Fällt Ihnen spontan ein Vorbild ein? Oder ist die innere Abwehr des Begriffs „Vorbild“ schneller und stärker? Das kann ich gut verstehen. Sicher ist es angebracht, in unserer Zeit, da ehemalige Vorbilder, seien es Politiker oder Kirchenführer, vom Sockel stürzen oder gestürzt werden oder sich, sofern sie noch leben, unglaublich blamieren und Schaden auf ihre Institutionen häufen, bei diesem Thema kritisch nachzufragen. Ein weites Feld von Narzissmus bis Rassismus (und auch anderen -ismen). Es gibt auch bei mir das ein oder andere v.a. politische Ex-Vorbild, das ich heute gerne geheim halte. Ich bin dennoch überzeugt davon, dass Vorbilder eine positive Rolle in unserem Leben und in der Therapie spielen (können) und warte noch auf ein treffenderes Synonym, das zugleich plastisch-konkret ist und nichts von Personenkult hat. Übrigens gibt es natürlich genauso viele Frauen als Vorbilder wie Männer, auch wenn das sich vermutlich in den Köpfen noch nicht entsprechend abbildet, da wir immer noch gelernt haben „Männer machen Geschichte“. Therapeutische Vorbilder sind für mich John Bradshaw, ein Pionier der Innere-Kind- und Scham-Arbeit, und Geneen Roth, die vielen geholfen hat, sich frei zu kämpfen von zwanghaftem Essen – beides Menschen, die selbst viel Leid als Kinder erfahren haben und auch als Betroffene die Themen kennen, die sie mit ihren Klienten bearbeiten.
„Vorbild“ ist sehr nah dran an „Vorstellung“ und steht damit für die Kraft der Imagination: Was wir uns vorstellen können, ist schon ein Teil unserer Realität, gewissermaßen neurologische Wirklichkeit. Als Kinder lernen wir auf diese Weise der Nachahmung viel von unseren Vorbildern, das ist sozusagen unvermeidlich – so unvermeidlich wie die irgendwann folgende zumindest partielle Enttäuschung und Entfremdung von diesen ganz großen „Modellen“. Das gehört zum Erwachsenwerden. Aber bedeutet Erwachsensein dann, mit Vorbildern nichts mehr am Hut haben zu wollen? Ich denke: nein. Es geht vielmehr darum, aus der frühen These (Überhöhung) und der folgenden Antithese (Abwendung) eine Synthese zu schaffen, Vorbilder neu zu verstehen und zu nutzen. Und natürlich ist mensch auf der sicheren Seite, wenn er/sie statt realen Menschen Romanfiguren und Filmhelden zu Vorbildern wählt …
Etwas arg nüchtern könnte man sie „Ressourcenträger“ nennen: Da hat jemand eine Eigenschaft, die zu leben mir auch gut täte. Das muss nicht unbedingt ein großer Held sein, ich hatte einen Philosophie-Professor, der mich immer wieder durch seine Bescheidenheit und Gelassenheit beeindruckt hat und mir diesbezüglich zum (unerreichten) Vorbild wurde. Auch als HP-Anwärter und Heilpraktiker habe ich im Rahmen von Weiterbildungen und Kongressen immer wieder Vorbilder kennenlernen dürfen.
Andererseits lehne ich für mich selbst auch ganz große „Idole“ nicht per se ab, durch ihre Strahlkraft können sie auf unserem Weg wirklich helfen, z.B. durchzuhalten, wie etwa Nelson Mandela, der ein halbes Leben im Gefängnis verbringen musste. Interessanterweise wird im Englischen das scheinbar naheliegende Wort „Idol“ in diesem Sinne eher selten verwendet, ein Vorbild bezeichnet man viel einfacher als „example“: als „Beispiel“. (Umgekehrt ist im Niederländischen ein „voorbeeld“ nur ein Beispiel.)
Ob Beispiele, um pädagogisch oder therapeutisch wirksam zu sein, „erreichbar“ sein müssen, da gehen die Meinungen auseinander (siehe auch PS). Wahrscheinlich ist es je nach Mensch oder Patient sehr unterschiedlich. Ich kann sehr gut mit unerreichbaren Vorbildern wie etwa Tolstoi leben, da es mir in dem Fall weniger um seine schriftstellerische Größe als vielmehr um seine Werte geht. Und diesbezüglich habe ich jeden Tag neu die Chance, etwas davon in die Welt zu bringen. Zum erwachsenen Umgang mit dem Thema gehört jedenfalls die Erkenntnis: Vorbilder müssen nicht in jeder Hinsicht vorbildlich sein.
Als ich mit über 40 Jahren noch Tischtennis anfing, habe ich immer wieder Videos von großen Defensivspielern wie Joo Se-hyuk, Panagiotis Gionis und Jun Mizutani angeschaut und mir dabei einiges angeeignet (obwohl ich auch nach etlichen Kursen und Lehrstunden maximal in der 1. Kreisklasse gespielt habe). Und bei konzentrativen Atem- und Bewegungstechniken profitieren wir sehr davon, wenn etwa der Qiqong-Lehrer die Bewegungen „schön“ vormacht, dann kann sich bei uns die Illusion einstellen, die eigene, anfängerhafte Bewegung hätte auch etwas davon – und schon fließt die Energie ganz anders. Der viel beschworene Geist des Anfängers hat ja mit dieser Be-GEIST-erung zu tun.
Wenn wir etwas Neues lernen wollen, sind Vorbilder extrem hilfreich. Und das gilt auch für die Therapie, in der es ja oft darum geht, Neues zu lernen (statt von der Vergangenheit fasziniert, also gefesselt zu sein). Hier könnten wir immer mal wieder die Frage stellen: Welche Person kann mit den Herausforderungen, die vor mir liegen, gut umgehen? Oft ist der oder die, welche*r dann spontan auftaucht, nützlich, selbst wenn uns das betreffende Vorbild in mancherlei Hinsicht irgendwie peinlich sein mag.
Es gibt verschiedene Varianten und Techniken, mit diesen Vorstellungen zu arbeiten: Man unterhält sich mit dem Vorbild, oder setzt sich mal auf seinen (ihren) Platz und spürt, wie sich das anfühlt, mit welchen Augen wir die Welt nun sehen. Oder wir lassen uns in einer Art Phantasiereise eine Qualität überreichen usw. Überhaupt lässt sich Vorbild-Arbeit gerade unter Hypnose sehr gut umsetzen. Und nicht zuletzt kann man sich selbst dabei auch als Vorbild nehmen: Wann ist es mir schon einmal gelungen, diese oder jene Aufgabe zu meistern, und wie ist mir das gelungen? Im Übrigen gilt wie bei vielen anderen Imaginationstechniken: Übung macht den oder die Meister*in. Können Sie sich vorstellen, das Bild eines Vorbilds für einige Zeit auf ihren Schreibtisch zu stellen? Viel Glück damit!
PS. Ich bin, wie Sie gemerkt haben, ein Freund der Idee vom Vorbild. Die gängigen Vorbilder haben allerdings, therapeutisch und ethisch gesehen, einen großen Schatten: Sie sind meist erfolgreich (gewesen). Aber vorbildliches Denken und Verhalten garantiert leider keinen Erfolg! Für mich sind z.B. viele Patienten wahre Vorbilder: Sie stellen sich krassen Herausforderungen und zum Teil schrecklichen Lebensschicksalen oder Situationen oft mit einer vorbildlichen Tapferkeit. Sie werden persönlich natürlich nie in einer Zeitung – oder in einem Blog – auftauchen, da sie keinen öffentlichkeitswirksamen besonderen Erfolg haben. Ihr Erfolg besteht im Überleben. Und selbst das nicht immer.