S wie Suizid

„Zum ersten Mal in den letzten Monaten machte ich mir etwas klar: Ich hatte mich nicht umbringen wollen, weil ich das Leben hasste, sondern weil ich das Leben liebte. Ich glaube, in Wahrheit empfinden viele Menschen, die an Selbstmord denken, das genauso. Sie lieben das Leben, aber ihres ist total im Arsch. Deswegen haben wir ob auf dem Dach gestanden, weil wir keinen Weg zurück ins Leben fanden, und so vom Leben ausgeschlossen zu sein …“ Nick Hornby: A Long Way Down, 2005. (Roman über vier Lebensmüde, die sich an Silvester zufällig in der gleichen Absicht auf dem Dach eines Hochhauses treffen und, anders als geplant, nicht springen, sondern sich ihre Geschichten erzählen.)

Das Wort „Freitod“ klingt irgendwie nach einem Akt der Selbstbestimmung, selbst wenn er selten wirklich frei erscheint. Ist „Selbstmord“ (so die wörtliche Übersetzung des Fremdworts: Suizid) die bessere Wortwahl? Wohl kaum: Auch wenn das vorsätzliche Töten mit Aggression und heftigen „Kollateralschäden“ u.a. für die Angehörigen einhergehen mag, geschieht es doch nicht aus niederen Beweggründen; und eine moralische Verurteilung wird der Verzweiflung oder Verstörung des „Täters“ nicht gerecht. Mit „Suizid“ assoziieren wir in der Regel, dass die Entscheidungsfähigkeit des Betreffenden stark eingeschränkt ist, z.B. durch Depressionen, die laut Fachliteratur immerhin bei 90% der Selbsttötungen eine Rolle spielen.

Bei dem, was ich unter Freitod verstehe, geht es um ein selbstbestimmtes und – unter den gegebenen Bedingungen der Fremdbestimmung (z.B. unheilbare Krankheit, Siechtum) – möglichst menschenwürdiges Lebensende, aus der Sicht des Betroffenen; um eine nachvollziehbare Entscheidung bei klarem Bewusstsein. Ich bin dafür, dies nicht nur zu erlauben, sondern auch die private oder professionelle Beihilfe zu ermöglichen, ohne dass der Staat verhindernd eingreift und die Mitmenschen es verurteilen.

Wenn man sich auf die Unterscheidung von Freitod und Selbstmord einlässt, kann man vielleicht sagen: Einen Freitod darf man nicht verhindern, einen Selbstmord muss man verhindern! Wer aber kann und will im Einzelnen entscheiden, ob es sich um einen Freitod handelt oder um eine Selbsttötung, d.h. aus Gründen, die wir nicht teilen, weshalb wir den Suizid umso mehr verhindern woll(t)en? Es hätte doch immer noch eine Lösung gegeben – aus Sicht der Außenstehenden. Wahrscheinlich sogar aus Sicht des Lebensmüden.

„Es stand noch etwas anderes in dem Artikel: ein Interview mit einem Mann, der einen Sprung von der Golden Gate Bridge in San Francisco überlebt hatte. Er sagte, in den zwei Sekunden, nachdem er gesprungen war, sei ihm klar geworden, dass es nichts im Leben gab, womit er nicht zurechtkommen, kein Problem, das er nicht lösen konnte – außer dem, dass er sich gerade geschaffen hatte, indem er von der Brücke sprang.“ (Nick Hornby: A Long Way Down)

Am schlimmsten werden oft Suizide von Jugendlichen empfunden, vordergründig weil sie besonders „widersinnig“ wirken: Da lag doch noch so viel Leben vor ihm oder ihr – das wirft man doch nicht wegen Stress mit den Eltern, Leistungsdruck oder Liebeskummer weg! Außerdem werden manchmal noch biologische Faktoren (Hormonschwankungen, Pubertät) angeführt, die die mangelnde Entscheidungskompetenz der Betreffenden unterstreichen sollen. Vielleicht finden wir jugendliche Selbsttötungen auch besonders schrecklich, weil sich Menschen im Umfeld intensiver Gedanken über Schuld machen, oder wie man das alles hätte verhindern können.

Von Schuld zu reden ist in diesem Kontext fragwürdig, weil meist niemand absichtlich etwas Böses getan hat. Therapeutisch halte ich es sowieso meist für unproduktiv, über Schuld zu philosophieren. Schuldgefühle sind oft Schutzgefühle, die uns vor den noch schmerzhafteren Emotionen wie Angst, Wut, Trauer abhalten. Dennoch bleibt dieser Stachel des Konjunktiv „Irrealis“: Was hätte nicht alles anders laufen können.

Kann man es verhindern? Im Einzelfall nicht immer, in der Summe schon viel öfter, wie die Geschichte zeigt: Vermehrte Therapie- und Präventionsangebote haben nach 1980 die Suizidrate deutlich sinken lassen. Wie kann man es verhindern? Eines lässt sich raten: Reden Sie darüber, wenn Sie in Sorge sind! Selbstverständlich gilt dies auch und erst recht für jene, die suizidale Impulse verspüren: Versuchen Sie nicht, alles mit sich selbst zu regeln, nehmen Sie Hilfe in Anspruch, sprechen Sie sich aus (z.B. auch bei Krisentelefon oder Telefonseelsorge)!

Zu dem, was oft grundsätzlich schief läuft im Vorfeld, gehört das Ignorieren und Beschweigen des Themas – oder wenn darüber gesprochen wird, dann zu unverbindlich. Besser ist es, sich sozusagen in die Hand und unter Zeugen versprechen zu lassen, dass er oder sie sich, zumindest vorerst, nichts antut. Der verbindlich versprochene zeitliche Aufschub, das ist es, was die Chance auf Neubewertung der Lebensperspektiven ermöglicht (z.B. unter intensiver Therapie).

Sicher, diejenigen, die bereits fest entschlossen sind, belügen uns. Aber manchmal sind die Betroffenen doch nicht so fest entschlossen, wie Sie selbst glauben, siehe Nick Hornby (Zitate). Doch selbst die fest Entschlossenen senden manchmal unbewusst Warnsignale: Wenn schwer depressive Menschen plötzlich guter Dinge sind, Gelassenheit und Ruhe oder sogar Euphorie ausstrahlen, ist das nicht unbedingt ein Zeichen von Wunderheilung. Vielleicht sollten wir doch lieber einmal zu viel als zu wenig Verdacht schöpfen, wenn ein Mensch, dem es unserem Ermessen nach aktuell sehr schlecht geht (trägt er z.B. das volle Paket von: Arbeit verloren, Frau gestorben, erdrückende Schuldenlast, Kontakt zum Kind abgebrochen), sehr gelassen bis heiter wirkt.

Es gibt viele Motive für Suizid vom Hilferuf über Rache bis hin zur Selbstwertrettung nach schwerer narzisstischer Kränkung (z.B. wenn große Künstler drastisch abgestiegen sind, einen dramatischen Entzug an Anerkennung verspüren – und dann vielleicht noch Drogen dazu kommen). Im Rahmen der Motivforschung ist interessant, dass 75% der „erfolgreichen“ Suizide von Männern begangen werden; mit Sicherheit auch, weil Männer bei Depressionen und Angststörungen deutlich seltener ärztliche Hilfe aufsuchen bzw. ihre psychischen Erkrankungen gar nicht als solche wahrnehmen.

Manchmal wird vom Bilanzsuizid gesprochen, und im Grunde beruht jeder Suizid auf einer Lebensbilanz. Nur dass der Buchhalter in dem Falle vielleicht die Bilanz verzerrt, weil er schwer depressiv ist, d.h. es geht darum, ihm zu helfen, die Bilanz anders aufzustellen oder anzusehen. Dazu braucht es zunächst einen zeitlichen Aufschub, denn nur weil wir sein Leben lebenswert finden, also eine andere Bilanz ermitteln, wird er seine Meinung nicht ändern.

Das ist der springende Punkt: Der Lebenswille kann über kurz oder lang nur vom Betroffenen selbst kommen – daher lasse ich mich als Therapeut und auch als Angehöriger oder Freund von suizidalen Gedanken des Klienten nicht zur Gegenwehr provozieren oder „erpressen“. Empathie gewiss, denn niemand denkt sich solche Andeutungen oder Ankündigungen just for fun aus. Suizidale Vorhaben sind nie banal. Doch je mehr ich ihn (sie) zum Lebenswillen überzeugen will, desto mehr wird er „ja, aber“ sagen, in der Haltung „bei mir ist alles zu spät“ verharren und vielleicht gar nicht merken, wie viel Lebenswillen trotz allem in ihm steckt, dazu nochmals der Romancier Nick Hornby:

„Ich weiß auch nicht, was durch diesen plötzlichen Geistesblitz anders wurde. Es war auch jetzt nicht so, dass ich das Leben leidenschaftlich umarmen wollte … In gewisser Hinsicht machte es sogar alles schwieriger, nicht einfacher. Wenn man einmal aufhört sich vorzumachen, es wäre alles Scheiße und man könnte es kaum abwarten, es hinter sich zu bringen … tut es eher noch mehr als weniger weh. Sich einzureden, das Leben wäre Scheiße, ist wie ein Schmerzmittel, und wenn man sein Advil (Ibuprofen) dann absetzt, spürt man es richtig, was und wo es wehtut, und solche Schmerzen tut sich niemand freiwillig an.“ (Nick Hornby, A Long Way Down)

Aussichtsreicher als „Argumente“ fürs Leben anzuführen ist es, an der Angst vor dem Leben zu arbeiten, die konkret bestehende soziale Isolation (häufig ein Warnhinweis) aufzuheben und Unterstützung anzubieten bzw. professionelle Hilfe einzubeziehen. Dabei muss uns bewusst sein, dass wir als Helfer unrealistische Erwartungen wecken können – vor allem, wenn wir uns doch durch Suizidalität in die Retterrolle drängen lassen. Es braucht Realitätssinn auf beiden Seiten: Auf die, die sich anders entscheiden und einen Rückzieher vom Ausstieg machen, wartet in der Regel nicht das pralle Leben mit einem Füllhorn voll Glücksmomenten und Leichtigkeit. Die schwarze Brille wird nicht durch eine rosarote ersetzt. Der bewusst gewordene Lebenswille beruht vielmehr oft auf einer unerwarteten Erkenntnis: „Ich sage ja, trotz alledem“. Dies ist häufig mit viel Schmerz, Trauer und Angst verbunden – und wenn es so ist, kann dies manchmal auch beruhigend sein.

PS. (1) Die Welt wird nicht trübseliger – und wir müssen es auch nicht werden -, nur weil wir über schwierige und traurige Themen reden oder schreiben. Im Gegenteil: Gerade die Tabus binden Energie und lassen uns depressiv werden. Dennoch verspreche ich, bald auch wieder über (scheinbar) leichtere Themen zu schreiben.

PS. (2) Antidepressiva können, vor allem in der Anfangsphase der Einnahme, durch ihre leicht enthemmende Wirkung die Bereitschaft zum Suizid bzw. auch die Wahrscheinlichkeit, den Versuch in die Tat umzusetzen, erhöhen. Das spricht nicht per se gegen die Medikamente, muss aber beachtet werden.