Die Freiheit ist eine ganz edle, sie könnte sich „von und zu“ nennen, das ist gar nicht so abwegig, wie wir sehen werden. Man traut sich nicht mal eben so, sie anzufassen oder gar in den Mittelpunkt zu ziehen. Vielleicht geht das auch gar nicht. Mir scheint jedenfalls, je mehr von der Freiheit die Rede ist, desto weniger existiert sie. Diese Ansicht ist äußerst pauschal, schon allein, weil es nicht „die“ Freiheit schlechthin gibt, obwohl z.B. Wahlslogans wie „Beide Stimmen für die Freiheit!“ gerade dies suggerieren. Freiheit ist in verschiedener Hinsicht immer relativ, deshalb sollten wir der häufig pathetischen Verwendung des Begriffs mit Vorsicht und Bescheidenheit begegnen.
Hilfreich für eine kritische Sicht auf das Thema und konkrete Prüfung irgendwelcher Freiheitsversprechen ist die in der Philosophie lange bekannte Unterscheidung zwischen der „Freiheit von“ und der „Freiheit zu“ (oder Freiheit „für“), man spricht dabei auch von negativer (wovon) und positiver Freiheit (wofür). Stellen wir uns vor, wir schauten durch eine Brille mit zwei verschiedenen Gläsern, zwei Perspektiven, also „Durchblicke“, die sich ergänzen: die negative und die positive Freiheit. Damit lassen sich viele Freiheitsideen und -ideale durchschauen.
Ein wohlklingender Begriff, auf den der politische
Liberalismus keinen Patentschutz hat
Nehmen wir zunächst den alten US-amerikanischen Traum eines Landes der unbegrenzten Möglichkeiten ins Visier. Darin bedeutet die Freiheit von staatlicher Reglementierung im Ideal, dass Bürger diese Freiheit zur Gestaltung ihres Lebenswegs nutzen können: als Freiheit, ihr Glück zu machen, wie es in der Unabhängigkeitserklärung formuliert wurde. In der Realität allerdings war dies mit beispielloser Freiheitsberaubung von Ureinwohnern und Schwarzen, aber auch sozialen Unterschichten verbunden.
Die gefeierte „Freiheit wofür“ müsste also korrekterweise heißen „Freiheit für wen“. Interessant ist, dass die Unabhängigkeitserklärung der Freiheit, nach seinem Glück zu streben, den Glauben an die Gleichheit der Menschen und an unveräußerliche Menschenrechte vorangestellt hatte: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.” Bei der Betonung von Freiheit, vor allem, wenn es besonders pathetisch klingt, geht es also selten nur um Ideale, sondern auch um Ideologie.
Ideologen sind bekanntlich immer die anderen. Und daher schauen wir nun einmal auf den entgegengesetzten gesellschaftlichen Traum: die kommunistische Idee. Sie beinhaltete wesentlich die Freiheit von Ausbeutung für die breiten Massen. Sich frei fühlen und Freiheiten haben, weil man als Arbeitnehmer seine Haut nicht zu jedem Preis zu Markte tragen muss, sondern soziale Sicherheiten genießt, das bleibt nicht nur philosophisch eine revolutionäre Umkehrung der bürgerlichen Freiheit.
Freiheit kann also für sehr gegensätzliche Werte, Bedürfnisse und ihre Realisierung stehen. Dass man Sicherheit und Schutz als Freiheit auslegen oder umdeuten kann, hat den Liberalen aller Zeitalter verständlicherweise gar nicht gefallen. Aber Konflikte bieten die Chance zu Erkenntnis und Wachstum. In der Hegelschen oder Marxschen Dialektik hätte man sagen können: „Wo ist das Problem? These und Antithese haben einen Teil der Wahrheit, wir müssen nur noch die Synthese finden.“
Tatsächlich würde ich es nicht für falsch halten, Marx als einen radikalen Liberalen zu bezeichnen. Allerdings sollte nach seinen Vorstellungen die Freiheit durch Sicherheit auch im Sozialismus und erst recht im Kommunismus eine Freiheit zur Lebensgestaltung beinhalten. Und daran haperte in der realsozialistischen Wirklichkeit, egal wo in aller Welt dieses Experiment gewagt oder erzwungen wurde, gewaltig: Es gab keine freie Berufswahl und auch vieles andere an Freiheiten nicht, schon gar keine freie politische Betätigung, bestenfalls etliche wohlklingende Titel für Institutionen, Verbände oder Zeitungen, wie etwa die „Freie Deutsche Jugend“ (FDJ) oder „Das freie Wort“. Insofern scheint mir die vermeintlich überzogene Eingangsthese – je mehr von Freiheit die Rede ist, desto weniger existiert davon – zumindest eine wichtige regulative Idee oder sagen wir: ein Alarmglöckchen.
Nach der sexuellen Revolution:
aus Freiheit folgte Verantwortung
1968 gilt als ein Inbegriff von Befreiung. Da wurden nicht nur alte Zöpfe abgeschnitten und Talare heruntergerissen, sondern auch öffentlichkeitswirksam gleich mal alle Hüllen fallen gelassen. Jedenfalls ließen und lassen sich auch die neuen Freiheiten im Gefolge der sog. sexuellen Revolution durch unsere spezielle Zwei-Gläser-Brille betrachten: Werden die Fesseln von traditioneller Sexualmoral und kirchlicher Dogmatik gesprengt, wofür wird diese Freiheit dann genutzt? Je mehr Freiheit ich beanspruche, desto mehr muss ich auch Verantwortung für die Gestaltung des Freiheitsraums übernehmen – das ist manchen Revoluzzer erst im Nachhinein etwas schmerz- oder schamhaft klar geworden.
Allerdings bedeutet dies auch nicht, dass sich jene, die sich an die tradierten Normen gehalten haben und alles Übel in der neuen Zeit auf die 68er zurückzuführen dachten, per se verantwortungsbewusster oder moralisch korrekt verhalten haben! Zur „Revolution“ von 1968 gehört, dem Bewusstsein für die eigene Verantwortung zum Durchbruch verholfen zu haben. Mit den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen ehrlich und authentisch umzugehen, das bedeutet keinesfalls automatisch Egoismus oder Hedonismus, sondern legt die Basis für eine neue Qualität von Kontakten, Beziehungen und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Dass es manchmal bequemer wäre, sich an alte Regeln zu halten oder aber diese in Bausch und Bogen zu verwerfen und auf „anti“ zu machen, steht außer Frage. Die Freiheit ist nicht immer lässig zu realisieren. Lässig ist aber ein gutes Stichwort. Wir kommen darauf zurück.
Die Frage nach der eigenen Verantwortung ist in der Philosophie klassischerweise als die nach der Willensfreiheit diskutiert worden. Gibt es sie überhaupt? Manche dieser Argumentationen wirkt heute so kurios wie die Gottesbeweise der mittelalterlichen Scholastik. Doch, wie bereits angedeutet, wir sollten bescheidener sein, denn wir sind nicht viel schlauer und müssen mir der altbekannten Paradoxie des Lebens zurechtkommen: Im Rückblick erscheint uns vieles an unseren Entscheidungen erschreckend schicksalhaft oder, wie der Philosoph sagt, „determiniert“ – es konnte doch gar nicht anders kommen. Mit Blick nach vorne dagegen erscheint uns das Leben eine manchmal erschreckend große Entscheidungsfreiheit zu lassen.
Nicht wenige Philosophen haben gemeint, es wäre ihr Job, einen Ausweg aus der Paradoxie zu finden, und sie haben ihn erledigt, indem sie behaupteten, wenn wir beim Blick nach vorne sehr genau hinsehen könnten (und sehr rational handeln würden), würde sich die Freiheit der Entscheidung als Einsicht in die Notwendigkeit zeigen. Dass aus „wahrer“ Erkenntnis die „wahre“ Freiheit entsteht, werden viele weder für wahr noch für besonders attraktiv halten. Vielleicht ist es dennoch eine schöne regulative Idee, die uns hilft, gelegentlich zu entspannen, uns nicht so wichtig zu nehmen. Diesmal die regulative Idee nicht als Alarmglöckchen, sondern als Meditationsglöckchen.
Es gibt nicht nur die Freiheit „von und zu“,
sondern auch die „Freiheit in“
Damit kommen wir zu Lässigkeit und Gelassenheit. Vielleicht nützt uns die Betrachtung, dass die buddhistische Philosophie in gewisser Weise zu ähnlichen Schlüssen gelangt, wenngleich die Prämissen wesentlich fundamentaler und transzendenter klingen: Erleuchtung und Freiheit sind eins, denn wenn ich die „rechte“ Erkenntnis habe, dass alles Vergängliche unbedeutend ist und nur unsere wahre, göttliche Natur dauerhaft besteht, kann ich alles Vergängliche, zulassen und damit zugleich loslassen, da ich mich nicht identifiziere. Wer sich eine solche Haltung immer wieder erarbeiten kann, erlebt eine besondere Form von innerer Freiheit. Es ist die Freiheit des „mittleren Wegs“ zwischen Verdrängung und Anhaftung (im Blog zu Wut habe ich das am Beispiel dieser Emotion erläutert).
Tatsächlich ist der Blick auf das buddhistische Konzept einer „Freiheit in“ mehr als ein Exkurs. Denn wir brauchen innere Freiheit, um äußere Freiheit zu leben. Dafür einzutreten, was man denkt, fühlt, braucht und wünscht, erfordert Mut oder eben gewissermaßen buddhistische „Gelassenheit“: Ich habe Angst und lasse sie zu, aber ich lasse mich nicht davon besetzen oder regieren, ich identifiziere mich nicht damit. Meditation, sagt Thich Nhat Hanh, ist die gelassene Begegnung mit dem, was ist. Achtsamkeit(straining) wiederum besteht darum, die Haltung der Meditation in den Alltag zu übertragen bzw. sie dort immer wieder zu aktivieren.
Die „Freiheit in“ ist auf unserer Brille vielleicht so etwas wie der Sonnenschutz, damit wir nicht von den vermeintlichen großen Freiheiten geblendet werden. Im Vergleich mit den Freiheitsbestrebungen der Geschichte, den Kämpfen für Freiheit in politischen Debatten und auf den Barrikaden, erscheint diese innerliche Freiheit zwar wie „kleine Brötchen backen“ oder gar wie Weltflucht. Das muss jedoch nicht so sein: Die eigene Freiheit zu entdecken, zu fühlen, was man fühlt, zu spüren, was man braucht, und dafür einzutreten, ohne dabei zum Wutbürger zu werden – das ist gemessen an dem, was uns an Freiheiten in Marketing und Politik immer wieder versprochen wird, vermutlich doch ziemlich revolutionär und letztlich auch eine Grundlage, um nachhaltig gesellschaftsverändernd und geschichtsträchtig zu handeln.
Die „Freiheit in“ sorgt auch dafür, dass mir die Freiheit der anderen verständlich und wichtig ist, sie sorgt also für Toleranz, das hat in den historischen Kämpfen um Freiheit meist gefehlt. Wenn ich in der Opposition oder in der Minderheit bin, ist es naheliegend, laut „Freiheit“ zu rufen. Aber wie stünde es um die Freiheit der anderen, wenn ich an der Macht wäre? Vielleicht könnten wir im Umkehrschluss zur Eingangsthese formulieren: Je bescheidener die Freiheit artikuliert wird, desto mehr steckt in Wahrheit oft dahinter. Ein bisschen pauschal bleibt die Philosophie der Freiheit eben immer 🙂
PS. Wie steht es um die Freiheit von Minderheiten, vor allem, wenn man selbst dazu gehört? Dieser Frage bin ich mit Blick auf den faktischen Corona-Impfzwang aus Sicht eines Ungeimpften nachgegangen. Das Ergebnis können Sie auf Rubikon lesen.