E wie Empathie, zum Zweiten

Obwohl es schon einen kürzeren Beitrag zur Empathie von mir gibt, habe ich mich, u.a.angestoßen von Diskussionen mit einer jüngeren Kollegin, nochmals auf Erkundungstour begeben.

„Wenn Du nicht weißt, was Du mit ihm, ihr oder ihnen (d.h. Patient:innen) machen sollst, gib ihnen einfach Empathie, Empathie und nochmal Empathie.“ Der Tipp an weniger erfahrene Kolleginnen und Kollegen hat schon was für sich, allerdings auch einen Haken: Er klingt so, als hätte man Empathie immer reichlich vorrätig und könnte sie unter welchen Umständen auch immer abrufen. Und er scheint zu besagen, dass man für das Vergeben von Empathie eigentlich therapeutisch nicht viel können muss. Es gibt tatsächlich einige – eher wenige – solcher Naturtalente. Die große Mehrheit muss das mit der therapeutischen Empathie aber erst lernen. Mir selbst standen Moral und „Pädagogik“ (dem Patienten zu viel zu schnell „beibringen“ wollen) einige Zeit im Weg, ich hatte das doppelte oder dreifache Glück, beim eigenen Therapeuten, bei meinen Co-Therapeuten und bei (Mit-)Patienten in der Gruppentherapie zu sehen, wie es besser geht.

Tatsächlich gelingt es Mitpatientinnen manchmal schneller, bedingungslose Empathie herzustellen. Vermutlich liegt dies daran, dass sie im Unterschied zu mir als Therapeut keine Intention verfolgen, sich nicht fragen, wo es denn hinführen soll. Wenn es ihnen aber nicht gelingt, liegt das u.a. daran, dass sie sich vergleichen („meine Kindheit war noch viel schlimmer“).

Empathie ist: ein Ideal. Sie bedeutet nicht, dass man voll und ganz in der Geschichte des Erzählers aufgeht und sich identifiziert. Solche Vermischung oder gar Verwechslung mit dem eigenen Schicksal hält von echter Empathie eher ab – und Betroffene (die Erzählenden) merken das.

Vom Ideal zur Realität

Gibt es verschiedenen Formen der Empathie? Nehmen wir an, Sie sind Therapeutin oder spielen diese mal für einem Moment (das Beispiel funktioniert aber auch für Mitpatientinnen). Sie haben eine relativ neue Patientin, die ab und zu ordentlich zu spät kommt. Der abgemachte Termin ist 10:00 Uhr, die Patientin taucht heute wieder mal erst um 10:15 Uhr auf. Sie machen dennoch pünktlich um 10:50 Uhr Schluss bzw. haben das vor, denn um 11:00 Uhr kommt ja der nächste Patient. Also sagen Sie um 10:45: „Wir müssen es für heute abrunden.“ Oder etwas Ähnliches. Die Patientin antwortet tieftraurig: „Nie hat jemand Zeit für mich, wenn es ernst wird.“ Wie reagieren Sie – innerlich und äußerlich? Was wäre eine empathische Reaktion?

Vielleicht fällt Ihnen am genannten Beispiel auf, dass Sie im Alltag mit Ihrem Partner oder mit einem Freund anders reagieren würden, im günstigsten Fall hätten Sie Empathie für sich und für den Partner. Im Alltag kann es jedenfalls vorkommen, dass wir anderen Empathie nur ehrlich geben (können), wenn wir das Gefühl haben, der andere habe sie auch „verdient“, also wenn wir z.B. nicht gleichzeitig denken: „Naja, er ist ja irgendwie selbst schuld an der Misere, in der er steckt.“ In der Therapie scheint es anders: Empathie kennt hier zunächst einmal keine Einwände (später ist das anders, da kann auf der Basis der empathischen Verbindung auch konfrontiert werden). Empathie in der Therapie hat also die Besonderheit, bedingungslos zu sein.

In der therapeutischen Realität gibt es allerdings viele Hemmnisse, die uns von der vollständigen Annäherung an das Ideal abhalten. Das größte Hemmnis der Empathie, und zwar im Alltag wie in der Therapie, ist vermutlich, selbst „verwickelt“ zu sein. So wird es uns beispielsweise schwerer fallen, mit dem Zorn eines Menschen empathisch mitzugehen, wenn dieser Zorn sich gegen uns richtet. Das ist ein sehr anschauliches Beispiel, aber häufig ist unsere Verwicklung nicht so offensichtlich: Vielleicht haben wir ein persönliches „Thema“ mit dem Problem des Patienten oder mit der Rolle, die er uns überträgt. Unsere eigene Abwehr kann uns also an bedingungsloser Empathie hindern: die verdrängte Angst vor Ohnmacht, Aggression und Überforderung, auch die Angst, andere zu enttäuschen. Doch wenn ich davor zurückweiche, wird es schwierig mit der Empathie gerade dort, wo sie besonders nötig wäre.

Ohne Empathie wird der Patient uns nicht nah genug an sich heranlassen. Das sollte aber nicht zu dem Fehlschluss verleiten, unsere Empathie sei nur strategisch oder taktisch, also nur ein Mittel, um an ihn „ranzukommen“. Nein, als Therapeuten, die wir selbst Therapie (als Klient) gemacht haben, oder auch als Mitpatienten sollte uns bewusst sein, dass die Berechtigung für Empathie nicht erst erworben wird.

Im Übrigen führt uns nicht jede Empathie in die Nähe des Patienten; vielleicht schon, aber wir können auch zurückgewiesen werden. Wie wir noch sehen werden, wollen oder können viele Patient:innen anfangs einiges gar nicht fühlen, und haben daher auch kein „Interesse“ daran oder sogar Angst davor, dass wir beim Mitfühlen mehr als sie spüren. Meist möchten sie unser Mitgefühl auf bestimmte Aspekte begrenzen – und manchmal gerade nicht dahin gehen, wo’s wirklich weh tut. Und: Das ist völlig in Ordnung! Überschreiten wir diese Grenze, stärken wir die Widerstände gegen Therapie, evtl. wird uns sogar Aggression entgegenschlagen.

Empathie als Zustimmung

Es geht darum, ohne Wenn und Aber in die Schuhe des Betroffenen zu treten und innerlich zu sagen: „Boah, so fühlt es sich gerade an!“ Was wir dann äußerlich sagen, hängt von der Situation ab. Der Patient erwartet in der Regel auch Zustimmung für seine Sichtweise (obwohl diese z.B. bei einer Depression sehr verzerrt sein kann). Zwar geht es in der Therapie durchaus darum, immer neue, z.T. sogar konträre Sichtweisen zu entwickeln, idealerweise entwickelt der Patient selbst die neuen Perspektiven, animiert z.B. auch durch Rückmeldung von anderen Patienten (in der Gruppentherapie). Am Anfang jedoch braucht es volle Akzeptanz: Im Moment der ersten Empathie ist jeder Gedanke der Korrektur, auch die Differenzierung von Gefühl und Gedanke, völlig fehl am Platz. Diese „Zustimmung“ ist für viele Anfänger in der Therapie, einerlei ob Therapeut oder Patient, unbegreiflich und nicht per se abrufbar.

Ich kenne Momente, in denen ich z.B. die Erzählung des Patienten als „übertrieben deprimierend“ erlebe, so dass eine innere Stimme Einwände erhebt: „Oh Mann, Sie haben so starke Ressourcen – demgegenüber wirkt Ihr hilflos-kindliches Verhalten nicht gerade angemessen.“ Aber wie weit sind wir da noch von den Banalisierungen des Alltags entfernt (!) von der typischen Anti-Empathie-Reaktion: „Ach, das ist doch alles gar nicht so schlimm. Denken Sie mal an den Krieg in der Ukraine …“? Empathie bedeutet oft gerade, sich der subjektiven Ohnmacht des Patienten zu stellen, vielleicht auch seine Verzerrung zu erleben, und diese nicht mit Rationalisierungen abzuwehren. (Das ist sicher etwas anderes, wenn er in jeder Sitzung bzw. jede Woche sein Leben so darstellt.)

Zur Rationalisierung gehört auch die Diagnostik. Wenn ich den Menschen möglichst schnell als „Fall“ einordnen, „verstehen“ und managen will, blühen Diagnostik und Analyse, doch die bedingungslose Empathie leidet. Was in der Medizin gilt, trifft auf die Psychotherapie nur begrenzt zu: „Vor die Therapie haben die Götter die Diagnose gesetzt.“ Nein, hier beginnt alles mit der Empathie. Nebenbei bemerkt, das wäre eigentlich auch in der sog. Körpermedizin schön. Diagnostik verhindert zwar nicht per se das Schenken von Empathie, aber heikel ist es schon, ausgerechnet anfangs viel Gewicht auf die Diagnostik zu legen, mit Leidenschaft den objektiven Befund zu suchen, ohne ganz das Befinden (mit) zu spüren.

Auf den Prozess vertrauen – und sich vorwärts trauen

Manchmal wird das sog. therapeutische Spiegeln mit Empathie verwechselt oder wie ein Synonym verwendet. Das reine Spiegeln ist jedoch nicht per se empathisch, im Gegenteil es kann kalt, technisch, distanziert wirken. Beispiel: Der Patient äußert, dass er sehr wütend sei – und ich sage: „Ich höre da viel Wut.“ Ja, logisch, was denn sonst! Empathie bedeutet anderes und mehr als Papagei zu spielen, es kann bedeuten, mit dem Patienten gemeinsam über eine Schwelle zu tiefem Schmerz zu gehen, vielleicht sogar ihm einen Schritt voraus. Ein Beispiel:

Patientin: „Für mich ist es voll okay, wenn mein Mann nicht alles gemeinsam mit mir machen will.“

Therapeut: „Hm, für mich fühlt es sich so an, als wäre da irgendetwas gar nicht okay …“

Patientin (fängt an zu weinen)

Therapeut: „Da ist offenbar viel Enttäuschung und Schmerz …“

Patientin (in einer Mischung aus Trauer und Wut): „Immer wenn mir etwas wichtig ist, hat er keine Zeit.“

Das scheint eine völlig andere Aussage als zu Beginn, die beiden Aussagen widersprechen sich zwar nicht auf der rationalen Ebene, aber emotional schon. Empathie bedeutet also manchmal, dass wir bewusster fühlen als der Patient selbst (und dass er sich im Idealfall erst dadurch richtig gesehen fühlt), dass wir ihm helfen seine Gefühle zu entdecken.

Wenn eine der geheimen Botschaften der Erziehung lautete „Du sollst nicht spüren“ (sondern brav sein), dann lautet eine zentrale Botschaft der Therapie „Trau Dich zu spüren!“ (und hör endlich auf, brav zu sein …) In der therapeutischen Empathie leben wir diesen Mut, dieses VerTRAUEN vor. Allerdings ist diese Art des Mitfühlens, wie anfangs beschrieben, riskant, sie kann schnell übergriffig werden, wenn ich als Therapeut zu schnell vorankommen will, wenn es gar nicht nur um meine Empathie, sondern um Intention geht. Empathie geht am besten ohne Intention und mit Vertrauen in den Prozess. Insofern ist sie auch eine Sache der Erfahrung und des therapeutischen Rahmens.

Wichtig bei dieser Arbeit ist die bewusste Schulung der Empathie für mich selbst. Wenn ich einen schlechten Platz im Praxis- oder Gruppenraum habe und außerdem finde, die Darstellung der Patientin, die gerade arbeitet, sprengt den zeitlichen Rahmen, dann sollte ich nicht darüber hinweg gehen, sondern für einen besseren zeitlichen und räumlichen Rahmen sorgen – für mich. Andere Menschen merken, wenn ich mich unwohl fühle (auch wenn es bei Weitem nicht alle benennen könnten).

Von der Realität immer wieder zurück zum Ideal

Wie ist das Verhältnis von Empathie zur Sympathie? Subjektiv verschieden. Wenn ich mit Menschen mitfühle, die mir sympathisch sind, ist das Risiko größer als bei anderen, dass ich eine Art sentimentales Selbstmitgefühl pflege und unbewusste Beziehungserwartungen hege (gefallen zu wollen). Es ist okay, wenn wir als Anfänger dankbar sind für Patient:innen, die uns spontan sympathisch erscheinen, doch Schritt für Schritt sollten wir uns auf nahezu jede(n) Patient:in freuen können und die Empathie nicht von der Sympathie abhängig machen. Auch darin sind wir den Patienten wichtige Vorbilder.

Es gibt Therapeut:innen, die das ganz anders sehen (d.h. nur Patienten annehmen, die ihnen sympathisch sind) und es auch plausibel begründen können. Ich erlebe es allerdings als Befreiung, wenn wir uns in der Therapie aus dem Bannkreis der Sympathie lösen, vielleicht weil Sympathie mit Erwartungen verbunden ist, wie viel vom andern zurückkommt. In der Therapie können wir (Therapeuten und Mitpatienten) lernen, wie schön es ist, in der Haltung zu leben, dass jeder Mensch unsere bedingungslose Empathie „verdient“ hat. Oder, auch wenn dies jetzt sehr pathetisch klingen mag, mit Meister Eckhart zu sprechen: „Der wichtigste Mensch ist immer der, der vor uns steht, und das notwendigste Werk ist immer die Liebe.“