F wie Fehler

Es gibt keine Fehler, nur Variationen. Ein bisschen Ähnlichkeit hat dieses geflügelte Wort mit dem Motto: „Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung.“ (Für mich gibt es schlechtes Wetter, alle, die mich näher kennen, wissen das 😊. Dann bringt nur Mira vor die Tür …) Beide Sprüche scheinen nicht ganz ernst, aber auch nicht nur als Spaß gemeint. Vielleicht könnte man sie als Herausforderung verstehen, aus dem Schwarz-Weiß-Denken von richtig und falsch herauszutreten, jedenfalls die Sache etwas entspannter zu betrachten. Entspannung ist ein gutes Stichwort.

Ich habe das schöne Motto „Es gibt keine Fehler …“ zunächst beim Heilsamen Singen kennen gelernt, und in diesem Kontext verwende ich es selbst immer wieder. Es steht für die Einladung, sich vom Leistungszwang freizumachen und beinhaltet das Versprechen von mehr Spaß und Lebensfreude durch weniger Bewertung.

Das Motto trifft auf viele weitere Lebensbereiche und auf die Lebenskunst zu. Aus ihm sprechen Wohlwollen und Güte, wenn es darum geht, etwas anders zu machen oder etwas ganz Neues zu wagen. Wann immer etwas passiert, was unseren Wünschen oder Idealvorstellungen widerspricht oder auch nur unseren Perfektionismus stört, könnten wir uns fragen: „War’s wirklich ein Fehler oder eher eine Variation?“

Doch, es gibt sie: Fehler. Und die Angst, Fehler zu machen, ist ein wesentlicher Teil unserer Lebensängste, manchmal unbewusst und diffus, manchmal sehr präsent, wenn wir vor Entscheidungen stehen: Soll ich dieses Medikament nehmen, wo es doch auch Nebenwirkungen hat und meine Werte vielleicht gar nicht so schlimm sind? Soll ich dieses gebrauchte Auto kaufen, man steckt ja nicht drin, und es ist eine Menge Geld …? Soll ich den Job kündigen, auch wenn ich noch nicht weiß, ob ich nochmals solch einen guten (oder gut bezahlten) bekomme? Soll ich den neuen, unbekannten Urlaubsort jetzt buchen, obwohl es doch am alten immer recht schön war? Ist der Spatz in der Hand (die sichere Variante) wirklich besser als die Taube auf dem Dach?

Wir kommen nicht umhin, ab und zu Fehler zu machen. Was dann? Schön, wenn manche Fehler zu etwas gut sind, wenn wir etwas daraus lernen – aus Schaden wird man klug (nicht immer) – und sich durch kleine Fehler größere vermeiden lassen oder sich aus Fehlern Chancen ergeben. Doch es gibt auch Fehler, die sich selbst mit Distanz noch genauso darstellen, kleine und größere. Dann braucht es Selbstliebe und Selbstvertrauen: „Ich habe es nach bestem Wissen und Gewissen gemacht.“ Oder vielleicht nicht einmal das: „Ich wusste es eigentlich besser, aber ich wollte mit dem Kopf durch die Wand …“ Selbstliebe heißt: Ich kenne diesen Anteil von mir und ich stehe dazu. D.h. nicht, dass ich ihn schönrede. Aber ich darf Fehler machen!

Nach meiner Erfahrung sind die meisten Handlungen (oder auch Nicht-Handlungen), die später als Fehler klassifiziert werden, ohnehin mit einer gewissen Notwendigkeit geschehen: Eigentlich hatten wir wichtige Gründe, uns genauso zu entscheiden, oder aber wir hatten (scheinbar) gar nichts zu entscheiden, wir hatten keine Wahl. Hinterher ist man immer klüger, aber vermutlich geht es dabei eher selten um Fehler, sondern um Variationen auf unserem Lebensweg – und wie be- oder abwertend wir damit und wie freundlich wir mit uns selbst umgehen, das scheint mir maßgeblich dafür, ob unser Leben besser wird.

Die Angst, im Zwischenmenschlichen Fehler zu machen, kann sich sehr einengend anfühlen. Da geht es um die soziale Seite unseres Selbstwerts. Manchmal projizieren wir unsere diesbezüglichen Ängste auf den andern: „Kann ich ihm heute Abend absagen, mir ist es eigentlich zu viel, aber dann fühlt er sich zurückgesetzt, vielleicht verletzt es ihn?“ Gelinde gesagt, das ist Unsinn! Wir können niemand verletzen, weil wir ihm absagen. Wir sollten unsere eigenen Ängste in dieser (und in allen) Beziehungen mehr ins Bewusstsein nehmen.

Häufig haben wir im mitmenschlichen Umgang weniger Angst vor Fehlern als Angst vor Scham. Wenn Patienten über Fehler reden, verwenden sie oft das Wort „Schuld“. Doch für Schuld braucht es bösen Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit. In Wahrheit geht es um Scham, doch wir vermeiden es meist konsequent, darüber zu reden. Manchmal ordentlich verdrängt, arbeiten Fragen in uns wie: Bin ich gut genug? Darf ich unvollkommen sein, und bin doch willkommen? Solange ich keine Fehler mache, scheinen diese Fragen zwar keinesfalls beantwortet, aber halbwegs beruhigt.

Über die Scham kommen wir wieder zum geflügelten Wort: „Es gibt keine Fehler, nur Variationen!“ Es hat einen hervorragenden Anwendungsbereich – in der Kreativtherapie und überhaupt in der Kreativität. Erstaunlich viele Menschen haben Angst, falsch zu singen oder den Rhythmus nicht zu treffen, dabei geht es ja nicht darum, etwas richtig, sondern neue Erfahrungen zu machen. Ähnlich beim Tanzen, Malen, Schauspielern oder Spielen. In Wirklichkeit geht es gar nicht um die Angst vor Fehlern, sondern um die Angst vor Scham: Nicht gut genug sein und dabei gesehen werden. Nicht „wirklich“ willkommen zu sein. Doch wie es „wirklich“ ist, erfahren wir nur, wenn wir es ausprobieren, uns der Scham stellen. Wo die Angst ist, da geht’s lang. 😊

„Ich kann nicht malen …“ „Ich kann nicht singen …“ Patienten fürchten manchmal nicht gut genug zu sein in kreativen Feldern, als ob es sich dabei um rechtes Fehlverhalten handeln würde. Manche werden in der Gruppentherapie von der Angst, etwas Falsches oder vermeintlich Unpassendes zu sagen, regelrecht fertig gemacht, d.h. sie machen sich selbst damit fertig. Den meisten Stress machen wir uns selbst – weil wir noch nicht gelernt haben, mit unserer Scham umzugehen. Es ist ein großer Vorzug der Gruppentherapie, dass wir hier lernen können, über Fehler und Schwächen zu reden (natürlich auch über Stärken und Erfolge, was manchen noch schwerer fällt) und dabei mit der eigenen Scham umzugehen. Etwas kann schambehaftet und schön zugleich sein.

Kennen Sie das: Im Beruf Fehler machen? Das hat auch sehr viel mit Angst vor Beschämung (durch andere) oder Scham (durch mich selbst) zu tun. Hier überlagern oft die beruflichen Fehler, die passieren oder die man macht, jene großen Ängste, nicht gut genug zu sein. Als Heilpraktiker habe ich in den vergangenen 25 Jahren immer wieder solche Situationen erlebt – bei Unsicherheiten in punkto richtig und falsch fiel mir sofort ein, dass „sie“ (meine Arbeitgeber, drei an der Zahl, manchmal auch meine Geschäftspartner: Autoren, Referenten) eigentlich auf dieser Stelle lieber einen Arzt gehabt hätten. Glücklicherweise habe ich nie nach der Devise gelebt: Bloß keine Fehler machen. Doch die Angst kenne ich.

In modernen (?) Unternehmen wird heute von Fehlerkultur gesprochen. Naja. Wenn es denn stimmt … Was definitiv stimmt: Institutionen und Systeme, die fehlerfreundlich oder zumindest fehlertolerant sind (von der Familie bis zur Firma), unterstützen oder ermöglichen die Entwicklung von Kreativität: Die Beteiligten trauen sich, etwas anders zu machen als wie es immer gemacht wurde, sie wagen es, Neues zu versuchen.

Das ist auch ein Grund, warum Kreativtherapie so wichtig ist: Aufhören, alles so zu machen wie bisher, und neue Erfahrungen wagen. Es geht nicht um schöne Bilder, tollen Gesang oder eine beeindruckend Tanz-Performance. Es geht um Mut zum Neuen und auch den Mut zur Unvollkommenheit. Es geht darum zu spielen wie Kinder – bevor sie lernen, dass es sinnlos und nicht gut genug ist.

Ich halte zwar nicht viel davon, sich das Lebensende vor Augen zu führen, um zu prüfen, was wichtig ist, aber es ist aufschlussreich, dass Menschen am Lebensende eben nicht Dinge, die sie getan haben, sondern das zu den größten „Fehlern“ zählen, was sie unterlassen, was sie sich nicht getraut haben. Das mutige Ausprobieren mit dem Risiko, Fehler zu machen, scheint mir jedenfalls besser, als Fehler partout vermeiden zu wollen: „Wer keine Fehler macht, probiert zu wenig.“ (Danke @Denise)