H wie hässlich (Dysmorphophobie)

Unsicherheit und Angst, hässlich zu sein, sind weit verbreitet. Bei manchen Betroffenen betrifft dies bestimmte Körperpartien, bei anderen die komplette Erscheinung. Doch die entschiedene Ablehnung des eigenen Körpers als hässlich, die sog. Dysmorphophobie, ist davon zu unterscheiden. Sie lässt sich auch nur teilweise mit der Scham, sich zu zeigen, erklären.

Scham gehört zum „gesunden“ Miteinander: Wenn wir etwas von uns zeigen, was sonst im Vorborgenen bleibt, meldet sich Scham. Das fühlt sich selten wohlig an, muss jedoch nicht schlimm sein. Schlimm wird es für diejenigen, die unter existentieller Scham leiden, unter dem Gefühl, grundsätzlich verkehrt und nicht erwünscht zu sein, oder unter anderen Formen toxischer Scham etwa als Folge von sexuellem Missbrauch. Sie werden in den Momenten, wo Scham auftritt, sofort von einem Scham-Mechanismus überrollt. Daraus entsteht sehr viel Vermeidungsverhalten, was alles nur schlimmer macht, und eben eine grundsätzlich negative Haltung zu jeglicher Form von körperlicher oder seelischer Nacktheit erzeugt.

Dies sind Hinweise darauf, dass sich eine isolierte Dysmorphophobie vermutlich selten findet, d.h. das Problem taucht gemeinsam mit anderen psychischen Störungen auf. Zwei Sonderfälle möchte ich benennen: Ein ausgeprägter Selbsthass, der mehr umfasst als eine verzerrte Körperwahrnehmung oder unverhältnismäßige Beschäftigung mit der (vermeintlichen) äußeren Hässlichkeit, geht häufig auf seelischen oder körperlichen Missbrauch zurück. Die Opfer geben sich dabei selbst die Schuld (oder eine Mitschuld), dass es passierte. Dabei wird der Körper zu einer Projektionsfläche von toxischer Scham und Selbsthass.

Auch bei einem anderen „Opfer-Phänomen“ kann der Körper zu Projektionsfläche werden: Menschen mit sehr wenig Selbstwert, Selbstakzeptanz und Selbstwirksamkeit – dem Bewusstsein, aktiv Einfluss auf das eigene Leben zu haben – können z.B. Hauterscheinungen oder starkes Übergewicht zum Anlass von Selbsthass nehmen: „Nicht einmal das kann ich kontrollieren.“ Im Teufelskreis der Selbstabwertung gilt die ästhetische Abweichung vom Ideal dann geradezu als Beweis für das generelle eigene Versagen. Wer sich selbst so abwertet, schützt sich auch vor Enttäuschungen, bleibt aber im depressiven Lebensmodus.

Typisch für die Dysmorphophobie ist das Ausmaß der Beschäftigung mit dem Thema: Wer sich täglich stundenlang mit dem eigenen Aussehen beschäftigt, dieses ablehnt, sich viel mit andern vergleicht und aus der Sorge heraus, gesehen und bewertet zu werden, vielen sozialen Aktivitäten und Begegnungen aus dem Weg geht, der (die) ist gestört. Auch die einschlägigen Diagnose-Handbücher werten die „anhaltende Beschäftigung“ mit der vermeintlichen Missbildung als diagnostisch relevant (z.B. nach ICD 10: F 45.21).

Das Gegenteil von „gestört sein“ ist aber nicht „normal sein“ – darin besteht der Denkfehler derer, die sich durch Eingriffe versuchen anzupassen, darin besteht der Denkfehler aller Überangepassten (Normopathen), vieler psychisch kranker Menschen und ihrer Angehörigen, darin besteht der Denkfehler dieser Gesellschaft mit ihrem extremen Anpassungsmechanismen. Das Gegenteil von gestört ist vielmehr: „ungestört sein“, d.h. sich gut genug fühlen, um sich nicht ständig damit zu befassen.

Ob sich jemand schön genug findet, das erscheint zunächst als Ergebnis aus zwei gegeneinander wirkenden Kräften: dem Konformitätsdruck der Gesellschaft (oder des konkreten sozialen Milieus), der in bekannten Schönheitsidealen Niederschlag findet, auf der einen Seite und der Widerstandskraft (Resilienz) des einzelnen gegen diesen Anpassungsdruck auf der anderen Seite. Ganz so einfach ist es beim näheren Hinsehen dann aber doch nicht. Die eingebildete Hässlichkeit hat nicht nur damit zu tun, dass es sich bei den Betroffenen um Menschen handelt, die es anderen unbedingt recht machen wollen (sog. People Pleaser), also überangepasst sind. Außerdem erklärt diese Gleichung mit zwei Variablen nicht hinreichend die extreme Wahrnehmungsverzerrung von Menschen, die nach weithin geltenden Kriterien nicht hässlich sind, dies aber felsenfest glauben.

Wie viel Nacktheit kann man (frau) unter diesen Bedingungen zeigen oder zulassen: mit Badehose (Bikini) im Schwimmbad, ganz ohne in der Sauna oder beim Sport unter der Dusche? Wer sich all dies versagen muss, weil er (sie) per se nicht gesehen werden möchte, der ist – gestört. Die Störung macht also auch aus, dass durch Vermeidungsverhalten viele Genüsse des Lebens unterbunden werden und das dieses Verhalten gleichzeitig viel Energie, Zeit und Intelligenz bindet und immer weiter in die Isolation führt.

Was wäre die Lösung? Manche meinen: Body Positivity, also die gelebte Überzeugung, dass jeder Mensch schön ist, egal wie er aussieht, und es lernen kann, sich schön zu fühlen. Bekannt sind diese Komzepte vor allem von übergewichtigen Aktivistinnen (heute sagt man wohl Influencerinnen), die sich und ihresgleichen zurecht vom unnötigen ethischen oder ästhetischen Makel befreien wollen.

Doch wie lebt man eine solche Überzeugung? Body Positivity lässt sich nicht durch gute Vorsätze erreichen, es ist eher ein therapeutisches Programm:

  • Den Selbstwert stärken, z.B. unabhängig von Gewicht, Bemuskelung, Hautreinheit usw.
  • Sich und anderen Komplimente machen lernen.
  • Aber auch: sich und andere immer weniger zu bewerten, natürlich auch immer weniger zu vergleichen.
  • Anfangen, irgendetwas am eigenen Körper zu mögen und diesen Bereich auszubauen oder diese Inseln mehr und mehr zu verbinden.
  • Das selbstverständliche Funktionieren und Dienen des Körpers für mich achtsam wahrnehmen und bewundern.
  • Dem Körper Gutes tun bzw. sich selbst über körperliches Erleben Gutes tun, z.B. ein Schaumbad nehmen oder sich eine Massage gönnen.
  • Natürlich auch: genussvoll essen.
  • Und, ganz wesentlich, die Aufgabe der Heimlichkeit, das kleinschrittige Sich-öffnen und Sich-zeigen, zunächst im geschützten Rahmen und nur unter Leidensgenossinnen, dann aber auch im wahren Leben bzw. im eigenen Umfeld.

Gleichzeitig gilt es die individuelle Geschichte der Störung, die zugrundeliegenden Muster und Glaubenssätze anzuschauen, zu erkennen: Woher kommen die sozialen Ängste, die tiefsitzende Scham, die Kontakt- und Beziehungsschwierigkeiten? Aber auch erkennen, dass und inwiefern heute eine andere Situation ist: „Ich bin nicht mehr die Kleine von damals.“ Um dies zu glauben müssen Betroffene lernen, anders in Kontakt zu gehen, Beziehungen aufbauen und halten.

Wie bei allen schwerwiegenden Störungen reicht es nicht, einen Glaubenssatz durch das Gegenteil zu ersetzen, oder den inneren Kritiker einfach mundtot machen zu wollen. Es muss ein neuer Satz her, den wir tatsächlich glauben (können). Sonst ist es kein Glaubenssatz, sondern ein Vorsatz – und Vorsätze können bekanntlich das Gegenteil bewirken. Wer sich hässlich findet, dem nützt es in der Regel wenig, mantrenartig zu sagen: „Alle Menschen sind schön“. Ich finde es ebensowenig zielführend, zu allem, was schön oder hässlich sein soll, „scheißegal“ zu sagen – also, scheißegal ob ich schön bin oder nicht. Das wäre bestenfalls pubertärer Trotz, weil es für die meisten eben nicht scheißegal ist (vielleicht: noch nicht).

Für mich zeigt sich ein sinnvolles Therapieziel eher in dem Einstellungssatz: „Ich bin auch mit dem, was mir schwerfällt zu akzeptieren, schön genug, um es mir gut gehen zu lassen.“ Oder etwas blumiger: „Ich bin schön genug, um glücklich zu sein.“ Solche Sätze wollen eingeübt und an der Realität überprüft sein, immer wieder und in neuen Varianten. Das Ungewohnte muss gewagt werden. Der ideale Ort dafür ist der geschützte Rahmen der Gruppentherapie.