Dass Körper und Seele zusammenhängen, davon sind wir zwar alle mehr oder weniger überzeugt, haben jedoch oft nur vage Vorstellungen. Und wenn es uns selbst betrifft, tun wir uns meist schwer, den Zusammenhang wahrzunehmen oder anzuerkennen. Wie oft habe das schon gehört: „Ach, Herr Wagner, das weiß ich doch alles. Aber bei mir ist es anders!“ Wie oft in meinem Leben habe ich selbst so gedacht. Und im Nachhinein erscheint alles ganz (psycho)logisch …
Vor mehr als 30 Jahren, während meines Zeitungsvolontariats, litt ich fast (werk-)täglich an Durchfall und Juckreiz. Ich unternahm eine ganze Menge, ging zum Arzt, zum Heilpraktiker, zum Zahnarzt (ließ für viel Geld mein Gebiss vom Amalgam befreien), ich lernte eine Menge, vor allem, mich noch mehr für Ganzheitsmedizin zu interessieren. Als ich nach zwei Jahren die Arbeit wechselte, verschwanden die Symptom fast schlagartig bzw. reduzierten sich auf ein Maß, dass ich mich von der Not befreit fühlte. Im Nachhinein war mir schon klar, dass ich mir vor Angst (bzw. Stress, also Prüfungsangst) „in die Hosen gemacht“ hatte – und dass ich mich bei der Zeitung sehr oft extrem unwohl „in meiner Haut“ gefühlt hatte.
Das Gute am (vergangenen) Schlechten war, dass ich nun selbst Heilpraktiker werden wollte. Als solcher lernte ich dann ab und zu Menschen kennen, die von mir Hilfe erwarteten, die ich nicht geben konnte oder wollte: Mir schien es so klar, dass weder ein Kräutertee (nichts gegen Kräutertees, sie werden oft unterschätzt!) noch ein homöopathisches Mittel noch eine chiropraktische Manipulation ihnen nachhaltig helfen konnten, weil so viel Psyche im Spiel war. Daher meldete ich mich irgendwann zu einer Fortbildung „Gesprächstherapie für HP“ an – in dem Bewusstsein, etwas für den Umgang mit diesen „schwierigen“ Patient*innen zu lernen. (Wie sehr ich mich dabei auch selbst besser verstehen lernen wollte, war mir noch nicht bewusst.)
Einmal begriffen, immer kapiert? Nö! Zu Beginn meiner 40er Jahre litt ich unter chronischer Bronchitis. Wieder wanderte ich durch Arzt- und HP-Praxen. Ich lernte vieles über Medizin und Selbsthilfemethoden, nur der Husten verschwand nicht. Mein Pulmonologe, nicht nur Lungenfacharzt, sondern auch versierter Naturheilkundler, eröffnete mir irgendwann, dass ich wohl mit der Symptomatik leben müsste; schließlich gab es ja auch „objektive“ (!) Befunde wie Vernarbungen im meinem Lungengewebe von früheren Lungenentzündungen sowie Bronchiektasen (Ausstülpungen), in denen sich der Schleim ansammelt, das konnte man auf den Bildern sehen.
Nun bin ich schon mehr als 15 Jahre in punkto Bronchitis symptomfrei und weiß immer noch nicht, wie sie eigentlich verschwand, da ich so viel Verschiedenes gemacht hatte (z.B. grässlich schmeckende chinesische Tees trinken, typgerechte Atemgymnastik, Wärmebehandlungen). Vielleicht weil sich meine psychische Konstellation änderte? Das Gute am Schlechten war jedenfalls, dass ich damals auch mit der eigenen Psychotherapie begonnen hatte.
Oft handelt es sich um eine „Ausschlussdiagnose“, wenn Ärzte von „psychisch (mit)bedingt“ sprechen: Es wurde schon alles Mögliche untersucht und vielleicht sogar versuchsweise therapeutisch unternommen. Und wenn nichts gefunden wird und nichts hilft, lohnt sich, einmal ernsthaft der Annahme nachzugehen, dass maßgeblich psychische Faktoren sind. Das schließt nicht aus, dass später doch noch körperliche Faktoren entdeckt werden.
„Verdächtige“ Hinweise auf psychosomatische Zusammenhänge sind u.a., wenn die Symptomatik im Urlaub auf einmal verschwindet oder wenn sie „wandert“: War es vor zwei Monaten noch der Schwindel, steht nun, nachdem diesbezüglich einige Untersuchungen ohne Befund endeten, der Reizdarm im Vordergrund.
Wir können uns nie ganz sicher sein, ob die Beschwerden – Tinnitus, Schwindel, Sodbrennen, Schluckbeschwerden, wiederkehrende Infekte, Husten, Herzrhythmusstörungen, Reizmagen oder Reizdarm, Migräne, chronische Schmerzen und viele mehr – einen psychosomatischen Grund haben. Oft sind körperliche Faktoren beteiligt, siehe meine im Lungengewebe wartende Veranlagung zur Bronchitis; oder bei Menschen mit chronischen Schmerzen finden sich Befunde aus der bildgebenden Diagnostik: etwas, das „objektiv“ nicht in Ordnung oder normal ist.
Doch für die Zeit der Psychotherapie, insbesondere wenn diese stationär stattfindet, sollten sich Betroffene zu möglichst 100% auf die Arbeitshypothese einlassen, dass es um psychische Faktoren geht. Solange Sie noch gegenteiligen Hypothesen anhängen … „Ich bin nicht psychisch krank, wenn nur der richtige Arzt für meine körperlichen Symptome die richtige Diagnose findet und das richtige Medikament verordnet …“ … oder „Ich bin nicht psychisch krank, ich habe nur wahnsinnige chronische Schmerzen (Verdauungsbeschwerden, Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck, Schlafstörungen usw.); wenn diese verschwinden würden, ginge es mir psychisch ausgezeichnet“ …, solange können Sie nicht wirklich von Psychotherapie profitieren, denn diese setzt Krankheits- und Therapieeinsicht voraus.
Es ist „nur“ eine Arbeitshypothese, aber sie könnte notwendig sein: die Not wenden. Etwas poetischer formuliert lautet sie: „Geh Du voran, sagt die Seele zum Körper, auf mich hört er (sie) nicht.“ Tatsächlich bedeutet die psychosomatische Arbeitshypothese, dass wir die somatisch (körperlich) fixierte Logik vom Kopf auf die Füße stellen: „Ihre chronischen Schmerzen (oder anderes wie Schlafstörungen etc. s.o.) sind nicht die Ursache für Ihr schlechtes seelisches Befinden, sondern umgekehrt, Ihre psychischen Probleme, die Sie verdrängt haben und noch verdrängen, liegen der körperlichen Störung zugrunde.“ Das nennt man somatoforme Störung.
„Ich weiß das alles, aber bei mir ist es anders.“ Dass Patient*innen sich selbst als die Ausnahme von der Statistik verstehen wollen, ist nicht exklusiv für den Bereich der Psychosomatik, kommt da aber besonders häufig vor. Und sie können noch so schlau sein oder sogar Ärzte und selbst Psychotherapeuten, bei sich selbst erkennen sie nicht, dass es psychosomatische Zusammenhänge sind.
So ähnlich wie Verliebtsein aus schlauen Menschen zeitweilig Volltrottel machen kann, weil sie gegen die Macht ihrer Projektionen nicht ankommen. By the way, dass der Kröper immer „mit dabei“ ist, kann sich ja auch psychosomatisch positiv auswirken oder bemerkbar machen: Wenn Liebe uns Herz höherschlagen lässt. Wenn wir in Vorfreude unsere ganze Kraft spüren. Wenn wir in Dankbarkeit ganz entspannt werden.
Der Volksmund hält eine Fülle an mehr oder weniger geflügelten Worten bereit, die psychosomatische Zusammenhänge reflektieren. So etwa, dass etwas „auf den Magen schlägt“. Tatsächlich ist das „Bauchweh“ bei vielen Menschen die biografisch erste psychosomatische Beschwerde – und wie damit umgegangen wurde, kann im späteren Leben relevant werden, z.B. wenn das Kind mit Bauchweh immer zu Hause bleiben durfte, statt in den Kindergarten zu gehen. Eine andere psychosomatische Lernerfahrung besteht darin, wenn das Kind lernt, dass Mami (nur) mit Kopfschmerz oder Migräne die notwendige Rücksicht des Umfeldes erfährt.
Es ist ein heikles Thema, sollte aber aus systemischer Sicht nicht ausgespart werden: Oft gibt (oder gab) es einen „Nutzen“, den das Symptom hat(te) – z.B. die Rücksichtnahme durch andere, bis hin zur Aussicht auf Frühberentung. (D.h. nicht, dass die Betroffenen simulieren …) Manchmal besteht der Nutzen schlicht darin, dass die Betroffenen an den körperlichen Beschwerden etwas intensiv betrauern können, was ihnen bei den zugrundeliegenden psychischen Faktoren nicht möglich ist.
Die Ratgeberliteratur, die bestimmte körperliche Symptome seelischen Ursachen schematisch zuordnet („Krankheit als Sprache der Seele“), hilft nur begrenzt weiter. Ganz verkehrt ist das zwar nicht, was darin zu lesen ist. Oft sind die Zusammenhänge allerdings komplexer. Und nochmals, bei sich selbst können Betroffene am wenigsten klarsehen – wenn die theoretische Einsicht allein helfen würde, hätte es sich schon herumgesprochen. Was hilft denn dann?
Einer der größten Fehler in der Psychotherapie besteht darin, die Messlatte zu hoch zu legen. In punkto Klinikaufenthalt lautet die beste Devise diesbezüglich: „Niemand wir hier geheilt entlassen.“ Das ist vielleicht für manche(n) ein Schock, aber letztlich heilungsfördernd. Außerdem finde ich die systemische Sicht, dass die Symptome kein Problem, sondern eine Lösung darstellen, oft hilfreich – wir wollen nicht die Symptome wegmachen, sondern für die zugrundeliegende Probleme bessere Lösungen finden als etwa Depressionen, Verdauungsbeschwerden und chronische Schmerzen. Dann können diese deutlich besser werden. Das verschwinden der Symptome bedeutet ähnlich wie das Verschwinden von Depressionen nicht automatisch, dass das Leben besser ist.
Wenn sich Depressionen reduzieren, steigen oft Ängste, wenn chronische körperliche Schmerzen nachlassen, kommen manchmal seelische Schmerzen mehr ins Bewusstsein. Es können vermehrt Konflikte im Innern und im Äußern auftreten. Schließlich gab und gibt es gewichtige Gründe, warum die innere Weisheit die seelischen Konflikte in körperliche Symptome umgewandelt und verschlüsselt hat. Manche Patient*innen halten an den körperlichen Symptomen fest (nicht bewusst!), weil es der stärkste, ängstliche Anteil in ihnen nicht glauben kann: dass es auch anders geht.