Wer eine Religion hat, braucht keine Spiritualität, und wird sich vielleicht fragen: „Was ist das überhaupt, Spiritualität – vielleicht ein politisch korrekter Überbegriff über Religionen und religiöse Haltungen?“ Eine gute Freundin hat einmal gesagt: „Spiritualität ist die Suche nach dem, was religiöse Menschen gefunden haben oder glauben gefunden zu haben.“ Ob das so stimmt, können Sie entscheiden, immerhin taucht da das Wörtchen „glauben“ noch auf. Und es sind auch viele religiöse Menschen ein Leben lang auf der Suche.
Für mich ist Spiritualität in erster Linie ein Reich schöner Ideen, an die ich gerne glauben möchte. Ich könnte sagen, ein Reich(tum), in den ich mich zeitweilig gerne hineinfallen lasse. Zu diesen Ideen zählt für mich, dass wir alle göttliche Wesen sind – nicht Gott ist ein Wunder, sondern der Mensch ist das Wunder schlechthin. Das ist ein bisschen frei nach Thich Nhat Hanh formuliert, der für die alltägliche Neu-Entdeckung der Achtsamkeit u.a. mit den Worten plädiert: „Nicht dass jemand übers Wasser geht, ist ein Wunder, sondern dass wir über die Erde gehen!“
Wir sind willkommen auf der Erde. Jede(r) ist willkommen. Mit unserem göttlichen Kern ist immer alles in Ordnung und wird immer alles in Ordnung sein, egal was uns zugestoßen ist und zustoßen wird, egal was wir andern angetan haben oder antun werden. John Bradshaw, Theologe und Therapeut, hat in „Das Kind in uns“ gezeigt, dass Kindern eine solche, natürliche Spiritualität angeboren ist und erst durch Missbrauch bzw. Vernachlässigung verloren geht.
Wenn wir auf diese spirituelle Idee oder „Wahrheit“ zugreifen können, etwa im Rahmen einer Meditation, während einer echten Begegnung mit einem anderen Lebewesen oder auch als therapeutische Übung, wird sich das als Heil oder Heilung auswirken. Das ist eine himmlische Perspektive und eine wunderbare (!) Ergänzung zur Perspektive der Therapie, wo es doch meist und viel um das geht, was schiefgelaufen ist, was sich schwierig oder unerträglich anfühlt, was Versöhnung braucht usw., selbst wenn die Psychotherapie noch so sehr ressourcenorientiert und positiv sein möchte.
Der Versuch – oder die Suche – ist es wert: Spiritualität hat mit dem Vortasten auf neues Terrain zu tun, mit dem Überschreiten persönlicher Grenzen. Und das ist eben oft ein Ausprobieren, ein „so tun als ob“, dies meine ich allerdings ganz anders, als es von vielen spontan verstanden wird, die im „als ob“ eher eine Fassade sehen. Gerade nicht. Es geht um das bewusste Ausprobieren einer Haltung, etwa die: dass wir einmal so Gehen, als würden unsere Füße bei jedem Schritt die Erde küssen. Auch diese Idee stammt von Thich Nhat Hanh. Und so paradox es an dieser Stelle erscheinen mag, noch etwas von ihm: „Du bist bereits das, was Du werden willst.“ Wenn man dies spirituell versteht, kann es eine sehr tröstliche und auch haltgebende Haltung für schwierige Zeiten begründen.
Das klingt vielleicht ein bisschen so, als würde der Wert der Spiritualität von ihrem Nutzen her bestimmt, wobei doch für viele klar zu sein scheint, dass gerade Spiritualität keinem Zweck untergeordnet ist oder sein darf – als das Übergeordnete schlechthin. Nun, Spiritualität steckt eben voller Paradoxien. Vielleicht kennen Sie das aus der Meditation oder dem Philosophieren: Das Eine stimmt und das scheinbare Gegenteil stimmt ebenso. Auch, weil Sprache relativ begrenzt ist in ihren Möglichkeiten, das „Andere“ oder das Ganze zu fassen.
Ich erlebe die Wirklichkeit der Idee eines göttlichen Kerns z.B. auch in Formeln wie „Namaste“, im Segen, den wir anderen Menschen geben oder von ihnen empfangen. Solche Haltung und Begegnung ist durchaus auch möglich, wenn man sich nicht sympathisch findet oder sogar im Streit miteinander liegt. Und ich erlebe die göttliche Verbindung zwischen göttlichen Wesen häufig im gemeinsamen Singen von spirituellen oder heilsamen Liedern aus aller Welt. Ich kann manches singen, was ich (noch) nicht sagen würde.
Apropos Unsagbares: Spiritualität erscheint bisweilen als die höchste Form des Bewusstseins, doch die Anbindung an etwas „Größeres“ hat nicht primär mit Denken zu tun, eher damit, dass die Grenzen des Denkens erreicht werden, wenn wir z.B. in der Natur oder in einer Gemeinschaft eine unfassbare Verbundenheit erleben. Natur und Gemeinschaft mit anderen sind häufig die stärksten Quellen spirituellen Erlebens. Ich glaube, dass man solche Erfahrung erleichtern kann, indem man sich in der angedeuteten Haltung der „universellen Liebe“ übt (das wäre so ein Ausdruck, den ich lieber singen würde …): in allen Lebewesen den göttlichen Kern wahrzunehmen.
„Spiritualität bedeutet“, so schreibt es Brené Brown, „anzuerkennen und zu feiern, dass wir alle durch eine Macht, die größer ist als wir selbst, untrennbar miteinander verbunden sind, und dass sich unsere Verbindung zu dieser Macht und zueinander auf Liebe und Mitgefühl gründet.“
(Brené Brown: Die Gaben der Unvollkommenheit. Las los, was Du glaubst, sein zu müssen und umarme, was Du bist, jkamphausen, Bielefeld 2015 – in diesem Buch geht es nur am Rande um Spiritualität, eigentlich sind die Themen Scham, Selbstliebe, Perfektionismus, aber wenn ich es anders bedenke: vielleicht doch nicht nur am Rande auch Spiritualität.)
Hinweis: Einen eher theoretischen Text über das Reich der Spiritualität und wieviel Wirklichkeit ihm zukommt, finden Sie unter dem Stichwort Erkenntnistheorie.