Heute schreibe ich über eine Gruppe von Patientinnen, die schwer behandelbar erscheinen. Überwiegend handelt es sich – aus meiner Sicht (61) – um junge Frauen (unter 30); mögliche Gründe für Geschlecht und Alter werde ich später beleuchten. Sie verstehen es, sich hübsch herzurichten und nett zu lächeln, was allerdings oft fassadenhaft wirkt. Auch in der Gruppentherapie scheinen sie fassadenhaft: sie sind halb anwesend, halb abwesend. Es handelt sich m.E. um eine besondere Form von „Dissoziation“, ein Sich-Abschalten, wie wir es in starker Ausprägung von Trauma-Opfern kennen, die akut noch oder wieder unter Traumafolgen leiden. Im Kontaktverhalten zu mir als Therapeuten erlebe ich die Patientinnen reserviert und skeptisch, manchmal fast überheblich, eine tiefe Unsicherheit überspielend.
Bei allen individuellen Besonderheiten zeigen sie eine Gemeinsamkeit: Sie haben eine äußere Erscheinung und manchmal eine ganze Lebensgeschichte für die Außenwelt erfunden. Was dahinter verborgen ist, können sie auch nach Wochen in der stationären Therapie kaum öffnen, bleiben mit ihrem verletzlichen Kern im Versteck. Sie schämen sich für ihre Fassade, weil sie die Fantasie haben, dass sie die Mitmenschen betrügen. (Aber Selbstschutz ist kein Betrug!) Doch die Scham für den äußerlichen „Fake“ ist nichts im Vergleich mit der Angst vor der großen Scham: dass das bedürftige, hilflose, verletzte Wesen hinter der Fassade gesehen wird – das darf auf keinen Fall passieren!
Ich hatte erst erwogen, diesen Blog „Fake-Syndrom“ zu nennen, aber der Begriff erscheint mir zu moralisierend, so als wollten die Betroffenen uns böswillig in die Irre führen, dabei handelt es sich beim Sich-Verstecken um einen Schutzmechanismus. Dahinter können unterschiedliche Erfahrungen stecken: frühe Bindungsstörungen (komplexe Traumata, die zu Persönlichkeitsstörungen führen), sexueller Missbrauch im Kindes- und Jugendalter, sexuelle Identitätsstörungen oder überwältigende Scham in Zusammenhang mit einer äußerlichen Besonderheit oder Auffälligkeit (z.B. im Kontext von Mobbing).
Es geht immer um Scham. Psychotherapie ist nicht möglich ohne Scham-Erleben, Scham-Differenzierung und Scham-Regulation. Ich unterscheide Formen von Scham. Die „natürliche“ Form meldet sich, wenn wir uns zeigen, vor allem, wenn wir etwas von uns zeigen, was bisher oder meist verborgen blieb. Wieviel wir davon aktuell zeigen, dabei hilft uns die Scham (dass wir uns z.B. nicht sofort komplett „nackt“ machen vor fremden Menschen). Die „natürliche“ Scham kann sich kurzfristig in Freude verwandeln (gesehen zu werden) oder auch in Stolz (einen Schritt unter Zeugen gemacht zu haben). Sie kann sich auch reduzieren, wenn wir etwas Übung im Sich-Zeigen und mehr Vertrauen gefasst haben. Ohne Scham zu leben, ist jedenfalls keine gute Idee.
Wer jedoch mit Scham nur eine schreckliche, überwältigende Erfahrung verbindet und Scham daher per se zu vermeiden versucht, ist schwer zu therapieren. Er oder sie bleibt im Wesentlichen verschlossen, obwohl nur durch die Öffnung eine Lösung und Erlösung möglich wäre. Geheimnisse, die geheim bleiben müssen, aber für das Verständnis des Menschen unverzichtbar und wichtig wären, binden sehr viel Energie, selbst wenn die Betroffenen nach außen manchmal irgendetwas „Totes“, also Energieloses, ausstrahlen. Diese unterdrückte oder gebundene Energie kann sich in der Therapie, wo es ja darum geht, dass Geheimnisse gelüftet werden, durch viel Abwehr äußern, durch passive oder aktive Aggression, u.a. gegen den Therapeuten. „Passiv“ ist die Aggression, wenn sie sich in Form von Zynismus oder Herablassung äußert: „Das nützt hier doch alles eh nichts.“ „Was für ein Kinderkram.“ Oder explizit: „SIE können mir auch nicht helfen.“
Typisch ist die starke Ambivalenz gegenüber der Therapie, also widersprüchliches Verhalten: mal sehr motiviert, dann wieder total ablehnend. Das ist ein Spiegelbild des inneren Kampfes: Der schwache, schambesetzte, verletzliche Anteil wünscht sich sehnlichst, endlich aus seinem gefängnishaften Versteck befreit zu werden (deswegen kommen die Patientinnen ja überhaupt in Therapie), aber der schützende, pessimistische Anteil ist dann doch stärker („wenn wir uns zeigen, wie wir wirklich sind, werden wir abgelehnt“) und wehrt jede Öffnung ab.
Die Patientinnen sind so schwer zu verstehen und zu behandeln, weil sie so widersprüchlich sind: Nach außen geben sie eine manchmal nahezu perfekte Erscheinung ab, haben eine hohe Sozialkompetenz und können mit ihrer Fassade manche Mitmenschen beeindrucken, sind vielleicht sogar Schauspieler oder haben einen eigenen Kanal in sozialen Netzwerken, sind als Models tätig und ähnliches mehr. Deswegen denken Mitpatienten, wenn die Betreffenden auf die Frage nach dem Selbstwert „trotzdem“ sehr niedrige Werte angeben, spontan: „Na, die will uns wohl auf den Arm nehmen.“ Oder: „… fishing for compliments …“
Doch im Kern ist tatsächlich wenig Selbstwert und Selbstvertrauen vorhanden, im Zusammenhang damit auch wenig Vertrauen in die Mitmenschen und die Welt insgesamt – verständlich, wenn man anderen immer oder schon lange etwas vorgemacht und sie nie wirklich an sich herangelassen hat. Das Opfer oder Kind im Versteck führt Regie und die Regieanweisung lautet: „Wenn wir zeigen, wie wir wirklich sind, wie hässlich und abstoßend wir sind oder uns verhalten haben, dann werden wir abgelehnt – also: nichts zeigen, auf keinen Fall!“
Da Therapie wesentlich bedeutet: sich ins Vertrauen hinein trauen, Beziehung aufbauen, die Risiken und die Scham zulassen, fühlen sich diese Patientinnen von Therapie überfordert. Ich als Therapeut fühle mich ebenfalls überfordert. Es ist schwer, mit den Betreffenden eine tragfähige Beziehung aufzubauen. Sie fühlen sich schnell reglementiert oder durch therapeutische Schritte regelrecht bedroht, bestehen auf einer Autonomie, die allerdings nicht erwachsen, eher kindlich-misstrauisch ist.
Die Tiefenpsychologie spricht von „Übertragung“ in der therapeutischen Beziehung: Die Patientin „überträgt“ dem Therapeuten eine bekannte Rolle (z.B. Vater) und die damit verbundenen Rollenerwartungen. In diesem Prozess nimmt sie gleichzeitig die korrespondierende Rolle (in dem Fall: Kind) ein – und verhält sich entsprechend „regressiv“ (kindlich). Die Übertragung kann ein Motor der Therapie sein, zunächst kann sie – bzw. die „Gegenübertragung“ (was der Therapeut in dieser Beziehung empfindet) helfen, den Patienten besser zu verstehen, weil auch Gefühle, Wünsche und Konflikte des Patienten übertragen werden.
Wenn die Patientin sich im Kern (unabhängig davon, wie die Hülle erscheint) hilflos, ohnmächtig fühlt, traurig, verunsichert und verzweifelt, aber auch wütend ist, dann werde ich als Therapeut (eventuell unbewusst) diese Gefühle mit ihr durchleben: Ich fühle mich hilflos, viel hilfloser als bei anderen Patienten, bin geradezu verzweifelt, weil die Patientin so schwer behandelbar erscheint, bin vielleicht sogar ängstlich, ob sie sich etwas antut, oder wütend, dass sie einfach nicht „liefert“, die vorgeschlagenen Schritte raus aus der Regression (Kindlichkeit) ins erwachsene Verhalten nicht geht – und mich stattdessen in meiner Kompetenz entwertet.
„Augenhöhe“ ist ein Ideal, das vielfach nicht der therapeutischen Realität entspricht aufgrund der unterschiedlichen und komplementären Rollen, die Patient und Therapeut innehaben. (Außerhalb dieser Rollen, d.h. wenn wir uns „im wahren Leben“ begegnen, können wir durchaus Augenhöhe praktizieren.) Bei diesen Patientinnen ist das Missverhältnis extrem, weil sie zwischen offener Regression (kindlichem Verhalten) und Pochen auf vermeintlich erwachsener Autonomie (kindlicher Pseudoautonomie) stark schwanken. Mal möchte ich liebevoll sagen: „Ach, ich würde sie ja gerne adoptieren, aber dafür ist es jetzt zu spät, sie sind schon bald 30 Jahre alt, und es würde ihnen auch nicht helfen.“ Ein andermal könnte ich voller Ärger ausrufen: „Jetzt ist aber mal Schluss …“ und ich will „andere Saiten“ aufziehen.
Überproportional vertreten sind diese Patientinnen u.a. unter jenen mit Essstörungen. Ein „Klassiker“ ist die Bulimie (Ess-Brech-Sucht) oder auch die Anorexie, die sich von einer anfänglichen typischen Form, die nicht zu verheimlichen ist (weil jeder die Magersucht sieht) zu einer weniger erkennbaren, atypischen Form weiterentwickelt und chronifiziert hat. So wie manches Opfer sexueller Gewalt das Trauma vor dem Partner zu verheimlichen sucht (aus Angst, das Wissen würde ihn abstoßen), so versuchen die von Bulimie/atypischer Anorexie Betroffenen auch ihr Umfeld nicht wissen zu lassen, was los ist, weil sie Reaktionen wie Ekel befürchten.
Wenn ich oben geschrieben habe, es würde sich vor allem um junge Frauen handeln, stimmt das nur eingeschränkt – ich hatte auch immer wieder mit 40-, 50- oder auch 60-jährigen Patientinnen zu tun, die seit Jahrzehnten an Bulimie oder Anorexie leiden, ohne dass es irgendjemand (!) weiß, nicht einmal die Partner, Eltern oder Kinder. Sie sind wahrscheinlich nur deshalb seltener in Therapiegruppen als junge Frauen, da die Mehrheit von ihnen sich damit „abgefunden“ hat, dass es keine Erlösung für den versteckten Kern geben wird, und keine Erwartungen mehr in Therapie setzt. Bei einem anderen Teil der Betroffenen kann sich die Störung auch unter günstigen Lebensumständen (oder Therapieerfolgen?) zurückgezogen haben.
Sind Männer vom Versteck-Syndrom weniger betroffen? Vermutlich nicht. Aber sie gehen prinzipiell seltener in Therapie – viele versuchen, das Problem mit besonders erfolgreichem Performing (also Erfolg mit der Fassade) zu „behandeln“, in gewisser Weise als Schauspieler in diversen Berufen, z.B. mit Leitungsfunktion oder als Unternehmer oder Leistungssportler. (Das kommt jetzt etwas klischeehaft daher, man muss an alle Arten von Performing und Beruf denken). Etliche „therapieren“ sich auch mit Drogenkonsum, vielleicht landen einige (eher eine Minderheit) erst nach Scheitern dieser Strategien in entsprechenden Therapien.
Zwar gibt es immer wieder auch unter den männlichen Patienten solche, die ein Geheimnis um jeden Preis hüten (z.B. dass sie fremd gegangen, porno-süchtig oder bis über beide Ohren verschuldet sind) und daher die Therapie blockieren: Sie reden über manches sehr offen, über „das“ energiegeladene Geheimnis dagegen gar nicht. Dies ist aber nicht vergleichbar mit dem hier beschriebenem Versteck-Syndrom, das im Kindes- und Jugendalter beginnt und mit frühen, überwältigenden Scham-Erfahrungen zu tun. (Ein erwachsener Mensch kann sich für seinen Mist schämen, ohne komplett im Boden zu versinken oder zu dissoziieren.)
Sie haben es schon gemerkt: Diese Patientinnen bringen mich an meine Grenzen. Im Allgemeinen kann ich – als Mensch und Therapeut – gut zu mir stehen, mich akzeptieren, auch mit Fehlern und Schwächen, finde mich voll okay und manchmal richtig „cool“. Wenn ich z.B. wieder einmal im Patientenkontakt hitzköpfig bin oder spontan Mist raushaue, kann ich mit der folgenden Scham umgehen und danach einigermaßen selbstbewusst weitermachen. Doch bei dieser Gruppe von Patientinnen fühle ich mich oft, manchmal wochenlang, unwohl in meiner Haut, „very uncool“ und definitiv als Therapeut nicht gut genug. Da war ich schon manchmal dankbar um den Zuspruch des Supervisors, mein Bestes gegeben zu haben. Ich frage mich dann sogar, ob ich selbst authentisch bin. Na klar, der Therapeut ist ja nicht nur eine Realität, sondern auch eine Rolle.
Grenzerfahrungen gehören für Patient und Therapeut zur Therapie, so lernen wir dazu, aber hier werden wir Therapeuten mit unserem Helfersyndrom konfrontiert: dass wir Patienten retten wollen, die wir nicht retten können. Das „Syndrom“ besteht oder bestünde bei voller Ausprägung darin, dass mein eigenes inneres Kind offensichtlich noch nicht ausreichend „gerettet“ oder integriert wurde; und ich, statt mich um meinen Kleinen zu kümmern, mich auf immer neue Patientinnen „stürze“, um deren innere Kinder zu retten.
Retten können sich alle Patientinnen der Psychotherapie nur selbst. Aber wie können wir sie unterstützen? Prinzipiell benötigen diese speziellen Patientinnen meist deutlich mehr Zeit, ambulant wie stationär, um sich zu öffnen und die Erfahrung zu machen, dass sie nicht abgelehnt werden, wenn sie sich zeigen, dass sie keine Last sind, wenn sie „ehrlich“ sind, sondern angenommen und willkommen.
Wer mich oder meinen Blog kennt, weiß, wie oft ich gegen die „Falle“ der Traumatherapie argumentiere: gegen die Mode, dass fast jede zweite Patientin meint, sie bräuchte unbedingt traumaspezifische Therapie. Bei den hier beschriebenen Patientinnen würde ich ausnahmsweise sagen: Wenn es irgendwie geht – Traumatherapie machen! (Aber solange sie keinen Platz bekommen, natürlich erstmal auch andere regelmäßige Psychotherapie anfangen!)
Allerdings birgt die Verlängerung der Therapiezeit das Risiko, dass sich die Betreffenden in der Regression (kindlichem Erleben und Verhalten oder auch in der Opfer-Rolle) einrichten und doch nicht erwachsen bzw. eigenverantwortlich werden wollen. Das erleben wir immer wieder. Mein Hauptkriterium für eine sinnvolle Therapie ist: Unter Therapie sollte, mindestens mittelfristig, die Lebenstauglichkeit steigen und damit die Wahrscheinlichkeit, dass die Patienten sich ihren aktuellen Lebensherausforderungen stellen und ein besseres Leben führen können.
Ein anderer hilfreicher Aspekt, speziell von Gruppentherapie (oder auch Selbsthilfegruppen), könnte sein, dass sich die Betreffenden in Menschen wiedererkennen, die ein ähnliches Schicksal teilen. Das kann helfen, ist aber nicht zwingend der Fall, da sich die Patientinnen je nach Gruppendynamik möglicherweise gegenseitig in den regressiven Wünschen und in der Überzeugung, dass die wirkliche Welt sie nicht annimmt, bestärken können.
Apropos Annahme und Selbstannahme: Eine unserer Aufgaben als Therapeuten besteht darin, die Patienten anzuleiten in der „Selbstliebe als Praxis“. Dazu gehört, ihnen klar zu machen, dass dies ein längerer Prozess ist: Eine gesunde Selbstakzeptanz und ein „gesunder“ Selbstwert sind nicht einfach herbeizutherapieren. Ich finde z.B. Erbrechen tatsächlich eklig (und habe seit fast 50 Jahren auch bei größter Übelkeit nicht erbrochen), aber das hat mich bisher nicht von Patienten mit solchen Störungen abgestoßen. „Wenn ich Sie so lieben kann, wie Sie sind, können Sie das auch.“ Es braucht die Bereitschaft, aus dem Schwarz-Weiß-Denken (wie wir sind und wie wir sein sollten) herauszutreten, mit Ambivalenzen umzugehen und nicht auf die wundersame und totale Heilung zu setzen, sondern ein besseres Leben anzufangen, immer wieder. Auch eine Reise von tausend Meilen fängt mit dem ersten Schritt an.
PS. Leser*innen schreiben mir gelgentlich, dass sie sich bei der Lektüre so gefühlt haben, als ob ich über sie (persönlich) geschrieben hätte. Das ist nie der Fall, auch wenn Sie sich wie entdeckt fühlen: Ich schreibe nicht über einzelne konkrete Patient*innen, selbst wenn ich eine Art „Fallbeispiel“ einbaue, ist es verfremdet. Ich wünsche Ihnen, dass Sie freiwillig und achtsam Ihr Versteck verlassen.