E wie Einsamkeit

Mein Hang zur Autonomie ist groß, so dass ich immer wieder sehr gern allein bin. Man könnte es euphemistisch Freiheitsliebe nennen oder pathologisierend Bindungsangst. Solange ich mich wohlfühle und es andere auch nicht stört, ist es allerdings einerlei. Nur, manchmal kann die Stimmung kippen und eh ich mich versehe, fühle ich mich wie ein kleines Kind: „Da ist niemand und es kommt auch niemand.“ Merken Sie etwas? Die Überwindung der Einsamkeit soll von außen „kommen“, dabei könnte ich ja auch Schritte hinaus machen! Doch typischerweise fühle ich mich gerade dann wie gelähmt.

Muss Einsamkeit per se etwas sein, was nicht sein darf – so wie wir auch andere Gefühle als „negativ“ einstufen und als „unwillkommen“ verdrängen? Allein und einsam war Jesus in der Wüste. Auch der wahre Yogi lebt in Einsamkeit. In spiritueller Hinsicht gilt Einsamkeit als Pforte zur göttlichen Seele. Tatsächlich bringt echte Einsamkeit vieles an Licht. Eine wichtige und tiefe Erfahrung, sofern man sie will. Das nützt allerdings jenen nichts, die unfreiwillig einsam sind und scheinbar sinnlos leiden. Solche Einsamkeit ist eine spezifische Form der Niedergeschlagenheit, man kann es auch Depression nennen, zumindest bestehen da enge Verbindungen.

Vielleicht erscheint es Ihnen banal, für mich jedenfalls war es eine Erkenntnis: Die stärksten Gefühle von Einsamkeit sind meist auf konkrete Menschen oder Lebewesen bezogen, oft vermutlich, ohne dass wir diesen Bezug selbst bewusst registrieren – oder ihn eben für banal halten. Ein bestimmtes Gegenüber ist nicht, nicht mehr oder noch nicht „verfügbar“ und Ersatz ist nicht in Sicht (vielleicht weil ich die Augen nicht öffne) oder wird – darauf komme ich noch zu schreiben – nicht akzeptiert, und dies fühlt sich an, wie von aller Welt verlassen zu sein. Nach dem Auszug bei den Eltern sind es diese, die fehlen, selbst wenn ich im Bewusstsein lebe, die Enge des Elternhauses „endlich“ verlassen zu haben. Nach der Trennung von der Partnerin, fehlt diese, selbst wenn ich nicht mehr zurückwill. Es kann auch der Tod vom geliebten Haustier: Hund, Pferd oder Katze sein. Oder eine unglückliche, aber ziemlich heftige, fixe Verliebtheit, die uns übermäßig einsam fühlen lässt. Obwohl wir manchmal schwer beurteilen können, was denn da übermäßig ist, wissen wir als Therapeuten doch: Das Übermäßige verweist auf Altes, auf Kindliches, auf Verdrängtes.

Wahrscheinlich haben ausgeprägte Einsamkeitsgefühle einiges mit der kindlichen Ohnmacht zu tun, mit der Angst, das Alleinsein selbst nicht beheben zu können, mit mangelndem Selbstvertrauen. Wenn ich es mir gar nicht erklären kann, warum ich mich so entsetzlich, sprachlos, still wimmernd einsam fühle, könnte dieses existenzielle Verlorensein die Verzweiflung des inneren Kindes sein und einfach deshalb unerklärlich, weil sie aus einer frühen Zeit kommt, wo wir noch nicht verstehen konnten, warum uns niemand findet und an die Brust drückt.

Ich habe schon mehrfach John Bradshaw als Pionier der Arbeit mit dem inneren Kind erwähnt. Heute möchte ich auf Erika Chopich und Margaret Paul eingehen. Auch ihr Buch, das im Deutschen den Titel „Aussöhnung mit dem inneren Kind“ trägt, ist schon mehr als 35 Jahre alt und hieß im Original „Healing Your Aloneness“ – Heilung Deiner Einsamkeit! „Da das innere Kind sich so schmerzhaft leer, einsam und allein fühlt, wenn der innere Erwachsene ihm nicht hilft, mit der Einsamkeit des äußeren Verlassenwerdens umzugehen, entwickelt es ein Suchtverhalten, um diese Leere zu füllen.“ Dabei kann es sich um Drogen handeln oder um Beziehungs- oder Sexsucht, oft aber „einfach“ nur um ständiges, weitgehend freudloses Tun von mehr oder weniger sinnvollen Dingen, um nichts zu spüren und um Ablehnung zu vermeiden: „Das Gefühl, in Ordnung und liebenswert zu sein, wird, wenn der Erwachsene das innere Kind nicht liebt, von der Bestätigung durch andere abhängig gemacht.“

Manche Menschen messen alles an der Zweisamkeit, die ihnen verloren ging oder von der sie träumen, und vermitteln daher den Eindruck, total allein zu sein, obwohl „nur“ gerade kein Partner vorhanden ist. Manche stürzen sich von einer Beziehung in die nächste, bloß um nicht allein zu sein. Andere befinden sich in ständigen On-Off-Beziehungen. Aus Angst vor Einsamkeit werden viele Beziehungen aufrechterhalten. Aber dass wir Verbundenheit (statt Einsamkeit) nur in Partnerschaften erleben könnten, das ist ein Glaubenssatz, der mit der kindlichen Fixierung auf eine „Bezugsperson“ zu tun hat.

Das Kleinkind ist auf seine Mutter angewiesen, wir Erwachsenen sollten erkennen und lernen, dass unsere Bedürfnisse auf vielfältige Weisen befriedigt werden können. Mami muss nicht ständig um mich herumturnen, damit ich mich wohl fühlen kann. Die Welt geht nicht unter, wenn heute niemand (also Mami nicht) „nach mir schaut“, weil ich für mich selbst bzw. mein inneres Kind sorgen kann – wenn ich es übe. Chopich und Paul sagen: Es braucht tägliche Übung, die Erkenntnis allein ändert noch nichts.

Was also hilft? Dazu muss ich wissen, was mir gerade fehlt, was ich brauche: Ist es ein Gespräch, ist es Nähe, ist es praktische Unterstützung? In Kontakt treten mit Freunden oder guten Bekannten, per Mail, Chat, Telefon. In einen Chor oder einen Sportverein gehen – zwar hilft das nicht akut, aber allein das Sich-kümmern um solche Perspektiven und Anschluss-finden kann als stabilisierend erlebt werden. Mir hilft auch Kochen und Backen, es ist eine Form des psychologischen „Nährens“, und es war die Art meiner Mutter, uns Kindern Liebe zu zeigen, und daher für mich prägend. Singen vertreibt manchmal das Gefühl der Einsamkeit bzw. hegt es ein, beim Singen fühlen wir uns weniger allein. (Es geht nicht allen Menschen so, aber ausprobieren sollten Sie es mal).

Wie wäre es ein Haustier zu hüten, auszuleihen oder zu halten? Als ich mich zuletzt nach Trennung und Umzug wochenlang sehr einsam fühlte, bekam ich für eine Woche unsere Hündin Mira – und alles war anders! Unserem Hund oder unserer Katze können wir alles erzählen, ich weiß nicht, ob es auch für Meerschweinchen, Hamster und Hasen zutrifft, es gilt jedoch sicher für Pferde. Hunde, Pferde und z.T. auch Katzen geben uns das Gefühl, geliebt zu sein. Und man kann außerdem wunderbar mit ihnen kuscheln.

Apropos, haben Sie schon einmal daran gedacht, auf eine Kuschelparty zu gehen? Nein, es hat nichts mit Sex zu tun, sondern mit achtsamer Berührung und Nähe in einem geschützten Rahmen. Die Berührung wird zum Teil angeleitet, dadurch fällt es leichter, über gewisse Schwellen zu gehen, gleichzeitig besteht aber die Selbstbestimmung, d.h. ich mache nur das mit, was ich mag. Vielleicht klingt das recht „gewagt“, aber wagen müssen wir etwas, wenn wir aus der Einsamkeit und aus dem kindlichen Schwarz-Weiß-Denken „entweder einsam oder zweisam“ rauswollen.

Ja, warum geht man nicht die Schritte raus aus der Einsamkeit? Es hat zum einen mit (fehlendem) Mut zu tun, sich zu zeigen (sowieso), und erst recht sich bedürftig zu zeigen. Gerade wenn wir so down sind, fehlt uns oft der Mut. Zum andern beruht die Scheu, aktiv zu werden, auch auf der genannten regressiven Fixierung: Wir wollen etwas ganz Bestimmtes haben, also einen ganz bestimmten Menschen und seine Zuwendung, und empfinden die Zuwendung, die wir von anderen bekommen könnten, als Trostpreis.

Nicht zuletzt gibt es noch die Einsamkeit, die Menschen in Gruppen und Gemeinschaften empfinden können: das Gefühl oder die verzerrte „Wahrnehmung“, nicht richtig dazuzugehören. Dieser pessimistische Glaube kann zu einer Art selffulfilling prophecy werden, so dass Mitmenschen tatsächlich abgestoßen werden, wenn der Betreffende selbst sich überhaupt nicht willkommen heißen oder okay finden kann. Es hat mit einer tiefsitzenden existenziellen Scham zu tun: nicht richtig oder nicht gut genug zu sein. Der Weg heraus führt durch die Scham hindurch: sich zeigen und korrigierende Erfahrungen auch mit der Scham zu machen. Das ist ein sehr dankbares Feld für die Gruppentherapie.

Als Therapeuten müssen wir uns immer mal wieder einen Grundsatz in Erinnerung rufen: „Es ist nicht (nur) so wie es scheint!“ Schon gar nicht so, wie es durch die depressiv getönte Brille des Patienten gerade scheint. Sicher braucht, wer mit Einsamkeit zu kämpfen hat, unser volles Mitgefühl. Und doch sollten wir nicht jedes „ich kann nicht“ oder „ich muss“ akzeptieren, sondern versuchsweise aus jedem „ich muss“ und „ich kann nicht“ ein „ich will (nicht)“ machen. Denn Einsamkeit ist häufiger, als Betroffene es wahrhaben, auch eine Folge von Entscheidungen: Weil ich mit XY nicht mehr zusammen sein kann, igele ich mich ein. Weil ich Angst vor Ablehnung habe, bleibe ich zu Hause. Weil ich Enttäuschung fürchte, gehe ich eine Reihe von oberflächlichen Kontakten ein, die mich nicht erfüllen. Weil ich nicht wirklich in Bindung gehen will, date ich drauflos – und wundere mich über die Leere.

Sicher steckt hinter Vermeidungsverhalten und Ablenkungsmanövern nicht einfach ein Mangel an gutem Willem. Es geht um tief verwurzelte Selbstbilder und Trugschlüsse: „Ich bin nicht gut oder attraktiv genug (d. h. für Mama und Papa gewesen).“ Oder: „Bestimmt mag mich niemand von sich aus (d.h. weder bei Mama noch Papa konnte ich dies spüren).“ Und: „Keine(r) will mit mir etwas unternehmen …“ Therapeuten müssen darauf dringen, diese Glaubenssätze zu hinterfragen und in der sozialen Praxis täglich zu überprüfen, zu verändern und neue Lernsätze zu üben.

Wer einsam ist und es nicht sein möchte, muss etwas riskieren! Eine Alternative ist, die Einsamkeit anzunehmen, sich bewusst zu machen, dass sie Folge von eigenen Entscheidungen ist, dass man sie als Betroffener gerade offenbar nicht – zumindest nicht um jeden Preis – überwinden mag. Und dass es einfach voll okay sein kann, eine Phase der Einsamkeit zu durchleben. Nicht nur eine Chance für die spirituelle Entwicklung, sondern auch für die eigene Therapie und das Erwachsenwerden, also die Arbeit mit dem inneren Kind. Sofern es eben nur eine Phase ist.