geht es nur um naturwissenschaftliche Zusammenhänge. Wie komplex ist es erst, wenn es um psychosoziale „Kausalitäten“ geht! Da lebt ein Mensch 50 Jahre mehr oder weniger erfolgreich und zufrieden, dann geht sein Betrieb pleite und die Frau verlässt ihn. Nun sieht so aus oder man erkennt jetzt, dass schon zuvor nicht alles rosa oder gold gewesen, sondern manches schiefgelaufen ist. In der Therapie entdeckt er seine frühkindliche komplexe Traumatisierung: dass die Mutter ihn nicht wirklich geliebt und der Vater ihn nicht anerkannt, ihn nie gelobt hat. Schon, schon, daraus lässt sich manche Schlussfolgerung auf seine Arbeitseinstellung und Beziehungsfähigkeit ziehen und erklären, warum dieses so und jenes so gelaufen ist, vor allem in der Rückschau. Doch was heißt das für die aktuelle Therapie?
Muss jetzt erst das Trauma bearbeitet werden (die vermeintliche Ursache), bevor es im Leben weitergehen kann? Nein, hinter dieser eindeutigen Formulierung verbirgt sich ein eindeutiger Irrweg! Um es noch deutlicher und warnender zu formulieren: Patient*innen können durch zu viel und falsch verstandene Empathie genauso „retraumatisiert“ und in pathologische Regression geführt werden wie durch zu wenig Empathie. Ich habe es schon oft erlebt, dass Therapeutinnen das Trauma mit allen Details und Aspekten schildern konnten, aber auf Nachfrage nahezu nichts über die aktuelle Lebenssituation und Krise wussten oder dem wenig Bedeutung gaben.
Wir müssen die aktuelle Krise des Patienten primär aus dem aktuellen Leben heraus verstehen (natürlich sehen wir auch das, was sich im Leben musterartig wiederholt) und mit ihm/ihr prüfen, was davon überhaupt psychotherapeutisch bearbeitet werden kann – und was es sonst noch braucht. Dem dient eine Anamnese, die nicht nur auf schubladenartige Diagnosen zielt, wie sie das Abrechnungssystem und die Therapeutenkommunikation benötigt, sondern auf Verständnis der akuten Lebenssituation. Denn wenn der Patient die Therapie verlässt, wartet genau diese Krisensituation auf ihn, weder seine Kindheit noch sein Trauma! Die ambulante Therapie hat mit dieser Herausforderung Woche für Woche, Termin für Termin zu kämpfen – was intensive, zumindest aufdeckende therapeutische Arbeit so schwer macht (wir wollen die Patientin ja halbwegs stabil, also gerade noch gutem gefühl entlassen). Für die stationäre Behandlung gilt dies zwar anders, aber nicht weniger heikel, denn in der Klinik lässt sich die Lebenskrise phasenweise verdrängen und meldet sich eventuell erst wieder mit Entlassungsängsten oder depressiven Verschlimmerungen gegen Aufenthaltsende.
Bei akutem Überforderungserleben ist die Neigung groß, in alte Ohnmachtsgefühle kindlichen oder traumatischen Ursprungs zu versinken. Als Therapeut verstehe ich das und muss dem Patienten Verständnis und Mitgefühl dafür geben. Doch genauso wichtig wird es dann, mit dem Patienten herauszuarbeiten, dass er oder sie gar nicht in der ehemaligen Situation steckt, sondern „nur“ oder „stattdessen“ in einer aktuellen Lebenskrise, die mit ähnlichen Ohnmachtsgefühlen verbunden ist.
Zunächst einmal geht es darum, Ohnmacht nicht zu unterdrücken, das stärkt depressive Tendenzen, oder gar versuchen sie wegzumachen, zu verdrängen – das verstärkt Angststörungen. Zulassen, hinschauen, erforschen und differenzieren. Wenn Betroffene nicht mehr die Krise von jetzt mit der Krise von damals verwechseln, fällt es ihnen leichter, als eigenverantwortliche Erwachsene zu sehen, was sie selbst tun können und auch, was sie allein nicht leisten können, um die derzeitige Krise zu überstehen oder zu bewältigen.
Bevor oder während es aber an die eigentliche (Re-)Aktivierung und das „Training“ der Ressourcen geht, braucht es die vollständige Einsicht in die Krise – und das bedeutet häufig, dass der Therapeut „konfrontieren“ muss, d.h. mit dem Patienten auf das im aktuellen Leben schauen, worauf der/die Betroffene gerade nicht schauen kann oder will. (Manchmal handelt es sich dabei sogar um geheime Sehnsüchte, etwa unerfüllten Kinderwunsch.)
Auf meinen Realitätencheck, den ich auch ABC-Anamnese nenne, reagieren Patientinnen oft spontan entsetzt. Diese Reaktion wird selten in klare Worte gefasst, aber sie kann schon mal etwa so lauten: „Reicht es denn nicht, dass die Arbeitsagentur, mein Partner und meine Eltern mir Druck machen – jetzt ausgerechnet auch noch Sie, der Therapeut?!“ Das ist nachvollziehbar.
Meist erhalte ich dennoch die Chance, die Sicht zu erklären und nahezubringen: Unser Leben in dieser Gesellschaft ist sehr stark von Arbeit und exklusiven Paarbeziehungen (auch wenn sie geschieden werden) sowie, etwas weniger stark (als früher oder als in anderen Gesellschaften, aber noch stark genug) von der jeweiligen Herkunftsfamilie geprägt, damit verbunden auch von selbst erarbeitetem (oder von der Familie transferiertem) Einkommen oder Eigentum. Wenn es bei Ihnen in mehreren dieser Dimensionen schlecht aussieht, sind die anderen Dimensionen stärker belastet und eventuell ebenfalls gefährdet.
Wenn Sie weder Arbeit noch Partnerschaft haben, weder über eigenes Einkommen oder Eigentum verfügen noch aus ihrer Herkunftsfamilie finanzielle und im weitesten Sinne „moralische“ Unterstützung (Rückhalt) erfahren – was dann? Dann sind Sie entweder die Ausnahmeerscheinung, ein erfolgreicher „Aussteiger“, eine mehr oder weniger erleuchtete Lebenskünstlerin … oder Sie führen wahrscheinlich, um es drastisch zu sagen, ein Leben zweiter Klasse.
Nicht ich bin hart, der das so formuliert, sondern das Leben ist hart. Von mir aus könnten Sie auch sagen: die Gesellschaft ist hart. Nur geht es in der Psychotherapie weder um Moral noch um Gesellschaftskritik, unser Bestreben ist es nicht, den Schuldigen zu finden, und sei dies die abstrakte Gesellschaft oder der Kapitalismus. Unsere Aufgabe besteht vielmehr darin, Ihnen zu helfen zu erkennen und zu lernen, wie Sie mehr „Leben“ aus dem Leben herausholen können.
„Für mich müssen Sie nichts leisten. Sie sind, so wie Sie sind, lebens- und liebenswert, auch wenn es gerade in Ihrem Leben keinen Halt zu geben scheint, auch wenn Sie gerade scheinbar nichts auf die Reihe bringen.“ Diese Willkommens-Botschaft versuche ich Patientinnen immer wieder zu vermitteln. Das Problem ist nur: Menschen in einer Lebenskrise haben einen stark verminderten Selbstwert – viele nehmen es mir im Herzen nicht ab, dass sie lebens- und liebenswert sind. Dann ist die Neigung groß, dem inneren Kind die Führung zu überlassen, dass vielleicht denkt: „Wir waren ja noch nie gut genug.“
Tatsächlich ist es ein großes Kunststück, unseren Lebenswert völlig frei von den gesellschaftlichen Ressourcen und Maßstäben wie Arbeit, Einkommen, Partnerschaft, Familie etc. zu definieren. Das setzt beinahe Erleuchtung voraus. Aber es ist möglich, das innere Kind an die Hand zu nehmen, uns klar zu machen, dass wir uns heute als Erwachsene selbst die Erlaubnis zum Leben und die Anerkennung geben können – und uns den Lebenskrisen und Herausforderungen zu stellen. Das klingt anstrengend, und daher heißt Therapie auch oft „Arbeit“.
Es gilt, das Bewusstsein dafür zu stärken, welche Krisen Sie in der Vergangenheit erfolgreich überwunden haben – jede(r) Patient(in) hat einige Krisen bewältigt, bevor sie zu uns in Therapie kommt. Wir helfen den Betroffenen herauszufinden, über welche Ressourcen sie verfügen, um in Krisen zu bestehen. Es lohnt sich, konkrete Methoden und Maßnahmen zu sammeln und festzuhalten, die bei akuter Verschlimmerung, bei Rückschritten und Rückschlägen helfen, einen Krisenplan oder Notfallzettel zu erstellen mit der Frage: „Wie kann ich mir seelisch, geistig, körperlich und sozial Gutes tun, wenn es mir akut schlecht geht?“ Betonen möchte ich an dieser Stelle, dass dabei die körperlichen und sozialen Wohltaten nicht vergessen werden dürfen. Ein Krisenplan und Notfallzettel darf nicht unter dem Motto stehen: „Ich muss alles alleine schaffen …“
Abschließend noch eine Art Warnhinweis: Einer der therapeutischen Kardinalfehler, zu dem Patienten wie Therapeuten neigen, besteht darin, die Messlatte zu hoch, das Ziel zu anspruchsvoll und den nächsten Schritt zu groß zu wählen – was zu unnötigem Scheitern und wiederkehrendem Misserfolgserleben führt, damit auch zur (weiteren) Selbstabwertung. Was konkret „aus dem Leben rauszuholen ist“ im Einzelfall, wir wissen es oft nicht, daher lieber zehn kleine Schritte, mit zwei, drei Rückschritten, die wir erwarten können, lieber als große Schritte, die nicht unternommen werden, in Sackgassen führen oder zum Scheitern verurteilt sind.
Bei „zehn kleine Schritte“ fallen mir die „zwölf Schritte“ ein (mit einer etwas anderen Bedeutung), um die es in vielen Selbsthilfegruppen geht. Tatsächlich: Um Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen, Selbstwert und Selbstbewusstsein zu stärken, braucht es nicht nur regelmäßige (!) ambulante Therapie, sondern auch Selbsthilfegruppen, Kommunikation auf Augenhöhe mit Mitbetroffenen, im Gefühl, nicht allein und unfähig zu sein. Oder zu manchen Aktionen wirklich „unfähig“, nicht in der Lage zu sein, aber dennoch sich und das Leben zu lieben. Das kann zwar auch mal ein guter Freundeskreis leisten, erfahrungsgemäß sollte man jedoch selbst gute Freundschaften nicht zu sehr mit therapeutischen Themen strapazieren.
Und ja, es ist prinzipiell möglich, ein zufriedenstellendes Leben jenseits der typisch bürgerlichen Ressourcen und Maßstäbe zu führen, ein Leben, was von vielen in der Mitte der Gesellschaft, für den „Mainstream“, als ein Leben zweiter Klasse angesehen würde. Möglich ist dies, nur kann ich aus eigener Überzeugung niemand raten oder gar helfen, sich auf diesen Weg zu begeben. Auf einen erfolgreichen Aussteiger kommen nach meiner Wahrnehmung viele gescheiterte, auch wenn diese Wahrnehmung verzerrt ist, ich weiß, da die erfolgreichen ja nicht bei uns in der Klinik landen! Auf die meisten unserer Patient*innen jedenfalls wartet ein besseres Leben IN dieser Gesellschaft. Es wird anstregend und es lohnt sich.
Und nochmal ja, es gibt Patient*innen, die sich in einem Leben „zweiter Klasse“ eingerichtet haben oder einrichten wollen. Es gibt keine guten und schlechten Patienten! Allerdings muss ich als Therapeut mit jedem Patienten klären, was eigentlich das therapeutische Thema und Ziel ist – und ob ich dafür arbeiten will.
PS. Bei jeder Gelegenheit, wenn es um Krisenbewältigung geht, möchte ich ein von mir sehr geschätztes „Tool“ bewerben: Wenn Menschen keine totale Schreibhemmung haben, plädiere ich für ein therapeutisches „Tagebuch“ (in Anführungszeichen, weil es nicht jeden Tag geführt wird, sondern nur bei Bedarf). Denn manchmal mögen Betroffene ihr Leiden, aber auch ihre Sehnsüchte, ihre verrückten Ideen, ihre Pläne … niemandem zumuten (nicht mehr oder noch nicht). Dem Tagebuch als engstem Vertrauten können sie alles zumuten. Und durchs Schreiben werden Prozesse sortiert und fürs eventuelle Besprechen in der Therapie vorbereitet.