Für ein Wesen aus dem Weltall, das sich auf die Erde verirrt hat, könnte es verblüffend sein, was die Menschen meinen zu müssen. Um neue Perspektiven in die Therapie zu bekommen, denn die gewohnten sind nicht hilfreich genug, braucht es manchmal radikale Gedankenexperimente, bis hin zu: Das Gegenteil könnte auch richtig sein.
Ich höre als Therapeut sehr oft: „Ich muss …“ Das fängt schon an mit: „Ich muss Therapie machen!“ Wenn ich dann entgegne: „Sie müssen gar nichts“, rollen die Patienten mit den Augen und mancher sagt: „Naja, Sie wissen schon …“ Nö, ich weiß gar nichts. In diesem Fall meinen wohl die meisten: „Ich muss da halt durch“ und können noch nicht sehen oder erst recht noch nicht sagen: „Ich will da durch!“
Im weiteren Verlauf der Therapie geht es beim Thema „müssen“ oft um explizite oder verdeckte Aufträge, z.B. familiäre, oder „Jobs“, die die Klienten meinen erfüllen zu müssen. Wie oft ich z.B. schon den Satz gehört habe: „Ich muss meine Mutter pflegen.“ Ich stelle dann manchmal unschuldig die Frage: „Ah, Sie sind Einzelkind …?“ Meist eben nicht, und neben der Mitverantwortung der Geschwister gibt es in der Regel noch einige sonstige Optionen, und sei es die Option Pflegeheim. Es gibt für alles ein Für und Wider, aber nicht dieses Pseudo-Naturgesetz: „Ich muss“! Therapie machen bedeutet, mehr und mehr Verantwortung zu übernehmen (und auch das Loszulassen, was nicht zu ändern ist).
In vielen Fällen hat die Mutter der Klienten diesen das Leben echt schwer gemacht. Es geht in der Therapie nicht darum, Schuld festzustellen oder Schuldige zu finden, aber um die Konfrontation mit der Realität. Viele Mütter „hatten“ ihr Leben bereits, und zum Teil ging das auf Kosten der Kinder. Ganz ohne Vorwurf: Irgendwann muss mal Schluss sein. Muss? Nein, nichts muss, aber es könnte, wenn man wollte. Wie lange „müssen“ Sie noch warten, bis Sie sich als wichtigsten Menschen in Ihrem Leben anerkennen?
Mit reichlich Skepsis begegnen Patient*innen dem Satz: „Sie müssen hier nichts leisten!“ In den staunenden Gesichtern steht geschrieben: „Aber was bin ich denn dann wert?“ Das ist die große Frage, wenn mensch gewohnt ist, sich das Existenzrecht, den Status „wertvoll“ immer wieder zu verdienen durch Leistung(en). Der Haken an dieser liebenswerten, aber schlechten Gewohnheit: Die tiefsitzende Selbstwert-Unsicherheit verschwindet nicht, sondern verfestigt sich durch Verstärkung der ungesunden Glaubenssätze. Sehr gut zu beobachten ist das bei Menschen mit Helfersyndrom, aber mit etwas Erfahrung auch bei jedem anderen mit einer ständig gut gefüllten to-do-Liste.
To be or not to be. Das war einmal. Heute gilt: To do or not to do. Wie viele Menschen leiden unter ihren aufgeschriebenen oder heimlichen to-do-Listen, und gleichzeitig geben diese ihnen Halt. Denn, ohne to-do-s, ohgottohgott, wie verlassen würden wir uns fühlen, wenn wir nichts mehr müssten! Die Angst vor der Freiheit ist vor allem eine Angst vor der existenziellen Scham und der Frage: Bin ich richtig, bin ich gut genug?
Also, heute gibt es eine therapeutische Hausaufgabe: Schreiben Sie mal nach und nach alle Sätze auf, die Sie von inneren Stimmen hören oder sich selbst vorsagen und die mit „Ich muss“ beginnen: von „Ich muss aufräumen“ bis „Ich muss mal wieder Urlaub machen“. Wenn Sie einige Tage gesammelt haben, versuchen Sie, jedes „Ich muss“ durch „Ich will“ oder „Ich habe mich entschieden“ zu ersetzen; vielleicht streichen Sie auch nebenbei ein paar Sätze ganz. Falls Ihnen das einen Erkenntnisgewinn verschafft oder sogar Freude gemacht hat, dann probieren Sie im Alltag immer mal wieder, wenn Ihnen ein „Ich muss“ gerade über die Lippen rutschen mag, ein „Ich will“.
Sie könnten, eben auf den Geschmack gekommen, im Stadium des Fortschreitens auch jedes „Ich kann nicht“ durch „Ich will nicht“ zu ersetzen versuchen. Ich weiß, Sie denken: „Jetzt spinnt er völlig!“ Vielleicht, doch es ist eine aufschlussreiche und nützliche Übung. Versprochen: Sie müssen dabei manchmal über sich selbst lachen 😉 Müssen? Wollen? Können!
Es geht darum, neue Perspektiven entstehen zu lassen und auszuprobieren. Manchmal wirkt dies nach einer ersten Irritation sehr entspannend. So kann ich z.B. sagen „Ich muss spätestens um 10 vor 6 aufstehen (… um nach Duschen, Gymnastik, Frühstück, Aufräumen rechtzeitig zur Arbeit zu kommen …). Ich muss mich wirklich ranhalten.“ Wie klingt das für Sie? Anstrengend? Zwanghaft? Naja, manchmal fühlt es sich so an. Aber zur Realität gehört auch: Wenn ich dieses Programm so „durchziehe“ und mich, nachdem der Wecker klingelt, ranhalte, habe ich wenig Chancen, meinen morgendlichen depressiven Verstimmungen, den Nachwirkungen nächtlicher Alpträume und den Erwartungsängsten, was Schlimmes geschehen könnte, viel Raum zu geben – und von Minute zu Minute geht es mir besser. Also könnte ich auch sagen: „Ich muss es nicht, ich will es so machen.“
Sehr häufig hören wir als Therapeuten auch: „Ich muss ständig daran denken“. Es kann sich um ein schlimmes Ereignis, eine verflossene Liebe oder aktuelle Verliebtheit handeln, um Schuldgefühle, Sorge um die Kinder oder das eigene Körpergewicht usw. Meistens gibt es einen „objektiven Kern“, so etwas wie einen unumstößlichen Fakt, der begründet, warum dieses Daran-denken-müssen für alle so plausibel wirkt (und deshalb unbewusst oft als Schutzbehauptung und zur Manipulation eingesetzt wird).
In der Regel dient das Ich-muss-daran-denken-Thema als Projektionsfläche für Lebensängste aller Art, unsere ganze innerpsychische Konfliktenergie kann sich dort entladen. Und was wie ein „Fluch“ wirkt, ist gleichzeitig auch „Segen“, weil der Betreffende durch diese Ablenkung sich nicht seinen viel größeren Problemen stellen „muss“. Das klingt absurd, denn die Betroffenen wollen ja in der Regel diese faszinierenden (=fesselnden) Gedanken loswerden, sie wollen das zumindest auf der Bewusstseinsebene, doch de facto klammern sie sich oft daran fest.
Es hilft verständlich zu machen, dass „loswerden“ sowieso nicht funktioniert. Und dann kann man es mal mit der Version versuchen: „Ich darf daran denken, so oft und so viel ich will.“ (Es hilft aber auch, diese zwanghaften Gedanken ab und zu niederzuschreiben und dies dann wegzulegen, um sich zu vergewissern, dass man sich jetzt erstmal genug damit befasst hat. Außerdem zeigen sich manchmal interessante Veränderungen, wenn man in Abständen wiederholt die Gedanken notiert. Oder wir verändern sie experimentell vorsätzlich.)
Das Experiment kann die ganze Reihe von Glaubenssätzen umfassen, die mit „ich muss“ anfangen und besser, zumindest ab und zu mal, durch „ich will“ gestartet werden sollten. Da gibt es z.B. das Muster „ich muss erst (z.B. mein Trauma loswerden) …bevor“. Auf diese Weise kann man eine Menge Leben verpassen: wenn man Bedingungen stellt. Und es gibt Wünsche, die in die aburde aber durch Gewohnheit zwingend wirkende Form des „muss“ genötigt werden: Was man angeblich alles noch im Leben erleben und erreichen „muss“. Immerhin, könnte man sagen, steht da jeweils schon der Betreffende selbst im Mittelpunkt. Anders bei jenen, die meinen alles Mögliche für andere leisten zu müssen: „Ich muss dieses … und jenes …“.
Als Therapeut bin ich – wieder mal – im Vorteil: Ich habe diese Experimente schon so oft angeregt und angeleitet, habe schon so oft selbst die Umkehrung eines Satzes vorgebetet, dass es mir leicht fällt – und manchmal macht es bei mir selbst im Alltag plötzlich „Klick“ und ich „muss“ schmunzeln. Es funktioniert allerdings nur, wenn es freiwillig geschieht. Wenn Sie also noch wenig Therapieerfahrung haben: Heben Sie sich die Übung für später auf! Am Anfang würden Sie es wie einen Zwang zum positiven Denken empfinden, und dieses Empfinden ist nicht hilfreich weder für die Therapie noch fürs Leben. Sie müssen nicht positiv denken: Sie dürfen alles, was besch… ist, auch besch… finden! Aber vielleicht denken Sie manchmal auch an das extraterrestrische Wesen, was sich auf die Erde verirrt hat, und staunt, was wir alles meinen zu müssen. Vielleicht möchten Sie mal eine Phantasiegeschichte in ihr Tagebuch notieren, mit dem Arbeitstitel: „Was für mich selbstverständlich ist, aber worüber sich das Wesen aus dem All gar nicht genug wundern kann.“