Die alten „Beruhigungsmittel“, also Benzodiazepine wie Diazepam (alias Valium) oder Oxazepam (Adumbran), haben einen schlechten Ruf, dafür gibt es gute Gründe, vor allem ihr Suchtpotenzial – und das klingt viel zu harmlos, weil man bei „Sucht“ vielleicht daran denkt, dass die meisten Süchtigen ja doch irgendwie im Leben noch zurechtkommen. Aber wer Betroffene kennt, weiß, was diese Mittel mit den Menschen machen können! Die neueren Medikamente (in dem Fall: Neuroleptika und Antidepressiva) sind zwar längst nicht so gut, wie sie im Gerede über die schlechten Altmedikamente erscheinen, aber das ist ein ganz eigenes Thema. Heute beschäftigen wir uns mit einem „Benzo“, dass im Unterscheid zu seinen Kollegen noch nicht in den Ruhestand geschickt wurde: Lorazepam (alias Tavor), Baujahr 1963.
Bei epileptischen Anfällen sowie in der Behandlung akuter psychotischer Zustände gehört es zur Notfallmedizin, und angeblich begründet dies seine relativ stabilen „Verordnungszahlen“. Ich meine dagegen, Lorazepam wird noch relativ häufig verordnet, weil es auch bei vielen anderen Patienten verblüffend gut wirkt – im ersten Moment: Das Mittel wirkt vor allem angstlösend und beruhigend, dadurch auch schlaffördernd, daneben leicht muskelentspannend. Es kann panische Patient*innen regelrecht „abschießen“ oder „aus dem Verkehr ziehen“. Mit Lorazepam kann man Menschen ruhigstellen und „vor Dummheiten bewahren“, also ihren akuten Selbstverletzungsdruck oder ihre Suizidalität reduzieren, die Betroffenen wirken vielleicht sogar wie ausgewechselt – aber täuschen Sie sich nicht, es könnte wahrlich fatal enden! – für einen halben Tag oder eine Woche. Sie haben ihre Ruhe, und das Umfeld (Arzt, Pflege, Angehörige) damit auch. Bis die Wirkung nachlässt … Und dann? Auf ein Neues! Und wie oft wollen wir das wiederholen?
Etwas vereinfacht gesagt: Solange Tavor im Spiel ist, steht es um die eigentliche Psychotherapie schlecht, es ist zugleich Indiz und Faktor für diese fatale Lage. Besonders fatal ist der Einsatz im ambulanten Bereich. „In dieser Dosis“, gemeint ist immer die gerade verschriebene bzw. verniedlichte Dosis, „macht das nicht abhängig.“ Oder auch sehr schön: „Für eine kurze Zeit ist das völlig unproblematisch.“ Welche kurze Zeit könnte gemeint sein: Bis der Patient wie durch ein Wunder von selbst heilt oder eher bis er in der Psychiatrie landet? Von wem die Zitate stammen: Meist sagen Hausärzte so etwas (oder auch Klinikärzte auf nicht-psychiatrischen Stationen, etwa in der Geriatrie) – in ihrer Not, Patienten helfen zu müssen, für deren Behandlung sie nicht über geeignete Mittel verfügen und die in der Regel auch gar nicht bereit sind, z.B. einen Psychiater oder eine Fachklinik aufzusuchen. Ähnlich ist die Situation, wenn der Personalmangel in Kliniken dazu führt, dass man die Patienten still stellen oder sie, vom Pflegestützpunkt und Ärztezimmer aus gesehen, „loswerden“ muss, weil es noch zu viele andere Patienten gibt, die Zuwendung brauchen. Das erscheint dann im ersten Moment wie eine win-win-Situation: Patient kriegt, was er will, Arzt und Pflege haben ihre Ruhe, der beschönigende Begriff „Bedarfsmedikation“ ist dafür in aller Munde, aber der Preis für diese Medikation ist hoch, wenn man mal in die Verläufe derer schaut, die Tag für Tag Bedarf haben: Es geht meist systematisch bergab.
Eigentlich bestreitet auch niemand auf Nachfrage, dass Lorazepam nur für Akut- und Notfallbehandlung geeignet ist, aber die Realität sieht eben anders aus – und das wird dann mit Formeln wie „niedrige Dosis“ oder „Bedarfsmedikation“ schöngeredet. Lorazepam macht von der ersten Gabe an abhängig, vielleicht nicht biologisch, aber psychisch. Sobald es wirkt, hat es auch sein gewaltiges Suchtpotential. Es verstärkt die zugrundeliegende Angstneigung mit dem ersten Abschuss massiv, es führt in vielen Fällen erst die Entwicklung einer ausgeprägten Angststörung herbei.
Es gibt ambulant nahezu keine sinnvolle Verwendung und auch stationär sollte es Ausnahmefällen vorbehalten sein. Die Klinik ist zwar prinzipiell ein guter Ort, um Medikamente anzusetzen und unter engmaschiger Beobachtung zu kontrollieren, was geschieht – aber ebenso oft ist oder vielmehr wäre sie ein guter Ort, um Medikamente abzusetzen bzw. auszuschleichen**, z.B. bei Lorazepam. Wann und wo wenn nicht in der Klinik sollten Patienten sonst von dieser Droge durch Ausschleichen befreit werden? Einem Patienten innerhalb eines sicheren stationären Rahmens (Klinik für Psychotherapie) immer weiter Tavor zu geben, könnte man damit vergleichen, dass man einen Alkoholiker in der Klinik weiter trinken lässt, und wahrscheinlich ist dieser Vergleich noch verharmlosend.
Wenn wir die erwähnten Fälle von einmaliger Akutbehandlung außen vor lassen, lässt sich feststellen: Der Patient X muss erst noch gefunden werden, dem Tavor geholfen hat. Naja, einige kenne ich doch, denen es geholfen hat: gerade noch rechtzeitig zu erkennen, dass es so definitiv nicht funktioniert, dass nämlich alles schlimmer wird. Leider ist das eine verschwindend geringe Minderheit, denn die Mehrheit traut sich im Zuge des Abhängigkeitssyndroms immer weniger zu, kennt nur noch die Alternative Todesangst bzw. Angst vor der Todesangst oder erneuten Abschuss durch Tavor.
Angst kann man ja tagtäglich vor allem Möglichen haben. Wenn wir uns ständig vor Augen halten würden, was uns und/oder unseren Liebsten von früh bis spät passieren kann, ganz zu schweigen von dem politischen Lauf der Dinge (Klimakatastrophe, Terrorismus und Kriegsgefahren usw.), da kann einem schon angst und bange werden. Doch Angst ist weit häufiger als gedacht auch ein halbwegs realistisches Gefühl, ein Warnsignal, dass in unserem Leben etwas in eine Richtung läuft, die uns Angst machen sollte (z.B. dass die Partnerin davonläuft oder der eigene Betrieb den Bach runtergeht oder unsere Kinder auf Abwege geraten) – dummerweise versuchen wir diese realistische Ausrichtung der Angst zu verdrängen, und daher meldet sie sich umso stärker und wendet sich auf Projektionsflächen, die mit der ursprünglichen Thematik wenig zu tun haben.
Ich weiß, dass aus traumatherapeutischer Sicht manchmal anders argumentiert wird. Doch die Ängste, die Lorazepam verstärkt, haben häufig nur begrenzt mit der Vergangenheit und Traumata zu tun, und viel häufiger und mehr mit einem Gefühl, die aktuellen Lebensherausforderungen nicht meistern zu können. Wer aber erstmal in die Tavor-Spirale gerät, wird möglicherweise schon die geringste körperliche Empfindung oder kleinste seelische Aufregung als Angst „wahrnehmen“ – und zeigt sich dann wie ein typisch retraumatisierter Patient. Als „Trigger“ für heillose Aufregung reicht sehr bald schon das Aufwachen aus dem Zustand des medikamentösen Abgeschossenseins.
Apropos Aufwachen: Die mit Lorazepam erkaufte Nachtruhe muss nicht selten am nächsten Tag teuer bezahlt werden. Ich habe das schon einige Mal erlebt, dass Patient*innen innerhalb von ein oder zwei Wochen, in denen sie dank Tavor „endlich schlafen können“, tagsüber deutlich ausgeprägtere Angstsymptome haben. So wird die Störung verstärkt, was angesichts der erläuterten Zusammenhänge nur logisch ist. Eine hochbetagte Frau etwa, der halb unbewusst, halb bewusst klar wird, dass sie nicht mehr lange in den eigenen vier Wänden alleine leben kann, bekommt es mit Schlafstörungen und nächtlichen Angstzuständen zu tun – das sind die realistischen Angstgefühle! Nach einigen Tagen oder Wochen, in denen sich an der Lebenssituation nichts ändert und die Angst immer unerträglicher wird, „erlöst“ sie der Hausarzt und verschreibt ihr Lorazepam. Auf einmal kann sie wieder schlafen, entwickelt aber tagsüber panische Ängste, wenn ihr Besuch (sei es die ambulante Pflege, seien es Angehörige) sich verabschieden will. Tavor als Schlafmittel verschiebt die Angst von der Nacht in den Tag – und das klingt wieder einmal viel harmloser, als es ist. (Übrigens gibt es pharmakologisch deutlich harmlosere Alternativen, und ich meine damit nicht Heilpflanzen, wenn es darum geht, die Schlafneigung der Patienten zu fördern.)
Mit Lorazepam wächst die Angststörung zur Ohnmacht. Es gibt bestenfalls einen Vorteil für die betroffenen Patienten, und das ist der sekundäre Krankheitsnutzen, den manche erleben: Endlich erkennen die Angehörigen, wie ernst es um sie steht, wie schwer gestört oder hilfsbedürftig sie sind. Aber auch dieser Vorteil ist mit einem riesigen Nachteil verbunden, denn der Patient entwickelt eine völlig verdrehte Krankheitslogik: „Erst müssen meine Angststörung und meine Depression geheilt sein, bevor ich wieder ins Leben starten kann …“
Die Wahrheit ist: Zunächst einmal muss Tavor abgesetzt werden, damit wir therapeutisch arbeiten können. Und das ist wahrlich kein Vergnügen, es geht meist nur in der Klinik, die Entwöhnung dauert in den meisten Fällen mindestens sechs Wochen und häufig sogar Monate – dabei kommt es häufig zu der fatalen Fehlwahrnehmung (auch bei Behandlern), die Angststörung des Patienten sei so massiv, dass sogar verfrüht wieder solche Medikamente (Anxioloytika) angesetzt werden, statt zu erkennen, dass die Entwöhnung so brutal und eben langwierig ist. Es geht nur Schrittchen für Schrittchen vorwärts, bis auch der Patient an dem Punkt steht: Ängste gehören zum Leben und wir müssen uns ihnen stellen, statt sie loswerden zu wollen. Wenn wir sie nicht verdrängen, dann muss die Angst nicht verrücktspielen. (Zugegeben, auch das ist verharmlosend bzw. leicht gesagt.)
Und was ist mit Depressionen? Die Depression tritt bei Angststörungen gerne als große Schwester auf und bläst sich auf, um die Angst erträglicher zu machen. „Lorazepam kann eine bestehende Depression verstärken.“ So steht es im Beipackzettel. Die Wahrheit ist: Es tut das immer! Denn die Betroffenen verlieren noch das letzte Gefühl für Selbstwirksamkeit, es sind ohne Übertreibung überwiegend schrecklich abhängige Opfer, mit denen wir es zu tun bekommen: Patienten, die komplett psychotherapieresistent werden – und ihre Schwere kann uns als Therapeuten mächtig hinunterziehen, wenn wir nicht wissen, wie mit der Ohnmacht der uns Anvertrauten (und evtl. ihres ganzen Umfelds) umzugehen. Erlernte Hilflosigkeit ist sicher ein komplexes Problem, doch das darf uns nicht davon abhalten, einfache Wahrheiten zu erkennen und auszusprechen: Lorazepam kann einen größeren Anteil an diesem Problem haben.
** Hinweis: Das Absetzen von Arzneien kann u.a. zu schwerwiegenden Entzugserscheinungen mit unvorhersehbaren Folgen führen. Ich weise daher ausdrücklich darauf hin, dass weder in diesem noch in anderen Beiträgen des Blogs wastutdirgut.de dazu geraten wird, eigenmächtig Medikamente abzusetzen. Im Gegenteil rate ich auch und gerade bei Psychopharmaka zu Rücksprache mit einem Arzt und zu engmaschiger ärztlicher Begleitung.