V wie Versagen

Ich befinde mich als ein Teil eines Orchesters auf dem Marktplatz einer unbekannten Stadt, stehe nah hinter dem Dirigenten. Um uns herum steht das Publikum, im Hintergrund sehe ich Arkaden, es erinnert mich an Freudenstadt. Ich bemerke, wie überfordert der Dirigent, es ist eine Vertretung (ich glaube, es ist ein Arzt aus unsrer Klinik) wirkt, er weiß nicht, was gespielt wird und wie er es anleiten soll. Da sind auch Solisten, die auf ihren Einsatz warten, aber der kommt nicht. Ich spüre einen großen Druck, die Situation zu retten, einzuspringen, aber ich kann nicht, ich kann nicht Dirigent sein (dabei war das mal ein möglicher Traumberuf). Verdammt, reicht es denn nicht nur mitzuspielen! Plötzlich habe ich die Seiten gewechselt, bin im Publikum und stelle fest, wie dieses sich sang- und klanglos, auch ohne großes Aufheben oder Protest, einfach auflöst. Ich kann meinen Schwiegervater erkennen und meine Tante Annemarie (sie sind beide schon gestorben). Ich denke, ja, es gibt noch andere Probleme in der Welt.

Vielleicht war ich da schon wach.  Ein bisschen schlechtes Gewissen habe ich: „Mensch, wenn ich mich wirklich ins Zeug gelegt und die Angst überwunden hätte …“

Versagensängste begleiten mich mein Leben lang. Meine „einfache“ Prüfungsangst kenne ich aus verschiedensten Lebenssituationen: in der Schule sitzengeblieben; dreimal durch die praktische Prüfung beim Führerschein gefallen; beim öffentlichen Geigenvorspiel den Bogen mitten im Stück vor lauter Zittrigkeit verloren. Und sicher hat dies viele meiner Entscheidungen beeinflusst, etwa dass ich ein Studienfach wählte, bei dem es erst am Ende eine mündliche Prüfung gab (Philosophie), den Horror des Prüfungsmarathons bei Psychologie oder Medizin hätte ich mir nicht vorstellen können bzw. habe ich mir ja vorgestellt. Aber es steckt mehr dahinter.

Ich wache auch heute manchmal noch nachts auf mit einem mächtigen Druck auf der Brust und mit dem Satz: „Ich schaff‘ das nicht!“ Auf die Nachfrage, z.B. meiner Therapeutin, konnte ich oft gar nicht sagen, was ich nicht zu schaffen befürchte. Da funktioniert die Verdrängung bereits wieder: „Ich weiß nicht.“ Und so habe ich mich, bevor ich den Ängsten wirklich auf die Spur kam oder ihnen gar folgte, immer wieder in die Depression geflüchtet: „Ich weiß nicht.“ Natürlich, tagsüber ganz viel schaffen, weit mehr als 100 Prozent geben, damit bloß nicht aus dem Alltag heraus mich wieder die Angst, „es“ nicht zu schaffen, anspringt.

In meiner letztlich langjährigen Therapie (bei verschiedenen Therapeut*innen) bin ich auf verschiedene Urszenen gekommen, die dazu passen. In einer davon bin ich zwei oder drei Jahre alt, liege im Bett, es ist mitten in der Nacht, ich bin aufgewacht, wahrscheinlich aus einem Alptraum, habe Wahnsinnsangst, ich müsste es nur über den Flur schaffen ins Schlafzimmer meiner Eltern (bei Lichte betrachtet wären das drei Meter, aber es ist finster), doch ich habe ja solche Angst, das schaffe ich nicht.

In einer anderen Szene bin ich im Grundschulalter und ich stehe hilflos bei meiner Mutter, ich schaffe es nicht, sie glücklich zu machen. Hierzu gibt es viele Assoziationen: Das Gefühl, nicht gut genug zu sein, entsteht oft in Situationen, in denen der Kleine sich eine Aufgabe zu eigen macht, die nicht seine ist. Das weißt uns darauf hin, dass die psychische Problematik des inneren Kindes gar nicht daraus entstehen muss, dass es als Kind abgelehnt worden wäre, sondern aus dem sich bilden kann, was die Eltern als Paar verbockt haben und wo der Kleine meinte, einspringen zu müssen.

Ich denke da sofort auch an Ängste, die ich unbewusst in meine eigenen Paarbeziehungen mitgenommen habe: die Angst, als Partner zu versagen. Das ist ein Riesenthema. Ich will nur über einen Aspekt schreiben, der oft vielleicht nicht so ernst genommen wird: Die Angst, kein guter Liebhaber zu sein, ja, auch sexuell, als „Mann“ zu versagen, ein schlechter Liebhaber zu sein. Finden Sie das nicht so wichtig oder denken Sie: „Ach, Männer, immer das Gleiche …“? Ganz ehrlich, ich habe auch viele Jahre so gedacht und das Thema daher selbst als Therapeut nicht so „hoch gehängt“. Heute sehe ich es anders.

Ich fand es bemerkenswert, dass mich der Marktplatz im Traum selbst an Freudenstadt erinnerte. Da könnte ich nun wiederum vielen Assoziationen folgen: dass mein Bruder (der Arzt ist) in Freudenstadt wohnte, und er ja so anders ist als ich, ein kompetenter Pragmatiker, und so zuverlässig, und spät nochmal geheiratet hat, und und und; oder dass ich mich zweimal als Heilpraktiker –  genauer gesagt: als Journalist im Auftrag meiner Zeitschrift – auf den renommierten Kongress eines Ärzteverbandes für Ganzheitsmedizin in Freudenstadt „geschlichen“ habe, geschlichen, weil der Verbandspräsident (und nicht nur er allein) ein ausgewiesener HP-Hasser war, und man sich als HP natürlich sowieso oft nicht gut genug fühlen durfte …

Seltsamerweise war meine erste Assoziation bei Freudenstadt aber: „Freudenhaus“. Und: Sigmund Freud! Ich dachte daran, dass man(n) als kleiner Bub tatsächlich überfordert ist, für die Mutter den Part des Liebhabers zu einzunehmen – und an Freud und seine Idee vom Ödipuskomplex. Wie schon viele Psychologen nach ihm festgestellt haben, ist manchmal auf eine ganz andere Weise etwas an Freuds Konzepten „dran“: Der Ödipuskomplex ist möglicherweise gar kein notwendiges Ergebnis der frühkindlichen, sexuell geprägten Entwicklung, sondern die Folge davon, dass die Mutter in der Liebesbeziehung zum Ehepartner das nicht bekommt an „Liebhaben“, was sie erwartet (hat). Und das Kind merkt etwas von diesem Schmerz und Unglück und will einspringen, kann aber nicht. (Letztlich hat natürlich auch das „Dirigieren“ etwas Phallisches, aber ich will mal nicht zu weit dem lieben Sigi folgen …)

Die dritte Urszene zum Satz „Ich schaffe das nicht!“ kann ich nicht erinnern, nur imaginieren, wobei sie nicht erfunden ist, da selbst meine Mutter darüber offen sprach, ich war halt noch zu klein, hatte keine Sprache: Meine Mutter war heillos überfordert mit mir als drittem Kind innerhalb von zweieinhalb Jahren (sie selbst war 26) – und war daher immer wieder froh oder nennen wir es erleichtert, wenn sie mich „loswerden“ konnte, an meine Oma im Haus oder auch an größere Cousinen oder andere Mädchen, die mich süß fanden, oder sogar loswerden ans Krankenhaus (ich hatte mehrfach schwere Lungenentzündungen und war dann sozusagen in der Klinik „gut versorgt“). Sie als Leserin meines Blogs wissen: In der Therapie geht es nie darum, Schuldige zu finden. Es war wie es war und Mama hat ihr Bestes gegeben!

Ich übernehme die volle Verantwortung für das, was ich in meinen eigenen Beziehungen „verbockt“ habe. Es soll daher auch keine Rechtfertigung sein, sondern nur ein Versuch, mehr zu verstehen: Die Unfähigkeit, meine Mutter effektiv zu „rufen“, sie an mich zu binden, die Unsicherheit in der ersten wichtigsten Bindung, hat mich möglicherweise zu dem freiheitsliebenden Menschen gemacht, der sich Bindung nur mäßig zutraut und sie auch als bedrohlich erlebt, obwohl er sich danach sehnt, oder drastischer formuliert: der einen Leben lang nach der Mama sucht und genau das ganz schrecklich findet. Und: der nichts davon merkt. Einfach depressiv ist.

Assoziativ bemerkenswert ist für mich, dass ich die größten Versagensängste im Erwachsenenleben mit der Idee „im Stich lassen“ verbinde: dass ich Menschen im Stich lasse (dazu passen irgendwie mein Schwiegervater und die Tante im Traum), aber auch, dass ich im Stich gelassen werde (diese Sorge hatte ich sehr oft bei der Arbeit), so dass ich es einfach nicht schaffe (allein). Nicht zuletzt auch: dass ich mir da eine Aufgabe, die zu groß für mich war, zu eigen gemacht habe. Letztlich: die Welt zu retten.

Versagensängste haben viel mit Scham zu tun, das trifft besonders auf solche zu, die sich auf den zwischenmenschlichen Bereich beziehen: Habe ich jemand etwas versprochen, was ich nicht einhalten kann? War ich vielleicht sogar „großspurig“ und bin jetzt „klein mit Hut“?  Hier kann sich die Scham, gegen eigene Wertvorstellungen verstoßen zu haben, mit der „Urscham“ oder der „Urangst“ vermischen: „sowieso“ nicht gut genug zu sein … es halt wieder mal nicht zu schaffen bzw. es wieder mal zu „verkacken“.

Scham ist, wie ich schon vielfach betont habe, zunächst eine gesunde Reaktion darauf, dass etwas sichtbar wird, was sonst verborgen ist oder bliebe. Im beschriebenen Traum ist das ganz offensichtlich, denn es handelt sich um ein öffentliches Konzert auf einem Marktplatz! Puuuhhh. Atmen! Hierzu ist mir eingefallen: Mein „öffentlichstes“ Vorspiel überhaupt ist der Naturheilverein Taunus, ich habe seine Gründung vor zehn Jahren initiiert, bin seither der Vorsitzende (war auch immer wieder in der Zeitung damit); ich kann gar nicht beschreiben, wie krass viel ich in den ersten Jahren gerackert habe, um meine Versagensängste in den Griff zu bekommen. Bald schon hatte der „NHV“ auf meinem Computer die meisten Ordner und die meisten Dateien beansprucht. Nun wird er im Oktober 2024 aufgelöst, weil ich keinen Nachfolger finden konnte. Dieses Ende habe ich mehrfach hinausgeschoben.

Beim Nachspüren über den Traum kam mir das Wort „Unvermögen“ in den Sinn – und ich musste an Patienten denken, für die „Vermögen“ (im materiellen Sinne) so wichtig für den Selbstwert ist, dass sie sich damit ins Unglück reiten. Lieber sterben als unvermögend zu sein? Aber das wäre wieder ein anderer Schauplatz: unsere Ängste, nicht gut genug zu sein, sind narzisstische Ängste – Ängste, die sich auf die Bedrohung des Selbstwerts beziehen. Oft geht es beim Streben nach Vermögen gar nicht um materielle Sicherheit, die natürlich so objektiv wirkt, dass gerne alle darauf hereinfallen, sondern um die Absicherung des Selbstwerts. Gerade Männer würden tatsächlich in vielen Fällen lieber sterben, als das, was sie für ihren Selbstwert halten, aufzugeben. Und: ich bin kein besser Mensch oder Mann als meine Patienten, ich habe „nur“ eine andere Rolle.

Der Traum endet allerdings, finde ich, relativ erwachsen: „Es gibt noch andere Probleme in der Welt.“ Niemand protestiert oder macht Aufhebens, wenn das Vorspiel sang- und klanglos endet. Und: Ich bin nicht mehr der kleine Junge, weder der mit dem Geigenbogen noch der, der seine Mutter glücklich machen möchte. Es fühlt sich nur manchmal noch so an 🙂