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Viele Patienten sind heute der Meinung, sie kämen in Therapie, um „endlich das Trauma aufzulösen“. Aber warum gerade jetzt? Oft liegt das Trauma Jahre oder gar Jahrzehnte zurück, eine Zeit, in denen ein Großteil der Patienten mehr oder weniger gut und erfolgreich gelebt haben, wenn auch nicht immer glücklich. Oft wird dies bagatellisiert: sie hätten da „nur funktioniert“. Wenn man jedoch genauer auf die Lebenslinie schaut, gab es in der langen Zeit nach dem Trauma oder der traumatischen Kindheit nicht nur schöne Erlebnisse, sondern längere gute Phasen.
Aktuell ist dagegen eine ganz schlechte! Und das gilt es im Auge zu behalten. Ich plädiere stark dafür, psychotherapeutische Patient*innen (wieder) mehr von ihren Ängsten her zu verstehen, statt die ganze Psychologik auf das Trauma hin zu rekonstruieren. Traumapatienten sind Angstpatienten. Weil es so einprägsam klingt, formuliere ich es mal bewusst verzerrt:
„Sie sind nicht traumatisiert, Sie sind ängstlich!“ Sicher, das stimmt so nicht. Aber die umgekehrte Logik, die mehr und mehr in Praxen und Kliniken Einzug hält, ist auch falsch: „Sie sind nicht ängstlich, Sie sind traumatisiert.“ In den meisten psychosomatischen Kliniken werden die Diagnosen der einweisenden Ärzte, die sich auf Ängste beziehen, zügig verändert, erst in Richtung Depression, dann in Richtung Trauma. Dafür gibt es sachliche und finanziell-strukturelle Gründe, und außerdem kennt sich mancher Hausarzt mit den psychischen Diagnosen nicht so gut aus. Doch damit allein lässt sich der Vorgang nicht erklären.
Es ist zweifellos berechtigt, manche Patient*innen primär als „Trauma-Patienten“ zu sehen, wobei der Begriff schon genauso heikel ist, wie wenn wir von „Borderline-Patienten“ oder „Sucht-Patienten“ sprechen, denn er birgt die Gefahr der Identifikation mit der Diagnose; gerade die Diagnose „Trauma“ ist dafür prädestiniert. Nicht nur viele Patient*innen, die mit der Devise „Ich muss erst mein Trauma bearbeiten“ in die Therapie kommen, benötigen daher eine andere Sicht, sondern auch viele Therapeut*innen, bei denen manchmal bei der Erkenntnis „Das ist eine Traumapatientin“ jeglicher Hang, die gegenwartsbezogenen Herausforderungen zu erforschen und anzugehen, zu schwinden scheint. Die gängige bis populäre Trauma-Perspektive auf den Patienten und sein Leid kann allerdings eine regelrechte Therapiefalle werden.
Ich habe großen Respekt für Menschen, die sich manchmal ein Leben lang mit Traumafolgen herumschlagen, da kann es durchaus sinnvoll sein, z.B. im Rahmen eines krisenbedingten Klinikaufenthalts zu versuchen, ein größeres Stück in der Aufarbeitung voranzukommen. Bei anderen Patienten, die zum wiederholten Male in Intensivtherapie sind, tauchen das Trauma und die Notwendigkeit es anzuschauen ungeplant im Therapieprozess auf. Doch auch bei all diesen und anderen Patienten, wo es ohne Trauma-Perspektive wirklich nicht geht, gilt es, die konkreten Herausforderungen der aktuellen Lebensphase nicht aus den Augen zu verlieren.
Der großen Mehrheit jener Patient*innen, die heute fast mit Tunnelblick nach „Traumatherapeuten“ oder solcherart spezialisierten Kliniken suchen, rate ich explizit, abzulassen von dieser Spezialistensuche und sich auf eine „Richtlinientherapie“ (Tiefenpsychologie, Verhaltenstherapie, Systemische Therapie) einzulassen, regelmäßige Arbeit an der Eigenverantwortung, am Erwachsenwerden (innere-Kind-Arbeit klingt nur romantischer, ist aber das Gleiche), Umgang mit den Ängsten, die sie vom Leben abhalten. Alles von der Krankenkasse bezahlt. Traumatherapeut*innen, sofern sie nicht von der Krankenkasse bezahlt werden (ich bin auch „nur“ Heilpraktiker, daher rede ich hier nicht schlecht über andere), und erst recht vielen Buchautoren und Influencern fehlt oft das Verständnis für die klassische Psychotherapie. Dann ist es naheliegend, dass der Patient in Folge selektiver Wahrnehmung nur als Trauma-Patient gesehen wird und er/sie sich selbst so versteht und sich aus seiner aktuellen Lebensohnmacht heraus allzuoft in dieser Identität „einrichtet“. Kurzum, der Tunnelblick engt die Suche nach qualifizierten Therapet*innen meist unnötig ein und reduziert erheblich die Chance, auf einen ordentlichen (kassenfinanzierten) Therapieplatz, zumal viele Therapeuten, wenn sie merken, dass der Patient aufs Traums fixiert ist, es gar nicht erst versuchen, ihre Dienste anzubieten („Ich könnte Ihnen auch helfen …“ – das sagt niemand.)
Wenn Sie sich schon länger als Trauma-Patient verstehen, rate ich ihnen, (jetzt und immer öfter) eine andere Perspektive einzunehmen, selbst wenn dies verwirrend sein mag:Ich verstehe Patienten zunächst aus ihren konkreten (oft verdrängten) Lebensängsten zu verstehen statt bevorzugt von ihrem Trauma her. Mein Eindruck ist, dass häufig schon der Begriff „Trauma“ reicht, dass eine ganz besondere Brille aufgesetzt und die bewährten „Therapiebrillen“ für untauglich gehalten werden.
Ich halte die „alten Brillen“ immer noch für tauglich, wenn man mit ihnen auch nicht alles sehen kann. Durch die Brille der Tiefenpsychologie können wir z.B. sehen, in welche Art von Regression (Rückschritt) der/die Patient*in geht, durch die Brille der Verhaltenstherapie, welche Ängste ihn oder sie zu welchem Vermeidungsverhalten veranlassen, und durch die Brille der Systemtherapie erkennen wir das Symptom, und sei es noch so heftig, (auch) als eine Art von Lösung und fragen uns, ob diese Lösung in der Therapie durch eine bessere, „kostengünstigere“ bzw. „nebenwirkungsärmere“ Lösung ersetzt werden kann. Immer ist es uns möglich, an etwas zu arbeiten, was die Lebens- und Alltagstauglichkeit verbessert, ohne „erst das Trauma aufzulösen“, was in dieser Reinform sowieso seltenst möglich ist.
Es ist eigentlich ganz (psycho)logisch: Das Leben liegt als Herausforderung vor uns, das Trauma mag zwar auch eine Herausforderung sein (bei einem Teil der Patienten je nach Lebensphase stark überschätzt), aber es liegt immer hinter uns. Deshalb sollte der Fokus der Therapie, selbst und gerade auch bei den meisten Patienten mit einem Traumahintergrund, auf der Gegenwart liegen.
Wozu soll’s denn gut sein – das Trauma aufarbeiten? „Woran würden Sie es merken, dass es geklappt hat?“ Wenn Patienten darauf antworten: „Ich will wieder glücklich sein …“ Oder „… mehr Freude am Leben haben“, dann haben sie vielleicht keinerlei Therapieerfahrung bisher; ansonsten können wir fast sicher davon ausgehen, dass die Blockaden für mehr Lebensglück gerade nicht im Trauma, sondern in der gegenwärtigen Partnerschaft, Arbeitssituation, Schulden, Auseinandersetzung in der Familie, Wohnsituation o.ä. liegen, und wir sollten uns durch „das“ Trauma nicht davon ablenken lassen, diese Problematik in Augenschein und in Angriff zu nehmen.
Eine spontane erste Antwort auf meine Frage „Wozu“, die ich (ohne Übertreibung) häufig erhalten habe, lautet allerdings: „Das hat mich meine Therapeutin noch nie gefragt …“ Wie kommt das? Sicher, wenn die gleichen Probleme, Konflikte und Dramen im Leben sich wiederholen, wenn ein Mensch bei jeder Arbeitsstelle scheitert, jede Partnerschaft sprengt (oder gar nie eine zustande kommt) usw., dann lohnt es sich, in die Vergangenheit zu schauen, dann können Kindheit und/oder Trauma oder daraus entstandene Persönlichkeitsstörungen (mit-)verantwortlich für eine solche Entwicklung sein. Doch ganz so eng, wie es scheint, ist die Verbindung oft nicht. Und gerade wenn es eine solche Vergangenheit gibt, ist umso wichtiger, den erwachsenen und funktionsfähigen Teil des Patienten zu stärken und als Dreh- und Angelpunkt der Therapie zu verstehen und zu behandeln, der Teil, der nicht nach einem alten Muster in der Ohnmacht versackt.
In Therapie kommen Menschen mit starken Ängsten bis hin zu mehr oder weniger ausgeprägtem Ohnmachtserleben, welches unmittelbar mit aktuellen Schwierigkeiten zu tun hat, aber verzerrt, verdrängt oder verleugnet wird. Die oft bis zur Nichtspürbarkeit unterdrückten aktuellen Ängste werden stattdessen häufig als Wiederaufleben des „ewigen“ Traumas verstanden, bildhaft gesprochen: projiziert, als bekannter Film aus dem Archiv herausgeholt.
(Hiergegen würden Traumatherapeut*innen einwenden, dass der Trauma-Film ja oft gar nicht bekannt ist und/oder viele Filmrisse hat. Das stimmt, es gibt tatsächlich auch Patienten, die ihr Trauma noch nicht sehen können oder wollen, geschweige denn es bearbeiten. Das sind jedoch längst nicht alle Patienten, nach meinem Eindruck eher eine Minderheit. Im Übrigen, nur weil der Film Risse aufweist und damit auf Abgespaltenes hinweist, muss das Trauma noch lange nicht „der“ Schlüssel zur Therapie bei diesen Patienten sein. Ohne Fokus auf die Gegenwart würde ich nicht nach dem Trauma graben!)
Vielleicht wird es an extremen, aber keinesfalls einzigartigen Beispielen deutlicher:
- Es sind oft nicht die schwächsten Patient*innen (sie haben Ressourcen), aber die, die sich am stärksten an ihr Trauma binden, die aus jedem Nicht-Wollen ein Nicht-Können machen, die regressive Versorgungswünsche an Eltern, Partner oder den Staat haben, und auch auf den Therapeuten „übertragen„, der ihnen in guter Papa- oder Mama-Manier dabei helfen soll, diese Wünsche erfüllt zu bekommen. (Da „Versorgungswünsche“ sehr moralisch interpretiert werden kann, drücken wir es anders aus: Diese Patienten trauen sich nicht zu, als erwachsen handelnde Menschen für sich zu sorgen – und dafür gibt ihnen ihre Erfahrung gute Gründe. Deshalb verurteilen wir sie nicht, aber „konfrontieren“ sie, d.h. schauen mit ihnen darauf.)
- Ich denke z.B. auch an einen Patienten, der als Selbständiger pleite ging, dessen Frau sich getrennt hatte und dessen Kinder nicht mehr mit ihm reden wollten. Ich bin dem Patienten mehr oder weniger zufällig (vertretungsweise) gegen Ende des Klinikaufenthalts begegnet und er bezeichnete sich unter Tränen als „traumatisiert“. Ich habe in etwa darauf geantwortet: „Entschuldigung, aber für mich sieht es eher danach aus, dass sie gerade ein Riesenproblem da draußen haben und Sie wissen einfach nicht weiter …“ Er kam drei Tage später bei mir vorbei und hat sich überschwänglich bedankt für diese Klärung. Meine „Konfrontation“ habe er zunächst als verwirrend erlebt, aber nun spüre er deutlich, dass seine Riesenängste mit der Gegenwart und nichts mit dem längst überwundenen Trauma zu tun haben.
- Ich denke an eine ganze Reihe von Patientinnen, die in ihrer Kindheit seelisch missbraucht wurden, in dem sie schon als Kind der Mutter oder dem Vater den Partner ersetzen und/oder eine Elternrolle übernehmen mussten. Durchaus verständlich, wenn die Betroffenen später, um es etwas vereinfacht zu sagen, auch bei der Partnerwahl oft keine glückliche Hand haben. Da gibt es eine breite Palette von schlechten Optionen … In der Folge davon kommen sie in schwere Partnerschaftskrisen und darüber später vielleicht in Therapie. Dann sollte es dort m.E. auch und prominent um die Frage gehen, was jetzt durch therapeutische Arbeiten und nicht-therapeutische Maßnahmen verändert werden kann.
Diese konkreten gegenwartsbezogenen Aufgaben sollten keinesfalls zugunsten der „Aufarbeitung“ des Kindheitstraumas in den Hintergrund treten. Das eine (Traumatherapie) würde das andere (Arbeit an der Eigenverantwortung für die Gegenwart) zwar nicht ausschließen, aber ich erlebe oft, wie dem Sog in die Vergangenheit nachgegeben wird.
Das Trauma scheint so etwas zu sein wie eine Autobahn, die auf schnellstem Weg von der Ohnmacht der Gegenwart in die Vergangenheit führt. Warum nennen wir Therapeuten diesen blitzartigen Rückschritt oder Rückgriff in die Vergangenheit nicht, in guter alter Tradition, „Regression“, von mir aus „Trauma-Regression“? Oft ist es nichts anderes, nur dass die Therapeuten früher sich sehr viele Gedanken und Mühen gemacht haben, wie viel und welche Art von Regression sie fördern. In der Trauma-Regression kann man dagegen scheinbar kritiklos verweilen und bekommt ständig „Belohnung“ per grenzenloser Empathie. Ganz klar, Empathie ist mehr als die Hälfte der Therapie, aber d.h. auch Empathie für das, was der Patient oft nicht ohne mich als Therapeut fühlen kann: Angst, Schmerz, Trauer, Wut und Ohnmacht, die sich auf die aktuelle Lebenssituation beziehen.
(Dass es neben der einseitigen Empathie auch andere „Belohnungen“, also sekundären Krankheitsnutzen für Verweilen im Trauma-Zustand gibt, oder die Hoffnung darauf in vielen Fällen: Rücksichtnahme durch die Familie und den Arbeitgeber oder eine vorzeitige Berentung, das wird viel zu häufig übersehen. Es „darf“ bei manchen Patienten ja gar nicht besser werden, deshalb ist die Trauma-Regression manchmal so massiv. Ich setze diesen Exkurs in Klammern, weil es schnell so aussehen könnte, als würde ich diesen Patientinnen Simulation und Manipulation unterstellen und sie moralisch beurteilen. Das ist überhaupt nicht in meinem Interesse. Es ist unfassbar tragisch, wie viele sich einfach kein eigenverantwortliches, selbstversorgendes Leben zutrauen, so dass sie Opfer bleiben – das verurteile ich nicht, aber in vielen Fällen kann ich es auch nicht unterstützen.)
Regression ist nichts per se Schlechtes oder Unerwünschtes, in der Tiefenpsychologie galt sie je nach Schule und Phase schon als der Motor der Therapie: das Zurückfallen in die Kind-Rolle und die damit verbundene „Übertragung“ der Eltern-Rolle auf den Therapeuten. In einem eher langwierigen Prozess lernt der Patient durch eine Kombination von Nähren, Fördern und Fordern, wie er/sie selbst mehr und mehr für seine kindlichen Anteile sorgt und dabei wirklich erwachsen wird. Bei richtigem Verständnis ist dies innere-Kind-Arbeit auch für den Patienten alles andere als ein Spaziergang, sondern oft eher ein Drecksjob, denn der oder die Kleine will sich zunächst nicht an die Hand des Erwachsenen nehmen lassen.
In vager Analogie ließe sich dieses Konzept der „Regression im Dienste der Progression“ auch auf die Traumatherapie und die Trauma-Regression anwenden: Der Patient fällt (immer wieder) in die Opfer-Rolle und lernt – meist kleinschrittig – sich mehr und besser und immer schneller selbst da heraus zu retten. Es gibt also durchaus Parallelen etwa zur Traumatherapie nach Peter Levine und dem Bemühen um die Fähigkeit zwischen Trauma/Opfer und Kompetenzen im Hier und Jetzt zu „pendeln“.
Doch woran entscheidet sich, ob ein solches oder anderes traumatherapeutisches Vorgehen Erfolg haben kann? Erstens, es muss für den Patienten überhaupt im Alltag ausreichend attraktiv sein, die Opfer-Rolle zu verlassen. Zweitens, es muss für ihn oder sie im Alltag real umsetzbar sein, sich von der Opfer-Rolle zu befreien. Daher dürfen wir den Fokus auf die gegenwärtige Lebenslage und ihre Herausforderungen nicht verlieren.
Wenn die Traumatherapie nicht erfolgreich ist, liegt es m.E. häufig an der mangelnden Beachtung der gegenwärtigen Herausforderungen. (So gesehen, gibt es gewisse Parallelen zwischen der früheren Psychoanalyse und der Traumatherapie heute.) Und dann? Dann haben wir den Patienten schlimmstenfalls „retraumatisiert“; das wird uns von Betroffenen ja immer mal wieder vorgeworfen. Aber ein solches unerwünschtes Ergebnis entsteht in der Regel nicht, weil die Betroffenen in der Therapie „wieder schlimme Geschichten“ gehört oder nacherlebt haben, sondern weil wir sie nicht ausreichend als Opfer in ihren gegenwärtigen Verhältnissen begriffen haben. Der Begriff „Opfer“ ist zugegebenermaßen hässlich, aber dem Zustand angemessener als andere. So verwandeln wir Therapeuten uns in der nebulösen Wahrnehmung der Betroffenen von Rettern, die wir nie sein konnten, in Täter (die sie retraumatisiert haben sollen), was wir erst recht nicht sind. Aber wir haben sicher nicht alles richtig gemacht …
Eines erweist sich für die Trauma-Regression als fatal: dass Traumatas häufig in der Kindheit lagen oder gleich die ganze Kindheit irgendwie traumatisch war, weshalb die Diagnose „komplexe posttraumatische Belastungsstörung“ (kPTBS) häufig bei diesen Patient*innen vergeben wird. Ich bestreite nicht, dass sie eine dysfunktionale bis „kaputte“ Kindheit hatten – aber das macht die Sache nicht weniger verführerisch: die Vermischung und oft Verwechslung der Regression, den Rückschritt der Betroffenen in kindliche Anteile und den Rückgriff auf ein kindliches Verhaltensrepertoire inklusive der kindlichen Versorgungswünsche, verwechselt mit Traumasymptomatik.
Sicher kann man diese speziell gefärbte Regression auch als selbst als Traumafolgestörung sehen, sogar als die primäre. Häufig wurden und werden diese Störungen aber erst durch das, was später folgte, verfestigt, m.E. durch unangemessene Belohnung der Regression seitens Eltern, Partner, staatlicher Agenturen und nicht zuletzt Therapeuten. Es handelt sich im Wesentlichen um eine durch falsche Versorgung erlernte Hilflosigkeit.
Liest man 30 Jahre alte Bücher über die Behandlung von Angststörungen, könnte man den Eindruck gewinnen, die Psychologen von damals haben alles verwechselt und gar nicht recht verstanden, um was es eigentlich geht: um Trauma natürlich. Schildern sie, wie der Patient durch bestimmte „Auslöser“ (die hießen damals noch so) und die eigenen Überzeugungen sich in eine Angst oder Panik hineinsteigert, schütteln wir heutigen Therapeuten spontan mit dem Kopf und denken: „Naja, so würde man das heute nicht mehr beschreiben.“ Heute wäre von „Triggern“ die Rede und damit wäre man meist gleich im Kontext von Trauma – und einer mehr oder weniger langwierigen Traumatherapie mit in der Regel ungewissem Ausgang, während die Therapeuten damals noch so taten, als könne man die Ängste in den Griff bekommen. Manchmal wirkt es so, als hätten die Therapeuten vor der Jahrtausendwende die Traumapatienten fälschlicherweise für Angstpatienten gehalten. Hatten die denn gar keine Ahnung?
Nun, sie waren vielleicht wirklich in vielen Fällen zu optimistisch. So einfach geht’s halt meist nicht in der Therapie, oder die kurzfristigen Erfolge sind nicht nachhaltig, weder bei Ängsten noch bei Depressionen, und das liegt manchmal auch an Traumata. Einiges wusste man damals tatsächlich noch nicht. Das Verständnis von Traumafolgen, das Pioniere wie Peter Levine, Bessel van der Kolk oder Stephen Porges entwickelt haben, sickerte erst nach und nach in die Breite. Ich unterstreiche also: Es gibt wichtige neuere Erkenntnisse; und nebenbei bemerkt auch überzeugende Trauma-Therapeut*innen.
Allerdings werden m.E. heute umgekehrt viel zu oft Angstpatienten als Traumapatienten identifiziert und dementsprechend einseitig behandelt. Was sind „Angstpatienten“? Ich würde bewusst unspezifisch beantworten: die meisten Patientinnen und Patienten, die sich in Psychotherapie befinden. Sie haben Lebensängste, das treibt sie in Praxen und Kliniken, nicht ihr Trauma. Zweifellos, mit der Diagnose „Trauma“ fühlen sie viele mehr „gesehen“ und bekommen ein anderes Verständnis – aber auch ein zielführendes?
Überspitzt gesagt: Vor zwanzig Jahren wollten viele depressiven Patienten ein Burnout, heute „wollen“ viele ein Trauma haben. Die Verdrängung von Angst durch Trauma erinnert mich tatsächlich an die, mittlerweile z.T. überwundene Mode, der Selbstdiagnose „Burnout“. In gewissem Sinn stimmt es ja auch: Alle sind traumatisiert, ich habe zumindest nur wenige Patient*innen kennengelernt, die keine traumatische Erfahrungen hinter sich hatten. Nur hilft diese pauschale Sicht im konkreten Fall oft nicht sehr viel weiter.
Leider trifft sich die „ich bin traumatisiert“-Perspektive (Patient) oder „es ist ein Trauma Patient“-Sicht (Therapeut) mit den Webfehlern des Gesundheits- und Abrechnungssystems: Das Trauma öffnet die Tür zu einem Mehr an Therapie. In den üblichen Fachkliniken, die zwischen ambulanter Therapie und Psychiatrie stehen, darf die Angstdiagnose heute nur noch sehr selten an erster Stelle stehen, Trauma geht mit etwas Begründung immer und damit lässt sich auch ein längerer Aufenthalt komplikationsfrei abrechnen. In manchen Kliniken wurden die Indikationsgruppen und Therapieprogramme, die auf Ängste ausgerichtet waren, eingestellt zugunsten von Traumatherapie (weil dafür aus Sicht der Krankenkassen ambulante Therapie ausreicht).
Man könnte sagen, das ist doch eine win-win-Situation, alle kriegen, was sie wollen. Die Frage ist allerdings, ob die Patient*innen lebenstauglicher aus der Therapie herauskommen. Patienten, die ihre Angst behandeln lassen, die sich ihren konkreten Ängsten, den vor ihnen liegenden Herausforderungen stellen, begreifen sehr schnell, dass der Hauptjob der Heilung bei ihnen liegt, dass sie Verantwortung übernehmen müssen – und üben, üben, üben! Schritte gehen, Rückschläge wegstecken, sich wieder aufrichten … Patienten, die sich an die Diagnose Trauma halten oder klammern, erwarten dagegen oft eine Hilfe, die wir ihnen nicht geben können bzw. die sie nicht lebenstauglicher und erwachsener werden lässt.
Mir ist sehr wohl bewusst, dass es stark traumatisierte Patientinnen und Patienten gibt, wo oft selbst langanhaltende traumasensitive Therapie wenig daran ändert, dass sie nur eingeschränkt Eigenverantwortung für ihre Lebensgestaltung übernehmen (können), bei denen dementsprechend der Anspruch an „erwachsenes“ Verhalten eine Überforderung darstellt. Mir ist weiterhin klar, dass man nicht sämtliche psychischen Probleme aus der Perspektive der konkreten Lebensangst und unter Umgehung der Traumaperspektive anpacken kann. Dennoch würde ich weiter die Mehrheit der Patientinnen und Patienten mit der These konfrontieren: „Unser Problem hier ist zunächst einmal nicht ihr Trauma, sondern ihre Angst vor dem aktuellen Leben, vor den Herausforderungen, die auf Sie warten.“
Dies verbinde ich mit Zuversicht: dass wir in Bezug auf diese Ängste einiges erreichen können – und dass ich den Betroffenen einiges zutraue. Ich sehe die Ressourcen, die ihnen geholfen haben, es bis ins Hier und Jetzt zu schaffen, versuche, die starken Anteile zu fördern und zu fordern. Ich spreche Therapie als Hilfe zur Selbsthilfe an. Das mag am Anfang auf Widerstände stoßen, oder sagen wir genauer: diese Perspektive kann man meist gar nicht vom Start weg anbieten. Haben die Patienten jedoch erst einmal die Erfahrung gemacht, dass ihnen zu viel Trauma-Verständnis und Vergangenheitsbezug, salopp gesagt, auch nicht weiterhilft, dann schon. Es sei denn, es darf ihnen gar nicht besser als dauerhaft „traumatisiert“ gehen, etwa wegen Frühberentung oder anderen Formen von Krankheitsnutzen wie Rücksichtnahme im familiären oder Arbeitskontext.
Das ist keine moralische Perspektive, sondern eine systemische und auch professionelle, sie schützt Therapeut und Patient vor falschen Erwartungen aneinander, vor Frust miteinander und Wut aufeinander. Mir ist jede(r) Patient(in) willkommen! Wir sollten uns jedoch als Therapeut*innen nicht mit unlösbaren Aufgaben verbinden oder auch nur mit Aufgaben, deren Lösbarkeit nicht erwiesen ist, solange konkret lösbare Aufgaben vor uns liegen – wenn wir nur hinschauen: auf das konkrete Leben und seine Herausforderungen. Für Sie als Patient*in bedeutet dies, viel öfter nach vorne zu schauen. Sie wissen ja: „Wo die Angst ist, da geht’s lang!“