Als Ärzte noch „Götter in Weiß“ hießen, war die Sache klar: Der Arzt bestimmt die Therapie. Dabei hat er einige Freiheiten – und ist dann auch schuld, wenn es schief geht. Das schöne Wort Freiheit hat eben meist ein ebenso mächtiges Pendant, in diesem Fall Verantwortung. Heute scheinen Patienten allerdings tendenziell eher Kunden geworden zu sein. Ärzte verkaufen Zusatzleistungen. Und Patienten treten auch manchmal so auf, als wären sie wohl informierte Konsumenten, die etwas aus dem Shop wählen: „Kann ich mal wieder Blutwerte haben …?“ Oder auch: „Antibiotika nehme ich keine, können Sie mir etwas Homöopathisches verschreiben?“
Früher ging das ärztliche Selbstverständnis davon aus, und darauf beruhte bei Pannen sehr lange auch die Rechtsprechung, dass zwischen Arzt/Ärztin und Patient/in ein doppeltes Gefälle besteht: in Sachen Kompetenz und in Sachen Bedürftigkeit. Ein Kranker kann nicht Kunde sein, denn er ist in mehr oder weniger großer Not und Sorge. Das ist auch nach wie vor ein Haken an sog. freiwilligen Zusatzleistungen. Freier Wille?
Heute kennen sich Patienten in Bezug auf ihre Erkrankungen oft exzellent aus, sind wahre Experten – und jede/r Therapeut/in tut gut daran, sie auch so zu behandeln. Könnte man dann die Therapiefreiheit und die Therapieverantwortung heute zwischen beiden Seiten aufteilen? Nicht gleichmäßig (50:50), denn dem Patienten fehlt selbst bei guten Kenntnissen in der Regel die medizinische Erfahrung mit vielen anderen Patienten in ähnlicher Situation, und bei der realistischen Einschätzung seiner Lage steht ihm weiterhin die eigene Not und Sorge im Weg. Außerdem halte ich es für eine nach wie vor sehr berechtigte Erwartung von Patienten, dass sie sich, egal wie gut informiert, beim Arzt trotz Bemühen um Augenhöhe in gewisser Weise auch in fürsorgliche Obhut begeben.
Ein komplexes Thema, und dennoch hat das Selbstbestimmungsrecht des Patienten insgesamt heute eine (noch) größere Bedeutung als früher, so dass Ärzte und Juristen mehr und mehr davon ausgehen, dass die letzte Therapiefreiheit, im Sinne von Zustimmung oder Ablehnung zu einer „vorgeschlagenen“ Therapie, eher beim Patienten liegt. Wie ist es also dann mit der Verantwortung? Da scheint der größere Anteil rechtlich immer noch beim Arzt zu verbleiben. Denn dieser hat die wichtigste Pflicht, Schaden und Gefahren vom Patienten abzuwenden – und ihn durch entsprechende Aufklärung zu einer aussichtsreichen oder wirksamen Therapie zu überzeugen.
Seit längerem gibt es allerlei Bestrebungen, die gemeinsame Therapiefreiheit von Arzt und Patient in Bezug auf homöopathische und andere komplementärmedizinische Behandlungen zu beschränken. Niemand behauptet dabei, Homöopathie an sich sei schädlich oder gefährlich. Das Argument lautet: Homöopathische Therapie verhindert, dass eine „tatsächlich wirksame“ Therapie zum Einsatz kommt. Denkbar ist schon, dass ein Patient mit massivem Bluthochdruck bei nicht-effektiver Behandlung „unnötig“ Herzinfarkt oder Schlaganfall erleidet, oder dass sich bei Rheuma-Patienten ohne wirksame Therapie „unnötigerweise“ bleibende Gelenkschäden entwickeln usw. usf. – und dann wäre da noch der besonders strittige Fall der Krebstherapie. Allerdings würde so gut wie kein Arzt seinen Bluthochdruck- oder Rheumapatienten ausschließlich mit einem homöopathischen Mittel versorgen, sondern die konventionelle Therapie erst dann reduzieren, wenn sich die Krankheit aus welchen Gründen auch immer gebessert hat.
Bei Krebs wird die Homöopathie in den meisten Fällen ebenfalls nur ergänzend eingesetzt. Allerdings gibt es hier auch eine Anzahl an Patient*innen, die mit Blick auf die Nebenwirkungen von Strahlen- und Chemotherapie diese kategorisch ausschließen. Dann bleiben eben nur – aus Sicht der Schulmedizin – so genannte Außenseitertherapien mit nicht ausreichendem Wirksamkeitsbeleg. Diesen Therapien und den Therapeuten kann man aber nicht die bereits vorhergegangene Grundsatzentscheidung des Patienten anlasten!
So weit so gut. Therapiefreiheit lässt sich nicht verbieten, wohl aber weitgehend aushebeln, indem man die komplementären Therapien aus der Erstattung der Krankenkassen nimmt. Dafür gibt es allerdings wenig sachliche Gründe. Aus der Versorgungsforschung ist bekannt, dass Patienten in ganzheitlicher Behandlung, also unter Hinzuziehung komplementärer Therapien, weder kurz- noch langfristig größere Kosten verursachen – was logischerweise irgendwie damit zusammenhängen muss, dass die Behandlungserfolge in der Ganzheitsmedizin in summa nicht geringer sind. Sonst wären sie z.B. nicht – nach gründlicher Evaluierung – in die schweizerische Regelversorgung aufgenommen worden. Und deutsche Krankenkassen, die sich schon länger im Bereich Komplementärmedizin profilieren, haben daher verständlicherweise auch überhaupt kein Interesse daran, ihre Mitglieder mit Erstattungsende zu verärgern, zumal die Kosten so nicht gesenkt werden. Man könnte auch offensivere Gegenrechungen aufmachen: Wie viel unsinnige und schädiche Antibiotika-Verordnungen durch Homöopathie und anthroposophische Medizin bisher vermieden wurden – zum Nutzen der Patienten und zum Wohl der Solidargemeinschaft, lange bevor auch die Schulmedizin nach und nach eingeräumt hat, dass nicht jede Erkältung, nicht einmal jede Mittelohr- oder Nebenhöhlenentzündung, bombardiert werden muss.
Dass nun das Gesundheitsministerium die Wahltarife für Komplementärmedizin abzuschaffen plant, mag anderen, strukturkonservativen Kassen gefallen, mit der „Solidargemeinschaft“ lässt es sich jedoch nicht begründen! Hierin zeigt sich vielmehr der m.E. durchaus demokratiefeindliche Anspruch der Anhänger einer (angeblich) reinen naturwissenschaftlichen Medizin und der politischen Akteure dieser weltanschaulichen Fraktion. Da geht es ums Rechthaben und um symbolische Politik. Das Muster: Wer im Besitz der Wahrheit ist, braucht keine Rücksichten auf die Freiheitsrechte der vermeintlich Ahnungslosen oder Rückständigen zu nehmen, also auf jene Menschen, Patient/inn/en wie Ärzte/Ärztinnen, die durchaus noch anderes beanspruchen als nur die Segnungen der evidenzbasierten Medizin, die niemand bestreitet.
Die DDR lässt grüßen? Oder schlimmer. Ohne es wirklich auf die Spitze treiben zu wollen: Im Streit um Homöopathie und andere besondere Therapieverfahren klingt für mich gelegentlich ein extrem obrigkeitsstaatlicher Subtext von „Schutz der Volksgesundheit“ durch. Mündige Patienten? Mindestens meilenwert entfernt! Ich finde es sehr besorgniserregend, dass das Prinzip Therapiefreiheit anscheinend nur noch von einigen FDP-Politikern verstanden oder zumindest vertreten wird.
Es ist eine politische Illusion mit solider Tradition, dass der gesellschaftliche Fortschritt im Einklang mit dem naturwissenschaftlichen Fortschritt und dem damit nicht selten partiell einhergehenden vulgärmaterialistischen Weltbild zu realisieren wäre. Wer das so grundsätzlich nicht hinterfragen mag, könnte sich doch immerhin daran erinnern, dass Freiheit oft die Freiheit der anderen meint. Therapiefreiheit ist jedenfalls etwas anderes als eine Art Religionsfreiheit, in welche Nähe sie gerne von pseudoaufgeklärten Schulmedizinern und Politikern gerückt wird. Sie beinhaltet das Recht, nach bestem Wissen und Gewissen zu (be)handeln bzw. sich behandeln zu lassen, expilizit auch im Rahmen der solidarischen Sicherungssysteme.
PS. Wie sieht es eigentlich mit der Therapiefreiheit beim Heilpraktiker bzw. der Heilpraktikerin aus? In etwa analog zu der des Arztes. Auch er/sie hat die oberste Pflicht, Schaden vom Patienten abzuwenden, daraus leiten sich analoge Aufklärungspflichten ab. Und die (Über)Prüfung des HP-Anwärters durchs Gesundheitsamt hat das primäre Ziel zu kontrollieren, ob der Kandidat genug Kenntnisse hat, um seine Grenzen zu kennen und einzuhalten. Die Analogie hat ihre Grenzen darin, dass der HP per se gar keinen Zugang zu nebenwirkungsreichen Therapien haben darf oder sollte, insofern eigentlich zur sanften Medizin verdonnert ist, und dass er in weit größerem Umfang von dem lebt, was beim Kassenarzt „freiwillige Zusatzleistungen“ genannt wird, hier ist also der Patient noch weit mehr Kunde. Daraus ergeben sich Risiken oder Missbrauchsmöglichkeiten: Zum einen, dass der/die HP entgegen dem Selbstverständnis des Berufsstandes nebenwirkungsreiche oder riskante Therapien versucht – was sehr selten der Fall ist. Zum andern, dass er/sie die Wirksamkeit der ihm zur Verfügung stehenden Therapien selbst überschätzt oder verzerrt darstellt und insofern seine Aufklärungspflicht verletzt und den Patienten gefährdet – Selbstüberschätzung und unlautere Werbung kommen sicher vor, ich wundere mikch auch manchmal, wogegen Schüßlersalze alles helfen sollen … Allerdings kann man da die Patienten nicht von ihrer Mitverantwortung freisprechen, zumal in Zeiten des Internets und bei dem überwiegend gehobenen Bildungslevel von HP-Klienten. Außerdem ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der HP-Klienten „nebenbei“ auch Patient bei einem Arzt ist (obwohl sie ihm vielleicht nicht vom HP berichten). Insgesamt scheinen die von HP ausgehenden Risiken eher gering, wie Statistiken belegen, siehe dazu H wie Heilpraktiker.