A wie authentisch

Was ist heute noch echt? In Zeiten von … Okay, das spare ich mir. Das Thema „echt/unecht“ im Umgang von Menschen gibt es schon länger: sich verstellen, inszenieren, Masken tragen. Damit verbunden: Angst sich zu zeigen. Oder auch: Angst, dass der andere nicht echt ist.

Statt ehrlich, echt, aufrichtig und offen spricht die Psychologie von „authentisch“. Und das ist gut so, weil die genannten deutschen Wörter sehr stark moralisch klingen – nach dem, wie man zu sein hat. Kein gutes Omen für Patienten, die zum großen Teil aus der Überangepasstheit des „man“ herausfinden müssen.

„Authentisch“ klingt immer noch ideal oder idealistisch genug: Sei Du selbst! Wow. Da brandet schon der erste Applaus auf, oder? Dabei bedeutet authentisch, zumindest bei näherer Betrachtung, nicht automatisch gut: Wenn ich mit einem engstirnigen Bürokraten zu tun habe, mag ich ihn mit seiner pedantischen Art authentisch finden, aber kann ihn gleichzeitig für schrecklich bekloppt halten. Auch unter Patientinnen und Patienten gibt es viele, die sehr authentisch sind, vor allem wenn sie sich mit ihren Diagnosen identifizieren. „Authentizität“ bedeutet hier oft ein Mangel an Selbstregulation und Distanz zu bzw. Desidentifikation mit den Problemen.

Für die notwendigen ersten Schritte auf dem Heilungsweg ist Authentizität kein sinnvolles Kriterium. Der Patient sagt dann: „Das bin ich doch nicht.“ Als Therapeut würde man statt des „doch“ vor das „nicht“ ein „noch“ setzen. Wenn z.B. ein Patient mit geringem Selbstbewusstsein und Selbstbehauptungskraft in diesem Bereich dazulernt und öfter mal Nein sagt, so wird sich das für ihn oder sie zunächst nicht authentisch anfühlen. Das Anfangen hat oft etwas von „so tun als ob“.

Fake it till you make it. Das geht mir als Therapeut nicht anders als Patienten. Als ich in der Klinik anfing zu arbeiten, habe ich mit einer erfahreneren Kollegin das Achtsamkeitstraining geleitet. Ich hatte wenig Erfahrung in diesem Bereich und tat mich z.B. immer noch sehr schwer mit klassischer Meditation (Sitzen in Stille). Ich war zwar begeistert von der Haltung, die hinter der Achtsamkeitsphilosophie steckt – Leben im Hier und Jetzt, Leben im Mitgefühl mit allen Wesen. In der Anleiterrolle hat es sich zunächst etwas unauthentisch angefühlt. Und doch richtig.

Ich war Jahrzehnte lang ein ganz authentischer Morgenmuffel 🙂 Heute weiß ich, dass dies auf verdrängten Versagensängsten beruhte. Mit 55 hatte ich das Glück, fast jeden Tag fröhlich aufzustehen – teils weil ich weniger Ängste haben musste, teils weil ich damit anders umgehen gelernt hatte. Auch heute gibt es Tage, an denen ich „grundlos“ als Morgenmuffel starte, es ist ein Muster, und ich weiß, wie ich herauskommen kann, meistens. Das hat einiges damit zu tun, dass ich Dinge mache, die zuvor nicht authentisch für mich waren.

Bekanntlich gibt es auch Ganztagesmuffel, die nie etwas richtig gut finden können, an anderen nicht, an sich selbst auch nicht. Kennen Sie das: „Nit gmeckert is gnug gelobt …“? Manch einer, der in Therapie oder Paarberatung eingeladen wird, es mal anders zu versuchen, hebt zunächst abwehrend die Hände: „Das bin ich doch nicht …“

Authentizität ist in vielen Schulen der Psychotherapie eines der höchsten Gebote für Therapeuten. Dafür gibt es gute Gründe! Patienten haben in ihrer Vergangenheit häufig Erfahrungen mit sich widersprechenden Doppelbotschaften gemacht – etwa Bezugspersonen, die ihre Liebe beteuern, sich aber dann doch ganz anders verhalten –, so dass sie nicht wussten, woran sie sind. Das ist eine wesentliche Grundlage vieler psychischer Störungen. Deshalb ist so wichtig, dass wir Therapeuten als „Bezugsperson auf Zeit“ möglichst authentisch sind.

Gleichzeitig gibt es aber andere wichtige Ideale, die dem zu widersprechen scheinen. So müssen wir Therapeuten die Patient*innen für Fortschritte loben und belohnen. Darin bin ich „von Haus aus“ nicht besonders gut. Vor einiger Zeit hatte ich mit einer Patientin zu tun, die jahrelang keinen Fuß vor die Tür gesetzt hatte. Bei der Formulierung der Ziele für die Therapie kam sie auf „jeden Tag zehn Minuten rausgehen aus der Klinik“. Sofort tauchte in mir eine kritische Stimme auf, die das als nicht-ausreichend sehen wollte. Wenn ich also meinem spontanen Impuls gefolgt wäre, hätte ich vielleicht gesagt: „Na, da geht aber noch mehr. …“ Dann wäre ich „authentisch“ gewesen, aber kein guter Therapeut, denn für diese Patientin war das ein sehr gutes Ziel.

Ähnlich bei Patientinnen, die in die Gruppe zur Behandlung von Essstörungen aufgenommen werden: Manch eine sagt zu Beginn, sie will es schaffen, jeden Tag zu den drei Mahlzeiten zu kommen. Mein innerer Antreiber ruft laut (aber nur in meinem Inneren, Gott sei Dank): „Hallo! Das ist ja wohl das Mindeste, es steht doch im Vertrag …“ Hier habe ich ebenfalls gelernt, dem Anteil in mir, der wertschätzender ist, mehr Raum zu geben, selbst wenn sich das noch nicht immer 100% „authentisch“ anfühlt. Ich verstelle mich nicht, ich bin auch nicht „falsch“ dabei, sondern richtig: ich lerne.  

Seltsamerweise bin ich Jahre lang zu einem Therapeuten gegangen, der mich ständig gelobt hat: Jochen Z., der immer wertschätzend war, auch wenn ich gerade mal gar nichts erreicht hatte. Manchmal sage ich noch heute mir selbst: „Hey, jetzt mach mal ein bisschen mehr auf Jochen …“ Das mag unauthentisch sein, aber irgendwie auch nicht, denn er ist ja ein Vorbild von mir. Andererseits kann man durch Imitation zwar einiges lernen, auf diese Art lernen wir als Kinder viel, aber wir müssen gerade als Therapeuten wir selbst sein. Ich bin halt nicht der Jochen. Daher brauchen wir individuelle Freiheiten, um das authentisch auszugestalten, was wir in unseren Ausbildungen lernen und was uns Krankenkassen und Arbeitgeber teilweise als Konzept vorschreiben. Das bedeutet, wir müssen uns auch selbst die Erlaubnis geben, individuell zu sein, ohne es zu verklären.

Im Patientenkontakt verstecke ich mich nicht hinter dem berühmten therapeutischen „Spiegeln“. Ich bin direkt, man könnte sagen: offen und ehrlich. Wenn mich an einem Patienten, mit dem ich mehr oder weniger viel zu tun habe, etwas stört, werde ich ihm das sagen – nicht damit ich es los bin, sondern weil ich davon ausgehe: Was er oder sie bei mir auslöst und was ihm in unserem Kontakt passiert, das erfährt er auch immer wieder im wahren Leben. Mit mir hat er die Chance, mal genauer und anders darauf zu schauen: „Kennen Sie das, dass Sie sich als Opfer fühlen – und gleichzeitig die Menschen, mit denen sie zu tun haben, wütend auf Sie sind?“ Oder wenn eine Patientin sich sträubt, irgendeine Verbesserung in der Therapie wahrzunehmen, obwohl alle andern diesen Fortschritt sehen, dann werde ich sie damit „konfrontieren“, d.h. mit ihr gemeinsam darauf schauen, was es so schwer oder vielleicht unattraktiv macht, Eigenverantwortung zu übernehmen.

Es ist jedenfalls ein Fehler, wenn Therapeuten vor allem oder sogar immer nur das sagen, was sie am Patienten gut oder stark finden: die Ressourcen, die sie erkennen, die Schritte, die der Patient gegangen ist, usw. – und das vorenthalten, was sie irritiert, beunruhigt oder auch ärgerlich macht. Patienten sind oft zurecht misstrauisch bezüglich der professionellen Rolle des Therapeuten. Wenn ich ihnen zeige, dass ich nicht vor unbequemen Ansichten zurückschrecke, kann ich ihr Vertrauen in den therapeutischen Prozess maximal stärken. Insofern steckt hinter „Authentizität“ ein sinnvoller Anspruch.

Als ich 2007, damals „nur“ (Körper-)Heilpraktiker, mit psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildungen anfing, habe ich mich gefragt: „Wie soll ich denn als Therapeut gleichzeitig empathisch, wertschätzend UND authentisch sein, wenn der Patient doch so schwierig ist?“ Was würden Sie darauf antworten? Ich würde heute sagen: Darin besteht ja gerade die therapeutische Kunst, jemand schwierig zu finden UND ihn oder sie gleichzeitig zu wertschätzen, mit ihm oder ihr zu fühlen, ja: ihn oder sie zu mögen! Da können wir Vorbild für Patienten sein: Sie dürfen lernen, dass wenig im Leben entweder ganz schwarz oder weiß ist, sondern bunt – und dass die Mitmenschen uns ganz viel an Gutem UND Schwierigem gleichzeitig zumuten.

Insofern arbeite ich gefühlt am besten, wenn ich menschlich stimmig reagiere – was jedoch nicht heißt, dass ich einfach meinen spontanen Impulsen folgen darf! (Was mir leider doch ab und zu passiert ☹.) Wenn ich mich z.B. über eine Patientin ärgere, sollte ich das in den meisten Fällen nicht spontan „raushauen“, sondern erst einmal Cooldown praktizieren, vielleicht abwarten und ein fachliches Gespräch unter Kollegen (Intervision) oder eine Supervision beim Oberarzt suchen.

Authentisch und menschlich sein heißt für mich auch, eigene Defizite einzuräumen, in der Therapie und im wahren Leben: Ich bin nicht der perfekte Lebenskünstler, ich mache Fehler. Schon möglich, dass ich da manchmal zu offen bin und etwas mehr professionelle Distanz sinnvoll wäre. Man kann sich hinter „Professionalität“ zwar auch verschanzen, diese Distanz würde den Beruf für mich vermutlich recht anstrengend machen. Authentizität ist einfacher. Doch man kann sich auch hinter Authentizität verschanzen: „So bin ich eben.“ Das ist Käse, sorry. Probieren Sie öfter mal etwas aus, und zwar wiederholt, was sich anfangs noch unauthentisch anfühlt, in der Therapie (egal in welcher der beiden Rollen) und im wahren Leben.