S wie Systemische Therapie

Ein kleiner Schritt, den ein Patient tatsächlich geht, ist tausendmal mehr wert als ein großer Schritt, von dem er nur träumt oder den er sich immer wieder vergeblich vornimmt. Was hat das mit Systemischer Therapie zu tun? So wie ich sie verstehe, ist sie sehr konstruktiv – obwohl das nicht unbedingt naheliegt, denn bei „System“ denken viele Patienten anfangs, es ginge darum, dass das System schuld ist an ihren Problemen. (Etwas pointiert würde ich sagen: Auf dieser Assoziation beruht bisweilen der Wunsch nach einer „systemischen“ Aufstellung.)  

Tatsächlich begreift die Systemische Therapie die Symptome des Klienten aus seinem sozialen Netz, vor allem der Familie, aber z.B. auch aus dem Arbeitsumfeld. Dabei geht es primär nicht darum, was irgendwann früher in der Kindheit des Klienten einmal schiefgelaufen ist, sondern wie das System heute funktioniert – wenn auch durchaus mit Blick auf die Entstehungsgeschichte und tradierte Regeln, die im System vielleicht schon immer galten.

Der Begriff „Patient“ ist hier weniger beliebt, weil er von Leiden kommt und Passivität wie in „Erleiden“ beinhalten kann. Außerdem wird der Patient nicht als das Problem, sondern als Symptomträger für das System gesehen. Das Symptom leistet etwas Wichtiges für das System, sonst wäre es nicht da. Diese Sicht entlastet den Klienten von möglichen Schuldgefühlen für seine Symptome, aber nicht indem die Schuld auf andere verlagert wird; d.h. es sind auch nicht die Eltern oder die Familie „schuld“ am Symptom, sondern Gesetzmäßigkeiten und Nöte des Systems führen zum Symptom. Und der Symptomträger kann sich im günstigsten Fall dafür entscheiden, dafür nicht mehr zur Verfügung zu stehen. Als entlastend wird manchmal ebenso empfunden, dass Diagnosen keine so große Rolle spielen wie in anderen psychotherapeutischen Richtungen.

Man kann alle Arten von Systemen betrachten. Sehr verbreitet ist neben der Arbeit mit dem Familiensystem die mit dem „inneren System“ des Klienten. Bekannte Protagonisten in diesem System sind etwa das innere Kind oder der innere Kritiker, aber je nach Betrachtung kann sich da ein größeres „inneres Parlament“ an Anteilen finden oder ein „inneres Ensemble“ von Rollen, die auf der inneren Bühne spielen.

Die systemische Haltung zeigt sich in typischen Fragen und Interventionen (Aktionen), die allerdings je nach Schule unterschiedlich eingesetzt und vor einem anderen philosophischen Hintergrund gehandhabt werden. Ältere Richtungen tun manchmal so, als hätten sie die Wahrheit über Systeme gepachtet, z.B. was eine „gesunde“ Grammatik fürs System ist; jüngere Schulen sind eher konstruktivistisch-experimentell unterwegs. So viel sollte jedenfalls klar sein: Als Therapeut arbeiten wir weder für die Familie noch für gesellschaftliche Instanzen (z.B. für die Kranken- oder Rentenversicherung oder den Arbeitgeber), sondern für den Klienten und sein Anliegen – sofern wir es für sinnvoll halten.

Für uns Therapeuten ist dieses Verfahren ideal, denn wir können uns zurücklehnen: Die Symptome sind weniger ein Problem als eine Lösung. Der Patient ist der Experte für sein Leben, ich behandle ihn nicht, ich begleite ihn. Wenn ich mich doch mal von der Rückenlehne nach vorne beuge, dann um ihn (oder sie) zu konfrontieren – mit einer Umdeutung seiner Erlebnisse und Muster (Reframing), mit geradezu frechen Vorschlägen, mit Fragen und Aufgaben, die ihm ständig klar machen, dass er (sie) den „Job“ hat, etwas zu verändern, und nicht ich. Außerdem ist die systemische Therapie eine Art positive Psychologie: Wir schauen darauf, wie wir, also letztlich die Klienten, mehr von dem hinbekommen, was klappt.

Warum lassen sich Patient*innen auf solch ein ungleiche Arbeitsteilung ein? Erstens haben sie genug Leidensdruck und vielleicht schon andere, vergebliche therapeutische Versuche hinter sich. Zweitens vertrauen sie mir und fühlen sich trotz aller Provokationen gesehen und gemocht – das muss ich schon hinbekommen. Drittens bekommen sie von Stunde 1 an ständig neue Perspektiven, die sie auch emotional entlasten. Nicht zuletzt sorgen therapeutische Aufgaben, wenn wir sie angemessen wählen, für eine wachsende Zahl an Erfolgserlebnissen und ein damit steigendes Gefühl der Selbstwirksamkeit.

Die wahrscheinlich bekannteste systemische Methode ist die Aufstellung, und aus meiner Sicht besteht ihr Hauptnutzen in neuen Perspektiven. Das beginnt schon vor der eigentlichen Aufstellung in der Auftragsklärung, wenn dem Klienten bewusst wird, dass wir nicht hier sind, um in die Glaskugel zu schauen, sondern damit er (sie) hinterher etwas anders macht im wahren Leben. Die nächste neue Perspektive hat er vielleicht, wenn er seine Stellvertreter (z.B. für Bruder, Schwester, Vater, Mutter, Chef) aufgestellt hat – obwohl er es selbst war, der sie dahingestellt hat, wird er vielleicht erstaunt sagen: „Huch, so habe ich das ja noch nie gesehen.“ (Natürlich können wir ihm bei diesem Aha-Erlebnis mit unserer systemisch feingeschliffenen Brille etwas helfen … :-)) Naja, und dann erst, wenn die Stellvertreter sich frei bewegen und ihren Impulsen folgen. Da staunt der Laie und er Fachmann freut sich.

In der Einzelberatung müssen wir das oft spektakuläre Geschehen in der Aufstellung durch Fragen und Tricks ersetzen: „Wie geht’s Ihnen zwischen 1 (mies) und 10 (super)? … Aha, 1 – warum ist es nicht noch schlimmer? Wie haben Sie es bis in mein Büro geschafft?“ Diese eine Frage, die sogenannte Skalierungsfrage, in Varianten immer wieder gestellt, soll den Klienten zum einen vom Schwarz-Weiß-Denken (es gibt nur ganz oder gar nicht, gesund oder geheilt usw.) abbringen, zum andern mehr und mehr das Gefühl vermitteln, dass er (sie) am Regler dreht, einen wesentlichen Anteil daran hat, wo der Zeiger im Moment steht. Und dass dies kein Jammer ist, sondern sein Glück! Er kann die Suche nach dem idealen Retter aufgeben, wenn er sich selbst zu helfen weiß.

Dies kann nicht bei jedem Klienten und schon gar nicht auf Anhieb funktionieren. Natürlich gibt es Klienten, die gar keine sind, sondern Patienten, also Leidende, die eigentlich vor allem zum Jammern gekommen sind, damit wir sie verstehen und vielleicht ihnen wieder einen kleinen Zuspruch für den nächsten Tag oder die Woche mitgeben. Das ist völlig legitim! Diese Patienten sind nicht schlechter als andere, aber auch sie müssen – oder wie der Therapeut sagt: dürfen – lernen, dass sie Einfluss auf ihr Leben haben.

„Nein, Herr Wagner, ich habe keine Idee, wie ich aus der Depression rauskomme.“ – „Okay, wie wäre es denn, wenn sie sich noch etwas tiefer in die Depression hineinarbeiten? Morgen möchte ich sie noch etwas schlimmer dran in der Sprechstunde sehen.“ Das klingt erstmal nach einem Witz, ist aber voller Ernst: die paradoxe Intervention oder Symptomverschreibung. Die Logik dahinter: Wenn der Patient merkt, dass er etwas zur Verschlimmerung beitragen kann (z.B. nicht aufstehen, sondern die Rollläden unten lassen und die Decke über den Kopf ziehen), bekommt er auch erste Ansätze einer Idee, wie er zur Verbesserung beitragen kann. Abgesehen davon erzeugt manchmal schon die reine gezielte Verwirrung für nachfolgende Erkenntnisse und Änderungsimpulse.

Da wir im Einzelsetting keine Aufstellung mit Stellvertretern machen können (höchstens mit Schablonen oder Figuren), werden wir versuchen, auf andere Weise an alternative Informationen aus dem System zu kommen: „Was denkt Ihr Sohn, was sich Ihre Frau davon verspricht, dass Sie gerade hier Therapie machen?“ Upsi, was ist das denn: eine zirkuläre Frage. Wir versuchen so, das schematische und vom Leiden (z.B. Depression) geprägte, klischeehafte Denken des Klienten auszuhebeln.

Berüchtigt für neue Perspektiven ist die Methode des Reframing. „Ich hatte immer Pech mit meinen Männern, alle vier waren sie Narzissten.“ „Wie haben Sie das denn geschafft? Offenbar haben Sie einen Hang zum Narzissmus.“ (Klar, man muss dabei als Therapeut immer aufpassen, dass sich die Klientin nicht auf den Arm genommen fühlt.) Oder: „Ich habe die Essstörung schon 25 Jahre …“ Da hätte ich als systemischer Therapeut mindestens zwei Antwortoptionen. Variante 1: „Was macht Sie so optimistisch, dass Sie jetzt nochmals freiwillig deswegen in Therapie gehen?“ Variante 2: „Das ist eine Leistung! Ihre sogenannte Störung muss Ihnen viel Halt geben. Warum sollten wir Sie loswerden wollen? Haben wir schon etwas Besseres als Symptom?“

Das überraschende Drehen der Scheinwerfer, der Austausch der Brille oder wie auch immer man die systemische Leidenschaft zum Perspektivwechsel illustrieren mag, das passt hervorragend zur Praxis der liebevollen Konfrontation: Mit dem Klienten anschauen, was meist keinen Spaß, aber oft Angst macht, doch mit dem Therapeuten zusammen erträglicher ist und letztlich ermuntert, mehr in die Eigenverantwortung zu gehen.

Oft wird diese Art der Beratung und Therapie „systemisch-lösungsorientiert“ bezeichnet. Dies unterstreicht, dass wir nicht aus bloßem Erkenntnisinteresse die Weisheit des Systems ergründen wollen. Niemand kommt wegen der Vergangenheit in die Therapie, sondern die Klienten kommen, weil sie nicht mehr weiter wissen oder können in der Gegenwart und für die Zukunft. Diese schlichte Wahrheit sollten wir immer bedenken, gerade wenn wir in die Vergangenheit schauen oder sogar „transgenerationale“ Zusammenhänge herausarbeiten wollen: Für was soll es gut sein – heute und morgen! Was habe ich davon zu erleben, wie sehr mein im Krieg gefallener Onkel der Oma gefehlt hat (weshalb mein Dad sich manchmal minderwertig fühlte), wenn ich danach nichts an meinem Leben ändere?

Es geht also immer um die konkreten Lebensherausforderungen, die vor uns bzw. den Klienten liegen (siehe ABC-Anamnese). Eigentlich hat auch die tiefenpsychologisch fundierte Therapie im Unterschied zur reinen Psychoanalyse einen Fokus und konkrete Ziele – doch in der Praxis verliert sie den Fokus oft für längere Zeit aus den Augen z.B. zugunsten einer fast reinen Vergangenheitsschau. In der systemischen Therapie klingt dagegen immer die Frage mit: „Was wird sich in Ihrem Leben ändern, wenn wir hier Erfolg haben?“

Lösungsorientiert bedeutet dabei keinesfalls, dass wir heiklen Themen oder schwierigen Emotionen ausweichen. Jedoch werden wir immer die Frage im Blick behalten, wofür es gut sein soll – und woran wir merken würden, dass es gut ist, sich damit zu befassen! Vielleicht besteht ein Unterschied zwischen systemischem Coaching und systemischer Therapie, denn das Coaching meint manchmal wirklich den Ausschluss therapeutischer Themen und damit hochemotionaler und konfliktreicher Prozesse zwischen Klient und Therapeut. Diese Begrenzung liegt aber nicht in der systemischen Methode an sich.

In der tiefenpsychologisch orientierten Therapie liegen die Begrenzungen für den Erfolg gewissermaßen in der Vergangenheit: Schaffen wir es, die neurotischen Prägungen zu überwinden oder zumindest zu ergänzen – oder war die Störung ohnehin zu früh und zu schwer, so dass wir uns auf „kleine Brötchen“ fokussieren müssen oder eine sehr langfristige kleinschrittige Therapie anstreben? In der systemischen Therapie folgen wir einem optimistischen Ansatz: Wir gehen z.B. eher von den „Ausnahmen“ der Vergangenheit aus, wenn das Symptom oder die Schwierigkeit nicht vorhanden oder deutlich weniger schlimm waren, und schauen, was besser werden kann – jetzt schon! Die Devise dafür klingt nach Chill & Relax: „Der nächste Schritt kann nicht klein genug gewählt sein.“ So klein, dass der Klient ihn auch geht – und dafür definitiv keinen Retter braucht oder will!

Wir können und wollen dem Klienten sein Problem nicht wegnehmen. Es könnte ja sogar sein, dass der Klient dieses Problem behalten will – weil es am Schlechten doch oft ein Gutes gibt und das Leiden auch einen ordentlichen Nutzen hat. Oder dass er gar kein Problem (mehr) sieht … Auch gut. Ein weiterer schöner Systemiker-Spruch dazu lautet: „Reparier nichts, was nicht kaputt ist!“

Wenn man den systemisch angeleiteten Therapieprozess mit Kuchen backen vergleicht, so sieht das Repertoire an Werkzeugen und Zutaten überschaubar aus, das erklärt vielleicht die Attraktivität für viele heutige Therapeuten. Wenn der Klient einen Kuchen backen mag, für den unsere Rezepte passen, kann es losgehen. Es ist dennoch nicht wie Backen mit dem Backautomat, sondern eher wie bei Omi, die dem Enkel versucht beizubringen, wie man mit Liebe backt.