Damit eine Art von enger Beziehung (Freundschaft, Partnerschaft) entstehen kann, müssen wir uns anderen zumuten: zeigen, was wirklich mit uns los ist. Ob wir dann eine „Zumutung“ im negativen Sinn darstellen oder eher ein Segen oder irgendwas dazwischen, das können wir nur herausfinden, indem wir den Schritt gehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es dem Gegenüber zu viel ist, hängt davon ab, was wir von ihm (oder ihr) erwarten und wünschen – und was er (sie) bereit ist, freiwillig zu geben.
Viele geben eine ganze Menge, aber unfreiwillig, also aus Angst vor dem Konflikt oder davor, uns zu „verletzen“, also zurückzuweisen, was ihr gutes Recht und oft das Beste wäre. Denn das unfreiwillige Geben trägt massiv dazu bei, dass wir ihnen langfristig tatsächlich zu viel werden! Es wäre also alles höchstens halb so schlimm, wenn wir beide in dem Bewusstsein handeln würden, dass Wünsche eben Wünsche sind und nicht erfüllt werden müssen.
Bei alltäglichen Wünschen leuchtet uns das ein (was nicht heißt, dass wir damit immer souverän umgehen könnten): „Ich würde gerne mit Dir Eis essen gehen.“ Vielleicht mag der andere kein Eis, hat heute schon viel Süßes gegessen, hat eine andere Verabredung oder braucht seine Ruhe. Aber was ist mit größeren Wünschen? „Ich möchte mit Dir möglichst viel Zeit verbringen!“ Das ist eher ein offener Beziehungsantrag als ein einfacher Wunsch.
Eine Ablehnung eines Beziehungswunsches ist keine „Verletzung“ (… drei Ausrufezeichen …), auch wenn sie bei mir als Betroffenem eventuell heftige Schmerzen auslöst. Das nicht zu bekommen, was wir uns wünschen, löst Unzufriedenheit bis Trauer aus. Begleitet wird dies im Falle von Beziehungswünschen in der Regel von Scham: Wenn ich anderen etwas offenbare, was bisher geheim oder intim war, meldet sich Scham. Die Heftigkeit des Schmerzes könnte allerdings darauf hindeuten, dass es bei mir um ein tiefverwurzeltes Thema geht: um die existenzielle Scham, das Gefühl nicht gut genug, nicht richtig, nicht liebenswert oder eben zu viel zu sein. Die Ablehnung des Beziehungswunsches ist dann gewissermaßen der „Trigger“ für das alte Leiden.
Den Ursprung hat diese Scham in der frühkindlichen Erfahrung, von der Mutter zurückgewiesen zu werden und es nicht zu verstehen, sondern auf sich zu beziehen: Wenn die Mutter überfordert ist, sei es von der Mutterrolle an sich (oder kombiniert mit anderen Rollen), von mehreren Kindern gleichzeitig, vom Thema Bindung und Autonomie, wenn sie das Kind in seinem Bedürfnis nach Anlehnung und Zärtlichkeit zurückweist (vielleicht auch weil sie es selbst nicht erfahren hat), ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das Kind aus seiner natürlich Einheit mit der Mutter und der Welt herausfällt und eine Grundeinsamkeit erfährt und sich die Schuld gibt: Mit mir stimmt etwas nicht, ich bin nicht richtig.
Die wenigsten Menschen verabsolutieren dieses Erlebnis, glücklicherweise, die existenzielle Einsamkeit und Scham sind nicht als dominierende Grundgefühle ständig präsent – andernfalls könnten wir gar keine Beziehungen aufbauen. Doch die meisten von uns finden zumindest zeitweilig mehr oder weniger erfüllende Freund- oder Partnerschaften. Deshalb hilft es, wenn das alte Erleben durch eine aktuelle Ablehnung „getriggert“ wird, sich bewusst zu machen, wie oft wir schon erfolgreich Beziehungen aufgebaut haben, wie viele Beziehungswünsche im Großen und Kleinen erfüllt wurden, so dass statt des negativen, irreführenden Glaubenssatzes: „Ich bin nicht gut genug“ eine weniger absolute Version durchaus möglich ist: „Heute erlebe ich Ablehnung, das tut weh, aber unter diesen und jenen Bedingungen war es auch schon anders.“
Wer dazu gar nicht fähig ist, wird es auch in intensiver Therapie möglicherweise schwer haben. Die Erfahrung von Zumutung und Zuvielsein gibt es natürlich gerade auch in der Therapie, da der Therapeut prädestiniert ist, dass auf ihn die alten Rollen(erwartungen) übertragen werden. Da gibt es die Patienten, die sich schlicht und einfach nicht in die Sprechstunde trauen und erst dazu aufgefordert werden müssen, davon Gebrauch zu machen. Und andere, die uns ihr inneres Kind vor die Füße legen, in der Therapie ganz ohnmächtig wirken und entsprechend kindlich weinen – und wir sind in Versuchung, das Kind aufzuheben. (Das wäre schon okay fürs Erste, aber wir müssen es dem Erwachsenen in die Arme legen.) Einprägsam sind auch jene Patientinnen, die sich schon beim Eintreten entschuldigen, dass sie kommen, und beim zweiten Mal entschuldigen, dass sie wieder da sind – oft ergänzt um Sätze wie: „Bestimmt gehe ich Ihnen auf die Nerven!“ Naja, das kann tatsächlich passieren, es hat etwas von selbsterfüllender Prophezeiung: dass es irgendwann zu diesem Punkt kommen muss, wenn die Patientin so weiter macht.
Als Therapeut wird man frühzeitig gegensteuern: „Woher kennen Sie das aus ihrem Leben, dass Sie jemand auf die Nerven gehen oder Angst davor haben, zuviel zu sein?“ Solche Rückfrage macht der Patientin die mehr oder weniger natürliche Neigung bewusst, alte Muster aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus bringt es auch ins Bewusstsein, dass Therapie phasenweise diese „Verwechslung“ benötigt, die wir „Übertragung“ nennen: Die Patientin geht in eine kindliche Rolle und Papi oder Mami (Therapeut) sollen helfen. Dagegen ist nichts einzuwenden, aber der Therapeut muss der Patientin letztlich eben auch aus dieser Rolle heraushelfen bzw. sie dabei unterstützen, selbst für diesen kindlichen Anteil zu sorgen.
Irgendwann ist dann die Frage „Herr Wagner, was soll ich tun?“ nicht mehr dem therapeutischen Fortschritt angemessen – und bevor es mich als Therapeut nervt, helfe ich der Patientin auf die Sprünge: „Jetzt kennen Sie mich doch schon ein Weilchen. Was denken Sie denn, was ich Ihnen raten würde?“ Für manche Patientin ist es ein Aha-Erlebnis: „Ja, stimmt, ich weiß es selbst.“ Aber für andere steht das eigentliche Aha-Erlebnis noch aus: Es geht oft gar nicht um die scheinbare Sachfrage, sondern um die Beziehung zwischen Patientin und Therapeut. Die Patientin wüsste vielleicht selbst, was sie in der Sachfrage tun soll, aber es geht um ihr Bedürfnis, an der Beziehung zu mir festzuhalten, sie vielleicht sogar zu vertiefen, dauerhaft Führung, Schutz, Anerkennung zu erfahren oder Zuwendung zu erhalten. Dann ist es wichtig, das zu thematisieren: „Ist es Ihnen wichtig, Zuspruch von mir zu erhalten? Oder geht es eher um Nähe und dass ich einfach da bin?“ Sonst reinszeniert sich tatsächlich an den scheinbaren Sachfragen das Drama von Genervtsein (Therapeut) und Zuvielsein (Patientin).
Tatsächlich ist es ja als Therapeut mein Ziel, Patienten am vorläufigen Ende eines Prozesses wieder „loszuwerden“. In der Klinik geschieht dies in relativer kurzer Zeit. Dabei ist wichtig, dass er oder sie mir nicht „zuviel“ ist, sondern dass ich helfen muss, dass er (sie) sich erwachsen selbst versorgt. Man könnte sagen: Als Patienten in der Kind-Rolle muss ich sie loswerden, selbst wenn ich sie aus der Übertragungssituation heraus gerne „adoptieren“ würde, aber nur als Erwachsener können sie therapeutisch gewinnen. Er oder sie kann mit mir in Kontakt bleiben, nur ist meine Therapeutenrolle dann mit einem klaren „Ex“ verbunden; und ich werde, wann immer mir dies nach der Klinikzeit unsicher scheint, fragen: „Was macht eigentlich ihre ambulante Therapie?“ In der ambulanten Therapie ist der Prozess der Ablösung manchmal komplexer und hängt stark vom praktizierten Verfahren ab. Berüchtigt sind die Anekdoten aus der Psychoanalyse, wo das beziehungsmäßige Erwachsenwerden des Patienten oft nicht stattgefunden hat. Die Therapie bleibt dann eine Parallelwelt für das innere Kind.
Die Angst, anderen zuviel zu sein, ist eine unvermeidliche Begleiterscheinung unseres Lebensverlaufs mit wechselnden Beziehungen und Freundschaften. Das „brutale“ Annäherungsverhalten, mit welchem manche Menschen die Angst übergehen und überspielen, ist dabei ebensowenig hilfreich wie das deutlich prominentere Vermeidungsverhalten: Hier führt die Angst vor Ablehnung dazu, dass die Betroffenen passiv darauf warten, dass Beziehungen und Freundschaften zustande kommen. (Oft verhalten sie sich dann noch überangepasst und machen vieles mit, was nicht ihren Bedürfnissen entspricht, so dass sie das Gefühl von Genervtsein bei sich selbst unterdrücken müssen und umso mehr Angst entwickeln, es bei andern auszulösen. Das ist ähnlich wie bei Menschen, die ihre eigene Eifersucht nicht wahrnehmen, dafür überall eifersüchtigen Menschen „begegnen“.) Es kann nicht anders sein, als dass sie in Sachen Bindung (und auch Autonomie) zu kurz kommen, einen chronifizierten Liebeshunger mit sich tragen, der tatsächlich andere abschrecken kann und wird, verbunden mit weitergehendem Selbstwertverlust. Noch mehr selbsterfüllende Prophezeiung.
Häufig findet dann im normalen Alltagsleben auch eine Verwechslung oder Übertragung statt: den übrigbleibenden Freunden, Angehörigen und Beziehungspartnern werden Rollen nach einem alten Muster übertragen. Die Partnerin wird mit der Mutter verwechselt, der Sohn mit dem Partner, die Tochter mit einer (nicht vorhandenen) besten Freundin, der Freund mit dem Bruder usw. Was es braucht? Am besten Gruppentherapie! 😉
Die Betroffenen müssen praktisch (!) lernen, sich anderen zuzumuten, ergänzende und korrigierende Beziehungserfahrungen machen – und zwar wirklich mit „anderen“, und nicht mit den immergleichen überforderten Angehörigen, denen in der Tat oft zuviel zugemutet wird. Wenn ich meine Angst, jemand anders zuviel zu sein, in Bezug auf eine konkrete Person für „unerträglich“ halte, könnte ich mal dahinschauen, um welche Verwechslung es geht. Wie immer bei Ängsten, die sich auf Beziehungen und Beziehungskonflikte beziehen, macht Vermeidung nichts besser, sondern vieles schlimmer, und daher gilt auch hier wieder einmal die Devise: „Wo die Angst ist, da geht’s lang!“
Gewiss, es tut weh, wenn ich dem andern nicht so wichtig bin, wie er (sie) mir wichtig ist. Aber ich bin nicht mehr der kleine Junge, der seiner Mutter zuviel war. Vielmehr sorge ich jetzt selbst für diesen kindlichen bedürftigen Anteil. Und erwachsen werden heißt zu begreifen (also auch umzusetzen), dass es immer alternative Möglichkeiten gibt, für die eigenen Bedürfnisse zu sorgen. Zumutung hat mit Mut zu tun: herauszufinden, welche Art von Beziehung der andere mit mir hat oder haben möchte. Es hilft nichts, sich im stillen Kämmerlein etwas vorzumachen, dabei in Hoffnung zu schwelgen und in Ängsten zu brüten.
Während das Baby auf die Befriedigung durch seine Mutter mehr oder weniger angewiesen ist, sind wir Erwachsenen nicht (mehr) auf unsere „Bezugspersonen“ angewiesen, sondern vor allem auf uns selbst. „Hilf Dir selbst!“ bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass ich alles mit mir allein ausmachen muss, ganz und gar nicht, sondern dass ich Hilfe annehmen und anfordern darf, aber es bedeutet schon: dass ich mich nicht fixiere auf ganz bestimmte andere. Und dass ich mich selbst wertschätze für meinen Mut mich zuzumuten. Sich andern bedingungslos zuzumuten, ins Risiko zu gehen und sich dabei treu zu bleiben, das ist ein Akt des Selbstvertrauens und der Selbstanerkennung oder, wenn wir es mal wieder gerne etwas pathetisch haben wollen: ein Akt der Selbstliebe.