U wie UND

Falls Sie länger Therapie machen, haben Sie es vielleicht schon erlebt, dass Ihre Therapeutin ab und zu ein ABER von Ihnen in ein UND verbessert. Wie wir reden, das ist schon relevant für den therapeutischen Prozess, auch wenn Therapeut*innen es diesbezüglich manchmal übertreiben. Mich irritiert es, wenn Patient*innen selbst diesen Neu-Sprech perfekt hinbekommen und z.B. sagen, „Ich darf da noch lernen …“, wo sie drei Wochen vorher noch „muss“ gesagt hätten. (Ich würde dem Patienten eher anbieten, das „müssen“ häufiger versuchsweise durch „wollen“ zu ersetzen.) Mit dem „therapeutischen“ UND statt ABER kann ich dennoch eine Menge anfangen.

Um den Sinn dieses speziellen UND zu verstehen, müssen wir zunächst einmal genau darauf achten, wann Patienten ABER sagen. Oft geschieht es nach alltäglichen Mustern (auch die können bedenklich sein), manchmal steckt noch mehr dahinter. Eine typische Konstellation: Der Patient entdeckt gerade vor „Zeugen“, d.h. im Beisein des Therapeuten oder der Therapiegruppe, eine Ressource oder Stärke von sich. Je nach Stadium der Therapie kann er das kaum ertragen, muss es sofort relativieren, banalisieren oder anderweitig entwerten. Dann kommt ein „aber“.

In der systemischen Therapie kennen wir den „Typ“ des „ja-aber-Patienten“, der auch „der Klagende“ genannt wird. Genaugenommen befinden sich alle Patientinnen manchmal in solchen Phasen, doch beim „ja-aber-Patienten“ zieht es sich wie ein roter Faden durch die Therapie: „Ja, das war eine ganz nette Übung, Herr Wagner. Aber wenn Sie meinen Mann kennen würden …“ Dahinter steckt die Angst, in die Eigenverantwortung für die Lösung der eigenen Lebensherausforderungen zu gehen. Und diese Angst ist völlig legitim. Die Therapie kann also vorläufig nur sehr begrenzte Erfolge erzielen UND es ist nichts verkehrt am „ja-aber-Patienten“!

Auch andere psychotherapeutische Schulen haben Gründe, warum sie das UND dem ABER vorziehen. Aus tiefenpsychologischer Sicht verbindet sich mit dem ABER in der Therapie häufig der kindliche Wunsch, jemand anders könnte die Probleme für uns lösen. Diese Perspektive ähnelt sehr der systemischen, nur reden wir hier von Regression und Übertragung: Der Patient geht in die kindliche Haltung (Regression) und „überträgt“ dem Therapeuten unbewusst eine elterliche Rolle und damit den Job, ihn zu retten bzw. die Probleme zu regeln. Der Therapeut kann das für eine begrenzte Zeit zulassen, muss dem Patienten jedoch irgendwann den Job zurückgeben. Die Ängste des Patienten vor seinen Lebensaufgaben sind völlig berechtigt, aber diese Ängste sollten sich nicht dauerhaft so anfühlen wie Ängste eines kleinen Kindes! Daher muss der Patient irgendwann mehr damit „konfrontiert“ werden, welches Rollenspiel da vor sich geht. In dem Zuge wird dann häufiger mal angeboten, statt eines ABER das UND zu probieren.

In der kognitiven Verhaltenstherapie würde man das ABER als Ausdruck ungesunder bzw. „dysfunktionaler“ Glaubenssätze verstehen. Ein im Sinne des therapeutischen Fortschritts funktionaler Glaubenssatz würde eben gerade nicht das eine oder das andere (ich bin gesund oder krank, ich haben null Selbstwert oder bin sehr selbstbewusst) ausdrücken, sondern eine Differenzierung zulassen, einen Prozess abbilden. Nicht statt „Ich mache alles falsch“ auf einmal „Ich mache alles richtig“, sondern „Ich darf auch Fehler machen“. Nicht statt „Nichts gelingt mir in Beziehungen“ auf einmal „Ich bin der perfekte Beziehungsmensch“, sondern „Ich mache kleine Schritte hin zu den Beziehungen, die mir guttun“. Solange der alte Glaubenssatz noch gilt, wird der Patient immer ein entwertendes ABER formulieren, wenn ihm etwas gelingt. Doch wenn wir ihm einen unpassenden neuen Glaubenssatz unterjubeln (den er/sie noch gar nicht glauben kann), passiert das Gleiche, weil es zurecht als unstimmig empfunden wird.

Welcher Schule auch immer wir nahestehen, es gehört zu den Highlights des therapeutischen Alltags, wenn die Patientin oder der Patient mal ein echtes UND-Erlebnis hat: „Ich finde ihn (den Mitpatienten) ganz schön schwierig – und ich mag ihn.“ „Ich habe große Angst vor zu Hause – und ich freue mich auch sehr.“ „Ich akzeptiere meine Störung – und ich werde mich davon nicht abhalten lassen, meine Lebensziele anzusteuern.“

Natürlich machen wir ständig UND-Erfahrungen im Alltag: Das Dinge, die sich zu widersprechen schein, gleichzeitig da sind; z.B. ich mag jemand richtig und er nervt mich kolossal. Im Alltag allerdings geht viel Energie verloren, weil wir mit dem UND hadern, was die eigentliche ABER-Erfahrung ist. Wir träumen von einem UND, welches nur Harmonie ausdrückt, etwa dass wir in einer engen Beziehung zugleich sehr gebunden und völlig frei sind.

In der Therapie, aber auch im Rahmen von Achtsamkeitspraxis und Spiritualität ist es uns möglich, das UND auch mit Dissonanzen und Irritationen ganz zuzulassen. Dies kann eine sehr schöne Erfahrung sein, wie ein spirituelles Erweckungserlebnis: Ich bin traurig und glücklich zugleich. Ich bin einsam und verbunden. Ich kämpfe mit Schuld und Scham – und ich stehe zu mir. 

Wichtig ist dabei die „Ehrlichkeit“. In der Therapie meint dies ja nicht das moralisch bewertete Ehrlichsein, sondern die Ehrlichkeit des Klienten zu sich selbst. Warum ist das so wichtig? Die meisten depressiven Patienten lernen, im klinischen Alltag sogar recht schnell, „brav“ zu sein (oder waren es schon immer und wenden das nun auf die Therapie an). Dann reden sie nach drei Wochen Klinik so, wie sie glauben, dass wir Therapeuten es hören wollen. Denken Sie nur an das erwähnte „Das darf ich noch lernen …“ Oder eben: sie ersetzen fleißig jedes ABER durch ein UND. Doch wir haben nichts davon, wenn Patienten brav sind (schon, schon, es macht manches einfacher, aber bessert nicht die Prognose für die Patienten). Wenn etwas noch nicht gut ist, sollte der Patient es auch nicht so nennen, wenn er ein klares ABER fühlt, darf er zwar mal ein UND ausprobieren, aber gerne wieder beim ABER bleiben.

Manchmal geht es soweit, dass ich als Therapeut spiegeln muss: „Na, da höre ich sehr viel ABER, ganz schön viel Angst, Zweifel und Widerstand heraus …“ Es gibt keine guten und schlechten Patienten in der Therapie. Und gerade wenn ein Patient immer noch im „ja-aber-Stadium“ ist, gibt es dafür Gründe: Er oder sie traut sich (immer noch) nicht zu, das was zu Hause auf ihn wartet anzupacken. Vielleicht hat er (sie) diesbezüglich völlig recht – und wir haben noch nicht genug darauf geschaut oder daran gearbeitet. Kurzum, ich mag das therapeutische UND. ABER ich versuche niemand umzuerziehen.