(Dies ist die versprochene Fortsetzung des Blogs zum Stichwort Heilung.)
Was verraten Diagnosen wie „mittelgradige depressive Episode“ oder „wiederkehrende depressive Störung“ über den individuellen Patienten, seinen spezifischen Therapiebedarf und seine individuelle Chance zu gesunden? Sehr wenig. In erster Linie dienen sie dazu, dem Patienten seine Berechtigung auf eine klinische Therapie „abzustempeln“. Ich habe schon ein paar Tausend Menschen mit einer solchen Diagnose kennengelernt, aber kann mich an keinen erinnern, auf den der Begriff „Episode“ wirklich zugetroffen hätte. Es handelt sich dabei um ein – irgendwie nötiges – Etikett des Gesundheitssystems, den Fahrschein sozusagen, aber nicht um eine therapeutisch sinnvolle Vorstellung.
Am Ende des Aufenthalts heißt es dann typischerweise, es bestünde eine verbleibende Restsymptomatik, die ambulant weiterbehandelt werden sollte. Das stimmt durchaus, aber über Heilungschancen verrät es auch so gut wie nichts. Als Erinnerung an den Blog „Heilung“: Die Frage nach der künftigen Gesundheit ist in vielen Fällen nicht zu klären oder sogar irreführend, entscheidend ist, ob die Betreffenden hinterher ein besseres Leben führen (können) – und die Antwort darauf hängt von Faktoren ab, die schwer einzuschätzen sind.
Viele Patientinnen und Patienten machen im Rahmen eines Klinikaufenthalts die Erfahrung, dass sie – wohlgemerkt hier – „ganz anders“ sind als „draußen“, dass hier Anteile von ihnen groß werden können, die sie kaum (noch) kannten, so dass ihnen ein grundlegend besseres Leben möglich erscheint. Allerdings, mit dem so geweckten Appetit kann bei manchen Betroffenen das Problem erst richtig groß werden, da ein Teil von ihnen das Potenzial zur Veränderung überschätzt und hinterher bitter enttäuscht wird – nicht unbedingt das eigene Potenzial, sondern das Veränderungspotenzial der Systeme, denen die Heimkehrer angehören.
Ein anderes Leben wäre prinzipiell zwar möglich, aber bei den meisten ist das Umfeld bei Rückkehr vorläufig das gleiche wie zuvor – und wartet im Großen und Ganzen selten darauf, dass man wirklich gesünder lebt (sondern wieder „funktioniert“). Wenn wir alle Patienten in das optimale Umfeld für ihre persönliche Entwicklung entlassen könnten, würden sich vermutlich die meisten deutlich verändern, gerade auch in Bezug auf ihre psychischen Störungen: Depressive Neigungen und Ängste etwa würden weit weniger eine Rolle im Leben spielen. Aber sie wären nicht komplett verschwunden und könnten sich je nach akuter Belastung wieder melden. Die Tendenzen bleiben, die Frage ist, wie stark sie sich unter dem Druck des Alltags wieder ausprägen werden.
Manchen Klienten gelingt es, sich in ihrem Umfeld neu zu behaupten, sogar ihr Umfeld dadurch zu verändern. Oder eben es zu verlassen. Dann können sich die Unterschiede zwischen altem und neuem Menschen – „vor und nach der Therapie“ – zumindest zeitweise wie Tag und Nacht anfühlen. Der schlimmste gegenteilige Fall ist der, dass alles hinterher so schlimm ist wie zuvor – sich jedoch noch schlimmer anfühlt, weil der Patient „zwischendurch“ dachte, es würde jetzt alles besser werden. Daher gibt es auch Psychiater, die meinen, Psychotherapie wäre in etlichen Fällen „kontraindiziert“ (d.h. genau das Falsche, vereinfacht gesagt: da sie falsche Hoffnungen mache und den Patienten unnötig aktiviere), es wäre sinnvoller, den Patienten medikamentös zu helfen, dann würden die Ängste und Depressionen wenigstens etwas erträglicher werden.
Die Wendung „vor und nach der Therapie“ ebenso wie das Wort „zwischendurch“ stehen für eine typische Illusion im Zusammenhang mit Therapie, eine Illusion übrigens, die die Prognose erheblich verschlechtert: die Annahme, man könnte mal eben ruckzuck Therapie machen (es fühlt sich ja oft so intensiv an) und hinterher käme man wieder ohne sie aus. Die meisten Patientinnen und Patienten benötigen eine längerfristige kontinuierliche Unterstützung, damit im Alltag sich ein neues Leben entwickelt. Lebensaufgaben können manchmal langwierig sein: ein Jobwechsel, die Trennung vom Partner oder die Loslösung aus der Herkunftsfamilie. Da ist es schwer und meist nicht einmal hilfreich, Prognosen zu stellen, zumal es auch so etwas wie Schicksal gibt.
Prognosen beruhen auf Statistik, entweder auf einer amtlichen oder auf unserer persönlichen (die vielleicht verzerrt ist). Statistiken zu Patienten mit Depressionen traue ich aus verschiedenen Gründen gar nicht, u.a. weil sie mit meiner Erfahrung null übereinstimmen. Nehmen wir daher als Beispiel eine Statistik, mit der ich halbwegs etwas anfangen kann: Von 100 erwachsenen Patientinnen mit Anorexie (Magersucht) haben rund 40 eine gute (bis sehr gute) langfristige Prognose („Heilung“), 25-30 eine mäßige (anhaltendes Untergewicht sowie Rückfälle in alte Zwänge) und 30-35 eine schlechte (schwere psychische und körperliche Symptome). Doch woher soll ich wissen, zu welcher dieser Gruppen die vor mir sitzende Patientin gehört? Zwar kann ich vermuten, je mehr weitere Diagnosen vorliegen (z.B. Trauma, Borderline), desto unwahrscheinlicher ist eine Heilung in absehbarer Zeit, aber das bleibt auch sehr vage.
Es gibt keine Faustformel für eine gute Prognose, lediglich ein paar bewährte Prädiktoren (Hinweise): Hat er oder sie gelernt, offen über eigene seelische Nöte zu kommunizieren (ohne dies manipulativ einzusetzen)? Hat er/sie die Klinikzeit für Konflikttraining genutzt und dabei gelernt, für seine Gefühle und Bedürfnisse offen und achtsam einzutreten? „Offen“ bedeutet dabei: über das reden, was „ich brauche“ (Bedürfnisse) statt über das, was „man erwarten kann“ (Normen). Hat der oder die Betreffende zeitnah anschließende ambulante Therapie und evtl. weitere Unterstützung bei den Lebensaufgaben? Wie stark ist er/sie mit Gleichgesinnten bzw. Betroffenen vernetzt (z.B. durch eine Selbsthilfegruppe)?
Doch auch wenn dies alles klar scheint, stellen Überraschungen keine Ausnahme dar: Patienten, denen ich viel zugetraut hatte, sind im Alltag schnell „eingebrochen“, Patientinnen, deren Zukunft ich eher skeptisch sah, haben diese Befürchtung (z.T. grandios oder fulminant) widerlegt. Grundsätzlich ist es beruhigend, so paradox es klingen mag, wenn Klinik-Patientinnen Angst vor dem Alltag haben und vor den Kräften, die ihrem besseren Leben entgegenwirken – denn damit kann man „arbeiten“ und Vorsorge treffen.
Vielleicht ist das eine treffende Formel: Vorsorge ist besser als Vorhersage, ähnlich wie beim Wetter. Jedenfalls sollten wir mit Prognosen vorsichtig sein und vom vermuteten oder erhofften Verlauf nicht zu viel abhängig machen. Gerade wenn Patientinnen so etwas sagen wie: „Ich muss erst meine Essstörung heilen, dann …“ müssen wir sie daraufhin orientieren, was alles im Leben anders und besser werden kann, auch wenn die Störung auf unbestimmte Zeit fortbestehen sollte.
Etwas Ähnliches ließe sich zu vielen anderen psychischen Erkrankungen sagen, etwa zu Depressionen. Auch wenn der folgende Satz eher ein rhetorischer Trick ist (weil die Wirklichkeit komplexer ist), lasse ich ihn zu: Es wäre doch absurd, wenn Patienten erst wieder lebensfroh werden müssten (frei von Depressionen), bevor sie ein besseres Leben anfangen könnten, welches sie wirklich und nachhaltig lebensfroh macht.
Die berechtigte Zuversicht, die Therapeut(inn)en den Patient(inn)en in der Therapie vermitteln und die diese selbst Schritt für Schritt aufbauen, beruht nicht auf Prognosen, sondern auf einer schon in der Therapie wachsenden Selbstfürsorge, einem verbesserten Gefühl für Selbstwirksamkeit und der Entwicklung echter Selbstliebe. Das sind harte Nüsse für die Therapie, die zu knacken Sinn macht, unabhängig von aller Prognostik.