„Es ist wichtiger, Zeit damit zu verbringen, Freude und Liebe zu erleben, als nur darüber zu reden.“ (Dan Casriel)
Wie viele Umarmungen haben Sie heute schon bekommen (und dabei auch gegeben)? Und gestern? Oder vorgestern? Welche davon tat besonders gut? Welche war vielleicht … ein bisschen „komisch“? „Wir brauchen vier Umarmungen pro Tag zum Überleben, acht Umarmungen pro Tag, um uns gut zu fühlen, und zwölf Umarmungen pro Tag zum innerlichen Wachsen.“ Diese Formel stammt von Virginia Satir (1916-1988); vielleicht kein Zufall, dass es sich um eine Pionierin der Familientherapie handelt: Das Umarmen lernen wir ja in der Regel in der Familie, oder eben nicht.
Mich hat einmal eine Frau, es war nicht meine, um eine Umarmung gebeten. Gesagt getan. Sie schüttelte den Kopf und sagte: „Nein, ich will eine richtige. Ich bin doch kein Sportkamerad von Dir.“ Okay, das habe ich eingesehen: Sie wollte mehr als Schulterklopfen oder mechanisches Rückenstreicheln. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich das auch wollte und einen zweiten Versuch unternahm, aber mir ist damals einiges klar geworden.
Es gibt viele Arten von Umarmung, nicht die eine einzig richtige. Umarmung ist nicht per se mit „besonders innig“ oder gar „intim“ gleichzusetzen. Manchmal dient eine Umarmung gerade dazu, die Innigkeit oder Intimität in einer Begegnung zu vermeiden: Bevor wir uns in der Intimdistanz z.B. Auge in Auge wirklich sehen und gesehen werden, schlingen wir lieber schnell, oft zu schnell die Arme um jemand. Und dann wieder loslassen, bisweilen ist es fast ein Wegschubsen.
Sicher können wir sogar mit wildfremden Menschen wohltuende Umarmungen austauschen, bei denen ebenfalls Oxytocin und andere Wohlfühlhormone entstehen. Darauf beruht der „Effekt“ von Kuschelpartys oder öffentlichen Umarmungsangeboten, wie sie vor der Coronazeit manchmal in Fußgängerzonen zu bestaunen waren; selbst auf Umarmungen am Rande von Fußballspielen trifft dies teilweise zu.
Entscheidend ist, dass beide es wollen: Der Wert und Nutzen einer Umarmung hängt wesentlich davon ab, ob wir sie wirklich freiwillig eingehen. Sonst kann es sich sogar schädlich auswirken und die familiär erlernte oder traumatisch bedingte Angst vor Berührung verstärken. Da gilt der therapeutische Imperativ: „Sag nicht ja, wenn Du nein sagen willst!“ Oft geht es allerdings so schnell, dass wir uns überrumpeln lassen und – gelernt ist gelernt – um des lieben Friedens willen mitmachen.
Therapie beinhaltet wesentlich, die Selbstfürsorge zu verbessern, sich klar zu werden über die eigenen Wünsche und Bedürfnisse und diese zu vertreten, auch spontan; das will (neu) gelernt sein! Es beinhaltet eine eindeutige Körpersprache, nicht mit dem Mund „Nein“ sagen und mit dem Körper „Okay“ oder „Na gut“ signalisieren. Therapie oder allgemeiner Selbstentwicklung hat notwendig mit ständigen Grenzüberschreitungen zu tun: Ich lerne meine Grenzen neu kennen, überschreite sie und lasse sie überschreiten, aber mit einem neuen Selbstbewusstsein für das, was ich will und zulasse und was nicht. Und in der gleichen Achtsamkeit übe ich, die Grenzen anderer zu überschreiten.
Es geht also nicht nur um Abwehr von unerwünschten Eintritten in meinen Intimraum, sondern auch um explizite Einladung dazu. Selbstfürsorge heißt dann: nicht nur darauf warten, dass das Schöne und Notwendige irgendwie und irgendwann passiert, also darauf hoffen, dass mein Gegenüber oder wer auch immer vielleicht doch hellsichtig ist und errät was ich brauche. Also: „Sag nicht ‚Passd scho‘, wenn du in Wahrheit etwas brauchst, wünschst oder willst!“ Verbesserte Selbstfürsorge beinhaltet, mehr und mehr, meist kleinere soziale Risiken einzugehen, die aber riesig erscheinen können, wenn der Selbstwert reduziert ist: nämlich andere zu enttäuschen oder von anderen enttäuscht zu werden. Oder in der Sprache der Liebe: einen Korb geben, einen Korb bekommen. Zur Risikobereitschaft gehört: „Kann ich eine Umarmung bekommen?“ Oder einfach: „Kannst Du mich mal in den Arm nehmen?“
Manchmal kommen Patientinnen in die Sprechstunde und sagen betrübt über eine Kollegin: „Heute hat sie mich nicht umarmt.“ – „Macht sie das sonst immer?“ – „Nein, aber letzte Woche hat sie mich zum Abschied umarmt.“ – „Und das hat Ihnen gut getan?“ – „Hm“ (Nickt, weint vielleicht.) – „Wie wär’s, wenn Sie sie beim nächsten Mal ausdrücklich danach fragen?“ Selbstverständlich frage ich in dem Zusammenhang auch, wie es mit Umarmungen mit Mitmenschen bzw. in der Klinik mit Mitpatientinnen aussieht. Häufig sind es Patientinnen, die sich zwar widerstandslos von solchen Menschen umarmen lassen, die dies mehr oder weniger ungefragt praktizieren (mit der Überrumpelungsmethode, die, weil liebgemeint, man nicht abwehren zu dürfen glaubt) – aber eben nicht jene Mitpatienten nach einer Umarmung fragen, von der sie diese besonders gerne bekommen würden.
Ist körperliche Nähe in der Therapie tabu? In vielen Therapieschulen ist innige Berührung zwischen Therapeut*in und Patient*in ausgeschlossen, wofür es plausible Gründe oder Argumente gibt. Wenn allerdings auch körperliche Nähe der Patienten untereinander unberücksichtigt oder gar ausgeschlossen bliebe (wie zu Coronazeiten), wäre es bedenklich. Es gibt ein elementares Bedürfnis nach körperlicher Nähe, siehe Virginia Satir, und die meisten unserer Patientinnen und Patienten haben Schwierigkeiten, damit umzugehen. Wo und wann, wenn nicht im geschützten Raum und Zeit der Therapie sollten sie ergänzende und korrigierende Erfahrungen machen können?
Viele Patienten haben zu Beginn der Therapie keine Ahnung, wozu der Körper in die Therapie einbezogen werden müsste. Durch Körper-, Rhythmus- und Tanztherapie ändert sich das glücklicherweise schnell. Doch auch gegen Ende eines Klinikaufenthalts meinen manche von ihnen, der Körper sei im Beziehungs- und Kommunikationsverhalten hauptsächlich dazu da, „aufstampfen“ zu können, Grenzen zu markieren und Übergriffe abzuwehren. Auf diesem Feld des, nennen wir es einmal pointiert, „therapeutischen Karate“ haben sie einiges gelernt, und das ist gut so, aber doch oft recht wenig in Bezug darauf, körperliche Nähe und damit verbunden emotionale Nähe, ganzheitlichen Halt und körperseelisches Wohlbehagen aktiv mit anderen herzustellen.
Als Therapeut kann ich durchaus – und bei einem Teil der Klienten drängt es sich auf – mit Patienten das Umarmen üben, untereinander oder mit mir. Üben heißt: achtsame und kleinschrittige Erkundung dessen, was der/die Patient*in braucht und wie es ihm/ihr bei den neuen Erfahrungen geht. Es geht nicht darum, dass sich möglichst viele möglichst schnell in den Armen liegen. Etwas Neues ausprobieren entlang der Linie von Ängsten und Sehnsüchten, und wenn es gut tut, dazu ermutigen.
(Exkurs zu möglichen Einschränkungen: Ich sollte als Therapeut auf Dauer keinesfalls der einzige bleiben, mit dem der Patient Umarmung praktiziert, das würde nachhaltig Regression statt Erwachsenwerden fördern. Außerdem darf die Umarmung nicht zur Ersatzhandlung oder zu einer Bedingung für therapeutisches Arbeiten werden, so als könnte im therapeutischen Verhältnis nur dann alles okay sein, wenn ich ihn oder sie umarme. Und schließlich muss ich im Hinterkopf immer auch haben, das Patient*innen, wenn sie „brav“ sein wollen, manchmal etwas (mit)machen, was sie eigentlich gar nicht wollen oder brauchen oder noch nicht können.)
Die Unfähigkeit, körperliche Nähe herzustellen, kann sich von beiden Seiten wie eine Mauer anfühlen, viele Patienten haben große Angst vor kleinsten Berührungen und doch zu einem großen Teil auch Sehnsucht danach. Beim Üben können schmerzhafte alte Erfahrungen auftauchen oder emotionale Barrieren fallen – ein aus der Bonding-Therapie bekanntes Phänomen, dort durchaus erwünscht, aber an Voraussetzungen gebunden (v.a. die prinzipielle Fähigkeit zur Selbststeuerung). Körperliche Verbundenheit ist zweifellos eine besondere Herausforderung für die Therapie. Aber, bei aller gebotenen Vorsicht, darf uns das nicht abschrecken. Oder sollten wir diesen Patientinnen und Patienten die impliziten negativen Botschaften bestätigen, an die viele von ihnen glauben? „Körperliche Nähe: Bloß nichts riskieren!“ Ich meine, wir würden sie damit im Stich lassen.